Titelthema
Von wegen Kinderkram
Spielen ist ein Urphänomen des Menschen und der Natur, erscheint heutigen Erwachsenen aber als „unnützer Luxus“.
Dabei ist Spielen ein faszinierendes Instrument, eine Methode, mit der wir Menschen uns diese Welt erschließen, Erklärungsansätze für die Fragen des Lebens erarbeiten oder Konflikte und Probleme lösen und verarbeiten. Spielen macht glücklich, gesund und schlau. Die Selbsterkenntnis des Menschen mit den Aspekten aus Pädagogik, Psychologie, Soziologie, Ökonomie, Biologie, Anthropologie, Philosophie, Religionswissenschaft oder Kultur- und Medienwissenschaft zum Thema Spielen finden nur innerhalb dieser Teildisziplinen statt. Es fehlt oft die Interdisziplinarität, um die Gemeinsamkeiten zu erkennen. Aber was hat das mit der aktuellen Gaming-Kultur zu tun?
Zu spielen bedeutet generell, freiwillig intrinsisch motivierte Tätigkeiten auszuführen, um künstliche Herausforderungen zu bewältigen. Wenn ein Golfball in ein kleines Loch soll, warum trägt man ihn nicht schnell dort hin und stopft ihn rein? Es gibt verschiedene Schläger und Hindernisse, die mit Spielregeln verknüpft sind. Warum wählen die Golfspieler diesen komplizierten Weg, um ihr Ziel zu erreichen? Die Spieler vollführen eine Reihe von Handlungen, die mit (Lebens-)Freude und Spaß verbunden sind. Diese Freude führt zu positiv empfundenen Emotionen, also zu Hormonausschüttungen in unserem Gehirn. Spielen bewirkt Belebung und Vergnügen. Diese Emotionen können jedoch durch unterschiedliche kulturelle Prägungen verschieden erzeugt werden. So hat Brian Sutton-Smith (vgl. 1978: Die Dialektik des Spiels) nachgewiesen, dass wettbewerbsorientierte Kulturen verstärkt kompetitive Spiele spielen und Kulturen, die weniger das Individuum und seine Selbstverwirklichung im Fokus haben, mehr kooperative Spiele.
Der Homo sapiens wurde offensichtlich durch die Natur nicht mit ausreichend sozialen Instinkten ausgestattet, wie Bienen, Ameisen oder Zugvögel, dass er sich automatisch einzuordnen wüsste. Wie stark sich der kooperative Gedanke entwickelt, die Sozialisation des Menschen eintrainiert wird, ist kulturell und individuell eben sehr unterschiedlich.
Wir benötigen auf jeden Fall reale und spielerische Erfahrungen sowie auch sinnstiftende Religionen, Philosophien und andere erfundene Ordnungen wie Nationalstaaten oder Geld. Da haben es instinktgetriebene Tiere manches Mal einfacher. Ihnen fehlt das ausgeprägte Bewusstsein eines Individuums, sie wissen, dass sie nur ein Teil eines größeren Ganzen sind. Der Mensch muss erst sein Menschsein mühsam lernen. Dabei unterstützt ihn das Spielen. Und je komplexer eine Gesellschaft ist, je mehr Technologien sie im Einsatz hat, umso komplexer sind die Spiele, die sie hervorbringt.
Spezielle Werkzeuge zur Spielzeugherstellung aus Holz oder die im 15. Jahrhundert sich verbreitende Drucktechnik, die zu massenhaft verfügbaren Kartenspielen führte, oder heute die Computer und Smartphones, die digitalen Begleiter in jeder Hosentasche: Gespielt wird immer mit den Spielmitteln der Zeit.
Komplexe Spiele in komplexen Gesellschaften
Seitdem Menschen vor circa 11.000 Jahren sesshaft geworden sind, die Idee eines Lebens nach dem Tod entstanden ist und gesellschaftliche, abstrakte Spielregeln rund um ein Stadtleben mit entsprechender Arbeitsteilung kommuniziert und gelernt werden mussten, gibt es wohl Brettspiele. Diese ersten abstrakten Spiele eines Lebenslaufes hatten immer das Ziel, neben einer Gottheit im Paradies Platz nehmen zu dürfen (Königsspiel von Ur aus Mesopotamien oder Senet aus Ägypten), so auch beim Vorläufer von Mensch ärgere Dich nicht, dem uralten indischen Spiel Pachisi, bei dem es darum geht, dem schmerzhaften, leidvollen Leben zu entrinnen, um „nach Hause“ ins schmerzfreie Nirwana, ins ewige Leben vorzudringen.
Spiele kommunizieren und gestalten Kultur, seitdem es sie in digitaler Form gibt, deshalb sollten auch heute in den Ausbildungen und Studiengängen rund um die Entwicklung und technische Umsetzung von digitalen Spielen die Grundlagen des analogen Spielens, der Ludologie, mit vermittelt werden. Das Verständnis von Brett- und Kartenspielen, die Kenntnis tradierter Spielmechaniken und Spielkonzepte, bilden die Grundlage einer soliden Spielentwicklungskompetenz. Sinnvoll wäre eine Lehr- und Forschungssammlung für Brett- und Kartenspiele sowie eine solide Computerspielesammlung. Im aktuellen Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung ist dank der Spiele-AutorenZunft (SAZ) die Forderung nach der Aufnahme der analogen Spiele in den Sammlungskatalog der Deutschen Nationalbibliothek verankert. Nur leider wehrt diese sich bisher, weil sie unter Kostendruck und Einsparaufforderungen der Bundesregierung keine Kapazitäten für neue Aufgaben hat.
Über analoge Spiele oder webbasierte Multiplayer-Games knüpfen Menschen Kontakte, pflegen Gemeinschaft, lösen gemeinsam Probleme oder messen und vergleichen sich miteinander. Games zeigen uns unsere Grenzen auf. Oder konnte jemals jemand gegen Tetris gewinnen? Mit Spielen entspannen sich Menschen, lernen, bauen und konstruieren, werden kreativ, innovativ, gestalten Zukunft. In Spielen können Menschen anderen Kulturen begegnen, in virtuelle Welten eintauchen, ihr Glück versuchen oder auch nur einfach einmal ausprobieren, ein anderer zu sein. Sie können sich mit unterschiedlichen Rollen identifizieren und in der Wirklichkeit unmögliche Abenteuer erleben, erleiden und bestehen. Spiele können eine Methode sein, den langweiligen Alltag zu gamifizieren oder als Health-Games Gutes im Gesundheitswesen zu bewirken. Die Games-Kultur ist atemberaubend vielfältig, weil sich in ihr das freie Spiel, das explorative Spiel, das Fantasiespiel, das Rollenspiel, das Konstruktionsspiel sowie das vom Game-Designer erfundene und definierte Regelspiel bündeln können.
Spielkompetenzen und Games-Kultur
Die Menschen der Moderne sehen Spielen als Kontrast zur Arbeit statt als Instrument kreativer Problemlösung. Videospiele können zu einem leichteren Blick auf das Leben beitragen, so wie es auch Spielzeug und Brettspiele seit Jahrtausenden tun – je nach den technologischen Möglichkeiten der jeweiligen Epoche.
Es ist an der Zeit, Spiele aus dem Unbewussten und Unreflektierten auf eine methodische, wissenschaftliche Bühne zu heben sowie den Leugnern und Ignoranten, die Spiele generell verteufeln, die Stirn zu bieten. Spielen ist die Basis kultureller Entwicklung und eine Kulturtechnik, die man auf ihren vielfältigen Ebenen pflegen und fördern muss. Egal, ob analog oder digital, denn diese Kategorien werden immer durchlässiger: Gerade wurde mit Dorfromantik das (Brett-)Spiel des Jahres 2023 gekürt. Dessen Basis ist das mit dem Deutschen Computerspielpreis 2021 ausgezeichnete digitale Spiel gleichen Namens.