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Warum Selbsterkenntnis schwierig ist

Forum - Warum Selbsterkenntnis schwierig ist
Die Frage nach dem wahren Ich treibt Menschen fast jeden Alters um. Eine Zeichnung ist dabei wohl aufschlussreicher als der Blick in den Spiegel. © Matthieu Paley / National Geographic Creative

Die meisten Menschen halten sich für kompetenter und moralischer als ihre Nächsten. Ein wenig Hochnäsigkeit hat in der Tat positive Effekte.

Steve Ayan01.02.2021

Erkenne dich selbst!“ Dieser Rat zierte etwa ab dem 7. Jahrhundert vor Christus den Apollotempel am Berg Parnass bei Delphi. Hier sagte die schon in der Antike berühmte Pythia Besuchern die Zukunft voraus. Seit fast 3000 Jahren mahnt uns das „Gnothi seauton!“ also, Selbsterkenntnis sei wichtig.

Zwar zielte der Appell zu Pythias Zeiten eher darauf, sich der Natur des Menschen als sterblichem, schwachen Wesen bewusst zu sein. Doch ebenso wie damals soll der Versuch, sich selbst den Spiegel vorzuhalten, heute Hochmut und Selbstüberschätzung mildern.

Was tun wir nicht alles, um uns auf die Schliche zu kommen? Wir durchforsten unsere Stärken und Schwächen, absolvieren Persönlichkeits- und Begabungstests, lernen uns in Selbsterfahrungskursen, Assessment-Centern oder in tiefen Gesprächen mit Freunden kennen. All das soll helfen, die passende Karriere einzuschlagen, den richtigen Partner zu finden und seinen wahren Bedürfnissen zu folgen. Tausende Ratgeber und Coaches wollen uns dabei unterstützen. Kaum etwas scheint für ein gutes Leben entscheidender zu sein als das eigene „wahre Ich“ zu kennen.

Es gibt kein wahres Ich

Die moderne Persönlichkeitsforschung legt allerdings einen anderen, ernüchternden Schluss nahe: Es gibt kein wahres Ich. Wir mögen gewisse Tendenzen besitzen, der eine produziert sich beispielsweise gern in der Gruppe, der andere ist eher still und zurückhaltend. Doch wir passen unser Verhalten flexibel von Situation zu Situation an und verändern uns im Lauf des Lebens markant.

Zudem gilt uns die Essenz des Menschen, ganz besonders die eigene, fast immer als etwas Positives, Grundgutes. Der Ängstliche begreift sich als im Grunde seines Herzens mutig, der Hinterhältige als gerecht, der Egoist als sozial. Oder wie es der Dichter Ödön von Horváth sagte: „Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur so selten dazu.“

Psychologische Studien zeigen zudem: Ein moderater Hang zur Selbstüberhöhung, auch positivity bias genannt, schmälert nicht etwa Glück und Erfolg. De facto sind Menschen, die sich für ein Gutteil besser halten, als andere sie einschätzen, im Schnitt zufriedener, widerstandsfähiger und sozial besser integriert.

Wie kann das sein? Kennt nicht jeder ein selbstverliebtes Ekel, mit dem man lieber nichts zu tun haben will? Richtig: Die größte Gefahr bei der Selbstüberhöhung besteht darin, dass einen die Nächsten verachten und schneiden. Deshalb haben wir es uns angewöhnt, nach außen tief zu stapeln, auch wenn wir recht große Stücke auf uns halten.

So hält sich der überwiegende Teil der Menschen, vor allem in den westlichen Gesellschaften, für kompetenter und moralischer als ihre Nächsten. Als „Better-than-average-Effekt“ ging dies in die Lehrbücher ein. In vielen, (noch) nicht so individualistisch geprägten Kulturen etwa in Fernost stehen zwar nicht Intelligenz und Durchsetzungskraft im Vordergrund. Die Menschen dort überhöhen sich aber nicht weniger, nur anders: Sie loben sich etwa für ihre soziale Ader und ihre Opferbereitschaft gegenüber der Familie. Wie der britische Sozialpsychologe Constantin Sedikides erklärt: „Alle Menschen neigen dazu, sich zu überhöhen, nur auf verschiedenen Domänen.“

So halten wir uns auch nicht auf allen Gebieten für Weltklasse. (Falls doch, ist der Narzissmus wohl bereits pathologisch.) Wir finden uns vor allem dort gut, wo es drauf ankommt: Toll pfeifen oder jonglieren zu können, ist nicht so wichtig, aber dass man ein schlauer Fuchs oder eine ehrliche Haut ist – das ist ja mal klar.

Fünf Gründe machen eine Portion Hochnäsigkeit so verführerisch:

Fühle dich gut!

Realistische Selbsteinschätzung geht häufig mit einem Hang zu Melancholie und leichter Depression einher. Das hat mit einer ausgewachsenen klinischen Depression zwar nichts zu tun. Gleichwohl drückt ein ausgeprägter Realitätssinn durchaus auf die Stimmung. Blendend gelaunte Zeitgenossen sind umgekehrt weniger empfänglich für Fakten und lassen sich von Werbung eher beeindrucken. Kein Wunder, dass die wirkungsvollsten Spots Frohsinn versprühen. Wer Spaß hat, bei dem sitzt das Portemonnaie lockerer.

Nimm Rückschläge nicht so schwer!

Ein rosiges Bild von sich selbst zu haben, stärkt die Resilienz, also die seelische Widerstandskraft. Wir stecken Niederlagen und Fehler dann eher weg, ja nehmen sie häufig gar nicht als Problem wahr. Freilich gilt das nur solange, wie wir keine tollkühnen Aktionen starten oder vollkommen überambitionierte Ziele anpeilen.

Tritt überzeugend auf!

Laut dem Soziobiologen Robert Trivers liegt der tiefere Sinn der Selbsttäuschung darin, andere besser täuschen zu können. Wer überzeugend rüberkommen will, sollte seine eigenen Märchen zunächst einmal selbst glauben. Jedenfalls im Ansatz. Das belegen Studien: Versuchsteilnehmer, denen man durch ein fiktives Feedback zu der Überzeugung verhilft, sie hätten ein charismatisches Auftreten, schneiden beim anschließenden Vorsprechen vor einer Jury überzeugender ab.

Glaube an das Gute in dir!

Die stärksten Effekte der Selbstüberhöhung sind laut Studien auf dem Gebiet der Moral zu verzeichnen. Der Mensch hält sich allgemein gern für gerechter, mitfühlender, ehrlicher und treuer als die meisten anderen. Das ergibt evolutionär betrachtet Sinn. Anderen kaum über den Weg zu trauen, dafür aber sich selbst als vertrauenswürdig darzustellen, sichert einem im Miteinander viele Vorteile. Man will schließlich in keine Falle hineintappen – und über die, die man anderen stellt, tunlichst hinwegsehen.

Spar dir die Mühe!

Selbsterkenntnis zu besitzen ist etwas grundlegend anderes, als sie zu suchen. Dass ich wissen will, wie ich bin, heißt noch lange nicht, dass ich es auch herausfinde, oder – noch wichtiger – dieses Wissen akzeptieren kann. Die Mühe (und finanziellen Mittel), die wir in allerlei Techniken der Selbstbespiegelung investieren, hat nicht nur oft nicht den gewünschten Effekt. Sie verstärkt mitunter die Sorge, man müsse sich immer noch ein Stück näherkommen und noch eine Spur härter an sich arbeiten.

Was folgt aus all dem? Sollten wir uns gar nicht darum scheren, wie wir sind, und dem Narzissmus freien Lauf lassen? Nein, sicher nicht! Vor allem zwei Dinge sprechen dagegen. Egomanen ecken an und bekommen weniger Unterstützung durch andere. Und zu viel Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall: Wer glaubt, er könne einfach alles schaffen, fällt irgendwann auf die Nase.

Allerdings: Dass es so eine hohe Hürde darstellt, sich selbst zu kennen, hat gute Gründe. Und sich nicht ganz so gut zu kennen, aber vom besten auszugehen (in dubio pro reo, wie Juristen sagen), ist nach allem, was wir wissen, eine gewinnbringende Strategie.


Buchtipp

 

Steve Ayan

Ich und andere Irrtümer. Die Psychologie der Selbsterkenntnis

Klett-Cotta, Stuttgart 2019,

303 Seiten, 17 Euro