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Von wegen harmlos!

Titelthema - Von wegen harmlos!
Cannabisprodukte, von Erwachsenen legal erworben, werden trotz Verbots an Jugendliche durchgereicht. © Pixabay

Schon die derzeitige Debatte senkt die Hemmschwelle zum vor allem für junge Menschen gefährlichen Cannabiskonsum.

Rainer Thomasius01.01.2022

Die neue Regierung will die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene „zu Genusszwecken“ in lizenzierten Geschäften einführen. Dadurch soll der Schwarzmarkt eingedämmt, die Produktqualität erhöht und der Jugendschutz gestärkt werden. Da andere Länder sich bereits seit einigen Jahren an einer Legalisierung erproben und Cannabis trotz schwacher Evidenzlage und fehlendem Indikationskatalog auch in Deutschland zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung als Medikament verordnet werden darf, wird der Ruf nach einer „modernen Drogenpolitik“ laut. Doch passen Cannabislegalisierung und Jugendschutz tatsächlich zueinander? Hält „moderne Drogenpolitik“, was sie verspricht?

Mit Blick auf den aktuellen Forschungsstand sollte jeglicher Cannabisgebrauch im Kindes- und Jugendalter vermieden werden. Dem Jugendschutz kommt daher eine zentrale Bedeutung zu. Regelmäßiger Cannabiskonsum in der Adoleszenz greift massiv und teilweise irreversibel in die Hirnentwicklung ein und ist mit einem besonders hohen Risiko für Beeinträchtigungen von Lern-, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisfunktionen sowie der Intelligenz behaftet. Die Anfälligkeit für eine Suchtentwicklung ist in Pubertät und Adoleszenz besonders hoch. Auch für das Erwachsenenalter ist wissenschaftlich gut belegt, dass depressive Störungen, Suizidalität, Motivationsstörungen, Angsterkrankungen sowie zusätzlicher Missbrauch von Alkohol und illegalen Drogen in Abhängigkeit vom Ausmaß des Cannabiskonsums befördert werden. Cannabiskonsum kann bei ansonsten unauffälligen Menschen Psychosen auslösen und den Verlauf schizophrener Psychosen deutlich verschlechtern. Bei Cannabiskonsum in der Schwangerschaft werden Frühgeburten und Entwicklungsstörungen des Kindes beobachtet.

„Bestmöglicher Jugendschutz“ ist illusorisch

In Kenntnis der Studienlage aus Legalisierungsländern muss davon ausgegangen werden, dass auch
in Deutschland im Falle einer Abgaberegulierung der Cannabiskonsum junger Menschen zunehmen wird, mitsamt seinen ungünstigen Folgen. Alle Vorsätze, die Legalisierung mit bestmöglichem Jugendschutz zu verbinden, haben sich in vielen Legalisierungsändern als Illusion erwiesen. Cannabisprodukte, die von Erwachsenen legal erworben werden, werden trotz Verbots an Jugendliche durchgereicht.

Bereits die Debatte um eine Legalisierung senkt die Schwelle, weil suggeriert wird, dass Cannabis harmlos sei. Bei der Konsumorientierung junger Menschen ist das Signal, das die Gesellschaft aussendet, von entscheidender Bedeutung. Ob die Steuereinnahmen des lizenzierten Verkaufs jene Belastungen auffangen werden, die durch die Zunahme konsumbedingter Vergiftungsfälle entstehen sowie durch Notfall- und Suchtbehandlungen, Verkehrsunfälle und -tote, Suizide, Schulabbrüche, Arbeitsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit – das darf infrage gestellt werden. Diese unerwünschten Folgen haben den 125. Deutschen Ärztetag 2021 erneut dazu veranlasst, vor den möglichen Risiken einer Cannabisfreigabe zu warnen. Auch wurde auf dem Ärztetag auf Probleme in der Marktregulierung, auf Schmuggel und Steuerbetrug hingewiesen sowie auf den Umstand, dass die Austrocknung des Schwarzmarktes in den Legalisierungsländern nur bedingt gelingt.

Niedrige Konsumquote wird steigen

Die bisherige Cannabispolitik in Deutschland kann sich mit Blick auf Konsumquoten durchaus sehen lassen. Angebotsreduzierung (Betäubungsmittelgesetz), Prävention, Hilfen und Schadensminimierung bilden die Säulen der Programmatik. In der deutschen Bevölkerung liegen nach Daten der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) die Quoten täglichen oder fast täglichen Cannabisgebrauchs im europäischen Vergleich ausgesprochen niedrig – mit 0,4 Prozent für die Gesamtbevölkerung auf dem 5. Rang von 14 Ländern insgesamt, europäischer Durchschnitt ist 0,7 Prozent. Zum Vergleich: Bei den legalen Suchtmitteln Alkohol und Tabak liegen die Raten riskanten beziehungsweise süchtigen Konsums in der deutschen erwachsenen Bevölkerung um das sieben- bis 20-Fache höher.

Die Bundesbürger stehen dem Verkauf von Cannabis kritisch gegenüber. In einer jüngsten Forsa-Repräsentativbefragung sind 59 Prozent der Befragten der Auffassung, dass Cannabis nur als Arzneimittel erlaubt sein sollte. Nur 30 Prozent der Bundesbürger sind der Meinung, dass der Verkauf von Cannabis in Deutschland erlaubt werden sollte.

Rainer Thomasius

Prof. Dr. Rainer Thomasius ist ärztlicher Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

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