Titelthema
Vom Umgang mit Tod und Toten
Annähernd zehn Prozent der Menschen befinden sich in Trauer. Höchste Zeit, sich mit dem Sterben zu beschäftigen.
Wer den Tod nicht kennt, kann das Leben nicht verstehen. Wie der Anfang ist auch das Ende ein essenzieller Teil davon. Doch die Erkenntnisse, die sich durch die dialektischen Beziehungen von Geburt und Tod sowie Leben und Sterben vermitteln, sind uns stets nur annähernd zugänglich. Der Tod bleibt für jeden Menschen das letzte Rätsel. Er ist unvorstellbar.
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Die Religionen bieten Erklärungen an und haben die Phase des Übergangs vom Leben in den Tod rituell gestaltet, sodass Gläubige darin Halt finden können. Die Künste setzen der Unvorstellbarkeit des Todes konkrete Bilder entgegen. In der Medizin, der Anthropologie, der Ethnologie oder den Kulturwissenschaften lässt sich der Tod objektiv beschreiben und erklären, doch wie die Geburt entzieht er sich dem Betroffenen in seiner Kommunikationsfähigkeit. An meine Geburt kann ich mich nicht erinnern, und von meinem Tod werde ich nicht mehr erzählen können.
Die Kulturgeschichten des Sterbens und Bestattens sowie des Trauerns und Gedenkens bieten die Möglichkeit, sich dosiert mit der eigenen Vergänglichkeit auseinanderzusetzen. Die Geschichte der Sepulkralkultur ist voller Todesmetaphern. So entwickelte sich hauptsächlich unter dem Eindruck der katastrophalen Pestepidemien im 14. Jahrhundert die Vorstellung des sogenannten Totentanzes. Der als Knochenmann dargestellte personifizierte Tod kann jeden Menschen, ohne soziale Unterschiede, zu jeder Zeit abholen und ihn dabei mitten aus dem Leben reißen. Jede und jeder kann zum Tanz aufgefordert werden, und niemand kann dieses Angebot ablehnen. Wer diesen Paartanz führt, ist offensichtlich. Der moralische Zweck dieser christlich-religiösen Vorstellungen liegt auf der Hand: Man soll bereit sein und stets gottgefällig leben. Doch was erinnert uns heute an einen plötzlichen Tod, wenn wir morgens das Haus verlassen?
Stirbt ein Mensch, verändert sich für die Hinterbliebenen alles. Die Person ist nicht mehr da, und doch ist ihr toter Körper noch gegenwärtig. Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho hat den Begriff des „Leichenparadoxes“ geprägt, also den Widerspruch „von Anwesenheit und Abwesenheit, Identität und Identitätslosigkeit“. Hinterbliebene schauen auf einen Leichnam, berühren und betrauern ihn. Der Tod markiert einen unumkehrbaren Abschied. Ohne zu verstehen, was der Tod ist, erkennen wir deutlich, dass der Mensch vor uns nicht mehr lebt. Der Vater, der Freund, die Partnerin oder das Kind sind zu Toten geworden. Diese unheimliche Erfahrung prägt menschliche Zivilisationen seit ihren Anfängen, und die Wahrnehmung des Todes hat sich seitdem wahrscheinlich kaum verändert – wohl aber unser Umgang mit dem Tod und im Besonderen mit den Toten.
Statistisch betrachtet starb im Jahr 2022 in Deutschland alle 30 Sekunden ein Mensch. Im ganzen Jahr 2022 waren das rund 1.000.000 Mütter, Väter, Kinder, Partner, Freunde, Kollegen oder Bekannte. Die sogenannten Fehl- und Totgeburten zählen bei dieser jährlichen Statistik der Toten in Deutschland gar nicht mit. Diese kaum fassbare Zahl verweist zugleich auf all die Menschen, die um ihre Toten trauern. Schätzungen zufolge sind bedingt durch akute und langjährige Trauerprozesse bis zu zehn Prozent unserer Gesellschaft von Trauer betroffen.
Über die psychosoziale und spirituelle Situation von Sterbenden und ihren Angehörigen können die jährlichen Sterbezahlen nichts aussagen. Dennoch machen sie rein numerisch deutlich, dass Sterben und Trauer keine Randphänomene in unserer Gesellschaft sind. Die letzte Lebensphase ist für das gelingende Leben eine bedeutsame. Menschen schauen zurück und bereiten sich auf einen Übergang vor. Gerade hier brauchen sie selbst – aber auch diejenigen, die sie begleiten – Unterstützung.
Trauer ist Liebe
Das Lebensende ist Teil des Lebens. Als Gesellschaft sollte es unser ausgesprochenes Ziel sein, die letzte Phase unseres Lebens in all ihren Facetten wahrzunehmen und wertzuschätzen. Es handelt sich um eine anthropologische Konstante, dass wir Sterbende begleiten und um sie trauern. Es macht uns zu Menschen.
Mit dem Tod eines geliebten Menschen verändern sich die Leben der Über-Lebenden in existenzieller Weise. Trauer ist so wirksam wie die Liebe – sie erfasst den ganzen Menschen in seinem Sein. Trauer ist Liebe. Sie ist die Verbindung zu einer dauerhaft abwesenden Person. Mit dem Verlust läuft sie ins Leere, denn Worte, Blicke und Berührungen bleiben unbeantwortet. Es gibt keine Resonanzen mehr.
Die persönliche Erfahrbarkeit vom Sterben und Tod der anderen ist in den modernen Gesellschaften durch Rationalisierung, Effizienzwillen und Bürokratie deutlich erschwert worden. Nur noch Staatsbegräbnisse erregen öffentliche Aufmerksamkeit, und Todesanzeigen zeugen vom ursprünglichen Bedürfnis, den Tod eines Mitmenschen öffentlich zu betrauern. Heute erleben nur noch diejenigen, die direkt vom Tod Angehöriger oder von Freunden betroffen sind, und jene Menschen, die als Pflegekräfte, Ärzte, Sanitäter, Bestatter oder Seelsorger arbeiten, den Tod der anderen. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist in die Lage versetzt, die rationale und emotionale Auseinandersetzung mit dem eigenen Ableben erfolgreich zu vermeiden. Solange wir in einer engmaschig vernetzten Konsum- und Medienwelt funktionieren und konsumieren, sind wir Teil der Gesellschaft und fühlen uns lebendig. Das Versprechen liegt in der Zukunft, und die Zukunft soll möglichst lange währen.
Trauer im digitalen Raum
Dagegen wird die mediale Verarbeitung des Todes immer intensiver betrieben. In der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs weitgehend friedlichen westlichen Welt ist das gesellschaftliche Bedürfnis gewachsen, das reale Erleben von Gewalt und Sterben, das für Jahrtausende kulturprägend war, medial zu vermitteln. Das aus der direkten Erfahrungswelt Evakuierte kehrt in der Kultur und den Medien zurück in unsere Wahrnehmung. Selbst Wiedergänger wie Vampire und Zombies prägen seit Langem Literatur und Film. Eine neue Sichtbarkeit des Todes wurde in den Kulturwissenschaften bereits proklamiert, doch erscheint sie eher wie der Ort hinter den Spiegeln. Vor dem Spiegel herrschen vor allem Jugendkult, Selbstoptimierung und Narzissmus. Realen Bedrohungen wie Terror oder Pandemien begegnet unsere Gesellschaft dagegen meist mit Hysterie.
Dem Streben nach einem individuellen Leben in modernen Gesellschaften steht die deutliche Zunahme der Anonymisierung des Sterbens und der Bestattungsformen gegenüber. Sie können als weiterer Schritt einer Rationalisierung und der damit verbundenen Zurückdrängung des Individuellen im Tod gedeutet werden. In dem seit vielen Jahrzehnten ansteigenden Wunsch nach Feuerbestattungen (aktueller Anteil etwa 75 Prozent) mag sich zudem eine bis in den Tod reichende Körperfeindlichkeit postindustrieller Gesellschaften offenbaren. Der Körper darf nicht langsam verwesen, sondern soll sauber und effizient verbrannt werden, um ihn danach möglichst platz- und kostensparend – halb oder ganz anonym – beizusetzen. Oder die Urne mit den Überresten des geliebten Menschen steht im Regal, ohne öffentlichen Gedenkort, der Gemeinschaft entzogen, doch dafür stets mobil und anwesend. Die wichtige Funktion, die eine Bestattung im Prozess von Abschied und Trauer innehat, wird dabei ignoriert.
Alternativ zum konfessionellen oder kommunalen Friedhof bietet sich seit 2001 die Beisetzung im Wald an. Die Hinterbliebenen sollen möglichst keine Arbeit mit den Toten haben, was zu einem deutlichen Wandel der Dienstleistungen im Bereich der Bestattungskultur führte. Der deutsche Sehnsuchtsort Wald wird zur romantischen Metapher des beschleunigten Eingehens in den Kreislauf der Natur. Die rückstandslose Kompostierung findet also wieder „extra muros“, ja sogar weit außerhalb der bewohnten Zivilisation statt. Niemand muss dort ein Grab gestalten oder pflegen, und die langen Ruhezeiten beruhigen die Nachfahren zusätzlich, da sie sich die Frage nicht mehr stellen müssen, was nach ihrem Ablauf sein soll. Diese Form der Entsorgung der sterblichen Überreste dient vor allem dazu, den Nachkommen oder Verwandten Sorgen zu nehmen. Die Bedeutung des Verlusts eines Gedenkorts im sozialen Gefüge des Wohnorts wird meist nicht wahrgenommen, denn die Anforderungen an eine mobile Gesellschaft haben viele Familien längst in alle Himmelsrichtungen verteilt. Trauer und Gedenken lösen sich zunehmend von einem Ort, wandern zum Teil in den digitalen Raum und werden virtuell in den sozialen Medien gelebt.
Zwischen Trauer und Freude
Seit der Friedhof mit der Entstehung der Beisetzungswälder (November 2001) sein Monopol verloren hat, befassen sich immer mehr Menschen mit der Frage, wie und wo sie bestattet werden möchten. Die Formen und Möglichkeiten haben sich in den letzten 20 Jahren vervielfacht, und diese Diversifikation bietet auch die Chance eines umfassenden Dialogs. Der Umgang mit dem Tod umfasst zwei entscheidende Bereiche des Lebens, und hieraus bezieht die Sepulkralkultur eine dauerhafte Aktualität: Zum einen das öffentliche, das soziale Miteinander, das sich in Bestattungs- und Trauerformen sowie in Ritualen des Gedenkens manifestiert. Zum anderen das persönliche Sterben, das jeden betrifft. In diesem Spannungsfeld zwischen Wir und Ich, zwischen Geburt und Sterben, zwischen Freude und Trauer findet sich das Leben.
Fotografien
Sven Fennema lädt in seinem fünften Bildband „Memento“ zu einer melancholischen Reise zu den schönsten Friedhöfen Europas ein. Herausgekommen ist ein bildgewaltiges Werk, das zu verwunschenen Orten, Orten der Trauer und Erinnerung führt und zum neuen Nachdenken über das Leben und den Tod anregt.
Sven Fennema, Björn Eenboom
Memento: Verwunschene Friedhöfe – Orte der Erinnerung
Frederking & Thaler 2022, 240 Seiten, 49,99 Euro
© Museum für Sepulkralkultur sepulkralmuseum.de