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Vom Brandherd zur Brückenregion
Der Volksabstimmung in Oberschlesien vor 100 Jahren folgte ein Blutbad. In Zeiten gegenwärtiger nationalistischer Tendenzen fällt der Region erneut eine zentrale Rolle zu.
Es war eine weltpolitische Premiere, ein internationaler Großversuch am lebenden Objekt – und das mitten im Herzen von Europa: Vor 100 Jahren durften rund 1,2 Millionen Menschen in einer freien und geheimen Abstimmung entscheiden, in welchem Land sie künftig leben wollten: in Deutschland oder in Polen.
Volksabstimmungen und die Präsenz multinationaler Truppenkontingente in Konfliktregionen gehören seit dem Versailler Vertrag zum Repertoire internationaler Politik, gemäß dem von US-Präsident Woodrow Wilson postulierten Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Volksabstimmung in Oberschlesien vom März 1921 hat damit Geschichte geschrieben. Doch was in den übrigen Grenzabstimmungen von Schleswig, Allenstein und Marienwerder weitgehend reibungslos und friedlich verlief, geriet im hart umkämpften oberschlesischen Industriegebiet – dem wirtschaftlich wichtigen „zweiten Ruhrgebiet“ des Deutschen Reiches – zum blutigen Debakel: Trotz einer massiven alliierten Militärpräsenz kam es nach der Abstimmung zeitweise zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, die nur mit größter Mühe wieder unter Kontrolle gebracht werden konnten, und die bei allen beteiligten Mächten eine vehemente öffentliche Debatte auslösten. Die Rahmenbedingungen erinnern dabei stark an internationale Blauhelm-Missionen in globalen Krisenregionen unserer Tage. Aber der Reihe nach.
Schlesien hatte zu Beginn der 1920er Jahre bereits eine höchst wechselvolle Geschichte hinter sich. Seit dem Mittelalter hatte hier die Herrschaft wiederholt gewechselt, vom polnischen Piastenreich über Böhmen, Ungarn und Habsburg bis hin zu Preußen, welches die Region mit den Schlesischen Kriegen Friedrichs des Großen in seine Hand bekam und im 19. Jahrhundert erfolgreich eine Montanindustrie im kohle- und erzreichen Oberschlesien aufbaute.
In den Versailler Friedensverhandlungen Anfang 1919 wurde Oberschlesien von den Alliierten jedoch zunächst dem neu konstituierten polnischen Staat zugeschlagen. Die Reichsregierung protestierte umgehend – und wies unter anderem darauf hin, dass Deutschland nach einem Verlust des wichtigen Industriegebiets kaum noch in der Lage sei, die im Vertrag geforderten gewaltigen Reparationsleistungen zu erbringen.
Vor allem dieses wirtschaftliche Argument alarmierte die britische Regierung unter David Lloyd George. Im Rat der Vier – dem obersten Entscheidungsgremium der alliierten Siegermächte – konnte der Premierminister schließlich im Juni 1919 gegen erbitterten Widerstand des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau und anfänglich auch des US-Präsidenten Wilson eine Volksabstimmung für Oberschlesien durchsetzen. Die britische Politik verfolgte dabei gleich mehrere Ziele: Man wollte mit diesem Ad-hoc-Zugeständnis den Deutschen die Vertragsunterschrift erleichtern und im Falle eines deutschen Abstimmungssiegs die Wirtschaftskraft des Reiches für die anstehenden Reparationszahlungen stärken. Zugleich sollte die Balance of Power auf dem Kontinent gewahrt und nicht allzu sehr in Richtung Polens und seines Bündnispartners Frankreich verschoben werden.
Französisches Übergewicht
In Paris sah man die Sache grundlegend anders: Ein stabiles und dank Oberschlesien wirtschaftlich potentes Polen war Kernstück eines Cordon sanitaire mittelosteuropäischer Staaten, die nach Frankreichs Vorstellung sowohl Sowjetrussland als auch Deutschland in Schach halten sollen. Zugleich sollte die „Waffenschmiede“ Oberschlesien dem Reich für immer entzogen werden – mit dem für Paris angenehmen Nebeneffekt, dass man künftig umso wirkungsvoller mit einer französischen Ruhrbesetzung drohen konnte: ein wirtschaftspolitisch höchst effektives Druckmittel.
Diese höchst konträren politischen Interessen der beiden Großmächte sollten in den folgenden drei Jahren dann auch die Grundmelodie in Oberschlesien vorgeben. Die Briten gaben dabei von vornherein fast alle Trümpfe aus der Hand – teils aus Ressourcenmangel, teils aufgrund anderer Prioritäten. Für London waren politische Krisenthemen wie beispielsweise die Irlandfrage weitaus dringlicher. Italien hatte an Oberschlesien kaum Interesse, ebenso wenig die USA, die sich nach dem Friedensschluss vom europäischen Schauplatz verabschiedeten – eine frühe Version des „America First“. Paris nutzte das entstehende Vakuum hingegen geschickt für seine Zwecke aus.
Die französische Dominanz zeigte sich im Abstimmungsgebiet folglich an allen Ecken und Enden: In der Interalliierten Regierungs- und Plebiszitkommission – die in der Abstimmungszeit die Regierungsgewalt übernahm – hatten sich die Franzosen nebst dem wichtigen Generalsekretariat vier zentrale Ressorts gesichert, für die Briten blieben nur zwei minder wichtige (Verkehr und Ernährung) und für die Italiener eines (Justiz). Von 21 oberschlesischen Kreisen wurden elf durch französische Kreiskontrolleure verwaltet, nur jeweils fünf von einem britischen beziehungsweise italienischen. Militärisch hatten die Briten zur Verblüffung ihrer Bündnispartner sogar einen peinlichen Komplett-Rückzieher gemacht, so dass die Franzosen schließlich 12.000 der anfangs 15.000 Mann starken alliierten Truppen im Land stellten, die übrigen 3000 kamen aus Italien. Erst während der Abstimmung zeigte Großbritannien kurzzeitig mit einigen Einheiten zumindest symbolisch Flagge.
Ähnlich waren die Machtverhältnisse in der Kommission, die ihren Sitz in Oppeln nahm: Ihr Präsident, der französische General Henri Le Rond, diktierte von Anfang an das Geschehen. Propolnisch, polyglott und politisch-diplomatisch mit allen Wassern gewaschen, konnten seine Kommissionskollegen diesem „Napolerond“ nicht das Wasser reichen – weder der oft sprunghafte italienische General Alberto de Marinis noch der wackere, aber zunehmend frustrierte britische Truppenoffizier Harold Percival, der allzu häufig keine politische Rückendeckung aus London erhielt und als Oberst zudem einen niedrigeren militärischen Rang bekleidete.
Schwierigkeiten und Streitpunkte gab es von Anfang an: Wie sollte der Frieden in dieser unruhigen Region gesichert werden? Wie konnten freie und gleiche Bedingungen für die Abstimmung hergestellt werden – ein Fair Play in einer instabilen Region, in der die propolnische wie prodeutsche Propaganda täglich an Schärfe zunahm?
Zum Hauptstreitpunkt entwickelte sich schon bald die Frage, wer überhaupt wahlberechtigt war: Sollten beispielsweise auch gebürtige Oberschlesier, die inzwischen im Ruhrgebiet und anderswo Arbeit gefunden hatten (so genannte Outvoter), an der Abstimmung teilnehmen dürfen? Auch hier liefen die diplomatischen Drähte heiß, bis schließlich nach langem Ringen ein Kompromiss gefunden war: 190.000 Outvoter konnten schließlich ihre Stimme in Oberschlesien abgeben. Sie wurden in rund 280 Sonderzügen herangeschafft, eine beachtliche logistische Leistung.
Am 20. März 1921, einem sonnigen und vorfrühlingshaften Sonntag, konnten dann rund 1,2 Millionen Menschen ihre Stimme abgeben. Die Auszählung ergab, dass knapp 60 Prozent für Deutschland, gut 40 Prozent für Polen votiert hatten. Doch die Stimmen waren regional höchst unterschiedlich verteilt. Insbesondere das oberschlesische Industriegebiet glich einem Flickenteppich: Einer deutschen Stimmenmehrheit in den großen Städten standen polnische Mehrheiten in den vielen umliegenden kleinen Landgemeinden entgegen. Folglich sahen sich beide Seiten als Sieger: Während Deutschland aufgrund der 60-Prozent-Mehrheit das Gebiet in Gänze forderte, reklamierte der polnische Plebiszitkommissar Wojciech Korfanty aufgrund der Gemeinde-Ergebnisse weite Teile Oberschlesiens inklusive des Industriegebiets für Polen. Großbritannien neigte eher der deutschen Position zu, Frankreich der polnischen. Eine gütliche Lösung schien damit ferner denn je, zumal der Versailler Vertragstext hier keine eindeutige Regelung vorgegeben hatte und in der Folge höchst unterschiedliche Teilungspläne diskutiert wurden.
Dann begann das Blutvergießen
In dieser verfahrenen Lage versuchte Korfanty, im so genannten Dritten Polnischen (in der polnischen Literatur: Schlesischen) Aufstand einmal mehr mit Waffengewalt Fakten zu schaffen: Anfang Mai 1921 besetzten propolnische Freischärler, unterstützt durch reguläres polnisches Militär, innerhalb weniger Tage weite Teile Oberschlesiens bis hin zur „Korfanty-Linie“, der von Polen gewünschten Grenze. Die französischen Truppen leisteten ihnen keinen, die wenigen italienischen hingegen verbissenen, wenn auch vergeblichen, Widerstand. Oberschlesien versank „in einem Meer aus Blut, Gewalt und Chaos“, wie Guido Hitze es treffend formuliert. Ein Eingreifen der Reichswehr kam nicht infrage, da Frankreich in diesem Fall sofort in Deutschland einmarschiert und das Ruhrgebiet besetzt hätte.
So oblag es eilig aufgestellten deutschen Freikorps, Korfantys Männern Paroli zu bieten. Insbesondere die Briten – die ja selbst keine eigenen Truppen im Land hatten – drückten hier kräftig beide Augen zu, da sie nur so das Fair Play und Kräftegleichgewicht gewahrt glaubten. In zähen und blutigen Gefechten gelang es den deutschen Kämpfern unter General Karl Hoefer Mitte Mai 1921, den ebenso strategisch wie symbolisch wichtigen Annaberg südlich von Oppeln zurückzuerobern. Korfantys Handstreich war damit gescheitert.
Nun schlug erneut die Stunde der Politiker, und einmal mehr wurde Oberschlesien zum Spielball europäischer Großmachtinteressen. Da sich die Siegermächte des Ersten Weltkriegs wiederum auf keine gemeinsame Linie verständigen konnten, wurde als letztes Mittel schließlich der Völkerbund eingeschaltet. Dessen Kommission erarbeitete schließlich am grünen Tisch eine Kompromisslösung, die das Industriegebiet zerschnitt und den wirtschaftlich wichtigeren Teil rund um Kattowitz (Katowice) Polen zusprach. Damit waren letztlich beide Seiten unzufrieden, und in Deutschland wuchs der Wunsch, die Grenzziehung von 1922 zu revidieren. 17 Jahre später begann Hitlerdeutschland mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg. Als Vorwand diente dabei ein fingierter „polnischer“ Überfall auf den nahe der Grenze gelegenen Radiosender Gleiwitz – eine frühe und sehr durchsichtige Form von Fake News.
Heute, 100 Jahre nach der Volksabstimmung, hat Schlesien (dieses laut Goethe „zehnfach interessante Land“) durch seine zentrale Lage in Europa und seine vielfältige Geschichte und Kultur einmal mehr die Chance, seine Rolle als Brückenregion zwischen Polen und Deutschland zu spielen, allen aktuellen nationalistischen Tendenzen zum Trotz. Es bleibt die Hoffnung, dass sich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen und die Idee eines geeinten und friedlichen Europas weiter Gestalt annimmt – eine wahrhaft rotarische Perspektive. Die handelnden Personen vor 100 Jahren hätte diese Aussicht gewiss verblüfft – und erfreut.
Kleinod im Pott: das Museum Jerke
Es gibt Orte, über die man nichts mehr schreiben muss, und Orte, über die man nicht genug schreiben kann. Zur ersten Kategorie gehören Kunsttempel wie das Museum of Modern Art in New York, das Centre Pompidou in Paris und das Reina-Sofia-Museum in Madrid. Sie haben noch etwas gemeinsam: Sie alle dürfen sich damit rühmen, Gastausstellungen des Museums Jerke in Recklinghausen in ihren heiligen Hallen gehabt zu haben, das zweifellos zur zweiten Kategorie gehört. Denn dieses Kleinod im Pott ist einzigartig: Nach Angaben des Polnischen Instituts Düsseldorf ist es das einzige Museum außerhalb Polens, in dem ausschließlich polnische Gegenwartskunst gezeigt wird.
Zu verdanken haben die Recklinghauser diesen Ort Werner Jerke (RC Recklinghausen-Vest), der 1981 aus dem oberschlesischen Pyskowice nach Deutschland übersiedelte und schon während seines Medizinstudiums in Bonn mit dem Sammeln polnischer Kunst begann. Auf zweimal 195 Quadratmetern zeigt er über 600 Exponate der polnischen Moderne und Avantgarde, darunter Werke von Wladyslaw Strzeminski, Katarzyna Kobro, Wojciech Fangor, Wilhelm Sasnal und Ryszard Grzyb. Der markanteste Teil des markanten Gebäudes mit dem spitzen Dach ist das bunte Fenster, durch das ein Regenbogenlicht einfällt.
Entworfen hat es der große Wojciech Fangor. Es war das letzte Werk vor seinem Tod, für das er nicht einmal ein Honorar verlangte – zu sehr lag ihm Jerkes Projekt am Herzen. Sobald es die Situation zulässt, wird das Museum wieder öffnen. Neben der Dauerausstellung organisiert Jerke ein- bis zweimal im Jahr Wechselausstellungen mit polnischen Künstlern der Gegenwart. Am 29. April wird das Museum fünf Jahre alt.
Dr. Karsten Eichner, RC Frankfurt Airport, ist Historiker und Journalist und hat über die Volksabstimmung in Oberschlesien promoviert. Er arbeitet als Unternehmenskommunikator bei der genossenschaftlichen R+V. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt „Traumschiff Ahoi“ (Koehler Verlag, 2017) über die Kulturgeschichte der Kreuzfahrt.