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Titelthema

Vorfahrt für die Bahn

Titelthema - Vorfahrt für die Bahn
„Von allen Verkehrsträgern ist allein die Bahn in der Lage, sowohl in der Fläche als auch in den Ballungsgebieten große Menschenmengen auf kleinem Raum sicher und zuverlässig zu transportieren – und das bei geringem Energieverbrauch“ © Paul Langrock/zenit/laif

Die Erneuerung des staatseigenen Eisenbahnbetriebs ist nicht nur eine betriebswirtschaftliche, sondern vor allem eine gesellschaftliche Aufgabe

01.02.2019

Die Nachricht kam kurz vor Weihnachten. In den letzten Tagen des alten Jahres forderte der für die Bahn zuständige Staatssekretär Enak Ferlemann in einem Interview mit der Welt am Sonntag eine grundlegende Reform des Staatskonzerns Deutsche Bahn AG. Und Verkehrsminister Andreas Scheuer betonte nur wenig später: „Wir brauchen eine Bürgerbahn, die den Namen verdient – nämlich, dass wir pünktlicher werden, dass wir besseren Service anbieten.“

Bestandsaufnahme
Keine Frage: Die Deutsche Bahn AG befindet sich in keinem guten Zustand – und das seit vielen Jahren. Die Züge sind regelmäßig unpünktlich und vielfach überaltert. Die Zulassung neuer Fahrzeuge verzögert sich ebenso wie die Renovierung alter Bahnhofsgebäude stockt. Dafür werden die Preise im Personenverkehr – ohnehin schon zu teuer im Vergleich zu anderen Anbietern wie den Fernbussen – fast jedes Jahr erhöht, ohne dass die Qualität in erkennbarem Maße steigen würde. Der Investitionsrückstau, vor allem bei den Stellwerken, und der massiv getätigte Rückbau der Infrastruktur lassen eine klare Richtung und zukunftsweisende Entwicklung des Schienenverkehrs in Deutschland vermissen. Entsprechend demotiviert sind die Mitarbeiter – und die Fahrgäste sind von alledem nur noch genervt.

Auch der verkehrspolitisch-programmatische Anspruch an die Bahn und die reale Verkehrsentwicklung klaffen seit Jahrzehnten weit auseinander. Obwohl spätestens seit den 1970er Jahren regelmäßig eine Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene gefordert wird, hat seitdem der Anteil des Straßenverkehrs kontinuierlich zugenommen. Da der Verkehr heute der zweitgrößte Verursacher von CO2 -Emissionen ist und darüber hinaus der einzige Sektor, in dem die CO2 -Emissionen weiter steigen, während sie in allen anderen Sektoren (Energiewirtschaft, Industrie, Haushalte, Gewerbe/Handel/ Dienstleistung) stagnieren oder rückläufig sind, ist die schwächelnde Performance der Bahn auch in dieser Hinsicht ein enormes gesamtgesellschaftliches Problem.

Gescheiterte Reformen
Dabei sollte die Deutsche Bahn AG längst eine andere sein. Vor 25 Jahren leitete das Eisenbahnneuordnungsgesetz die sogenannte Bahnreform ein, deren Kernbestandteile die Umwandlung der staatlichen Bundesbahn in eine privatrechtliche Aktiengesellschaft, die Öffnung der Schienenwege für private Wettbewerber und die Übertragung der Zuständigkeit für den Schienenpersonennahverkehr vom Bund auf die Länder waren. Eigentümer des neuen Unternehmens sollte zunächst der Bund bleiben, bis – nach erfolgter Umstrukturierung – dessen Anteile über einen Börsengang privatisiert werden sollten.

Diese Umstrukturierung war Teil eines umfangreichen Deregulierungsprogramms, das u.a. auch die Bundespost (die in Deutsche Telekom, Deutsche Post AG und Postbank geteilt wurde), die Energieversorger und die vormals staatliche Lufthansa betraf, und von der Überzeugung geleitet war, dass der Staat nicht in der Lage sei, wirtschaftlich zu handeln. Die Politik sollte sich demnach nur noch darauf beschränken, Rahmenbedingungen für freie Märkte zu schaffen, in denen private Wettbewerber um das beste Produkt konkurrieren. Eine gestaltende Rolle im Sinne eines aktiven Marktakteurs war für den Staat nicht mehr vorgesehen. Für die Umwandlung des Eisenbahnsektors gab es zwei wesentliche Vorbilder: Während Großbritannien 1992 kurzfristig und weitgehend ungeplant das gesamte Eisenbahnsystem privatisierte, vollzog sich die Bahnreform in Schweden seit den 1970er Jahren schrittweise und bis zuletzt staatlich moderiert. Zwischen diesen beiden extremen Polen – der Marktintegration auf der einen und der Staatsintegration auf der anderen Seite – verfolgte Deutschland einen seinem korporatistischen Gesellschaftsmodell entsprechenden Entwicklungspfad, der die Aushandlung der Interessen von Wirtschaft, Gewerkschaften und Staat anstrebt.

Während in Großbritannien das dortige Ziel vollständig umgesetzt wurde, hat die Politik in Schweden bewusst auf eine Privatisierung via Börsengang verzichtet, um nicht den politischen Einfluss auf die Entwicklung des Eisenbahnsystems zu verlieren. In Deutschland wiederum haben die langwierigen gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse dazu beigetragen, dass am Ende auf einen Börsengang und die materielle Privatisierung verzichtet wurde. Stattdessen entstand mit der formellen Privatisierung der Deutschen Bundesbahn ein Zwitterkonzern, der einerseits als privatwirtschaftliches Unternehmen am Markt agieren soll, während andererseits der Staat 100 Prozent der Unternehmensanteile besitzt und den Konzern immer wieder mit politischen Forderungen im Sinne des Gemeinwohls konfrontiert.

Hatte man bezüglich der Bahnreform sowohl in Großbritannien wie auch in Schweden eine bewusste politische Entscheidung getroffen, handelte es sich im Falle von Deutschland somit um einen faulen Kompromiss, der die Führung der Bahn zu einem permanenten Spagat zwischen betriebswirtschaftlichem Kalkül und am Gemeinwohl orientierten Anforderungen zwingt.

Erkenntnisse und Forderungen
Darum müssen wir ein Vierteljahrhundert nach der Bahnreform konstatieren, dass ihre Ergebnisse in wesentlichen Punkten weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind. So kämpfen nicht nur die Kunden und Mitarbeiter mit den oben genannten alltäglichen Problemen im Zugverkehr, auch die Ergebniszahlen des Unternehmens spiegeln den faulen Kompromiss wieder. Zwar kletterte der bereinigte Umsatz des DB-Konzern im Jahre 2017 auf 42,7 Milliarden Euro, und das operative Ergebnis (EBIT bereinigt) stieg auf 2,15 Milliarden Euro (die Ergebnisse für 2018 liegen noch nicht vor). Zugleich bezuschusst der Bund als Eigentümer den Regionalverkehr der Bahn jedes Jahr mit weitaus höheren Milliardenbeträgen. Von einem profitablen Unternehmen kann also keine Rede sein.

Kritisch ist nach 25 Jahren auch die Umstrukturierung der Bahn nach Geschäftsbereichen zu bewerten. Was viele Bürger nicht wissen ist, dass es die eine Bahn im Grunde gar nicht mehr gibt. Stattdessen gliedert sich die Deutsche Bahn AG als Holding in Dutzende selbständige Firmen – von der ICE-Flotte über die Regionalverkehre und die S-Bahn GmbHs in den Metropolen bis hin zum Infrastrukturunternehmen DB Netz AG. Gedacht war diese Umstrukturierung als Schritt zu einer höheren Effektivität und Profitabilität – im Ergebnis entstand jedoch eine beispiellose Unübersichtlichkeit und strukturelle Verantwortungslosigkeit. Die einzelnen Tochtergesellschaften der Bahn achten in der Regel nur auf ihre eigenen Ziele.

Konsequenzen
Wenn heute Politiker eine Neuaufstellung der Deutschen Bahn AG fordern, müssen wir also auch darüber diskutieren, welche Bahn unsere Gesellschaft eigentlich will und welche Rolle die Bahn in ihr spielen soll. Dazu gehört u.a., den faulen Kompromiss aus der Zeit der abgebrochenen Privatisierung zu beenden und von dem Unternehmen künftig keine fragwürdigen Gewinne mehr zu verlangen, sondern zuallererst die zuverlässige Gewährleistung von Personen- und Güterverkehr. Dass die aktuelle Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart hat, nicht mehr auf die Maximierung des Gewinns zu pochen, sondern vielmehr auf eine sinnvolle Maximierung des Verkehrs auf der Schiene, ist in dieser Hinsicht ein guter Anfang. Mehr aber auch nicht.

Zu den grundsätzlichen Überlegungen gehört aber auch die Frage, welche gesellschaftlichen Interessen künftig den Vorrang haben sollen – und welche Interessen gegebenenfalls hintenanstehen müssen. Fakt ist: Von allen Verkehrsträgern ist allein die Bahn in der Lage, sowohl überregional als auch lokal, sowohl in der Fläche als auch in den Ballungsgebieten große Menschenmengen auf kleinem Raum sicher und zuverlässig zu transportieren – und das bei geringem spezifischen Energieverbrauch. Angesichts dieser Bedeutung muss das Ziel der Verkehrspolitik, wenn sie den Auftrag einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung ernst nimmt, auf eine Akzentverschiebung zugunsten des Schienenverkehrs gerichtet sein.