Covid-19-Buch
Was in der Krise zählt - Über Philosophie in Echtzeit
Eine Neuveröffentlichung, die aktuelle Entwicklungen reflektiert und intensiv beleuchtet
Das Zeitgefühl schwankt in Krisenzeiten. Das war in der Finanzkrise so, als Politiker erklärten, Zeit kaufen zu wollen, das ist eine Erfahrung in der gegenwärtigen Pandemie. Zeit kann man nicht kaufen, nur verstreichen lassen. Der Eindruck, die Ereignisse beschleunigten sich, ist gegenwärtig verbreitet und geht mit der Empfindung einher, Zeit verloren zu haben. Die "Echtzeitphilosophie" reagiert nicht nur auf verändertes Zeitempfinden, sondern verbindet sich mit Katastrophenethik und spiegelt eine spezifische Zeiterfahrung, die nicht nur auf krisenhafte Entwicklungen, sondern auf ungesicherte Entscheidungsbedingungen verweist. Zwei Münchener Wissenschaftsphilosophen stellen sich der Coronakrise. Ihnen kommt es darauf an, auf größtmöglicher Rationalität der Entscheidungen zu beharren, selbst angesichts sich überstürzender und langfristig nicht vorauszusehender, mit Umsicht kaum mehr zu bewältigender Herausforderungen. Sie unterscheiden sich von allen, die interessengeleitet für Lockdown oder Öffnung plädierten, wägen Argumente ab und nehmen so den Leser mit in seiner Konfrontation mit den besonderen der "Echtzeitphilosophie".
Immer wussten die Betroffenen, dass es nicht um Zeit an sich, sondern um die Bewältigung von Problemen durch Verlangsamung, durch Hinauszögern von Entscheidungen, um Fristverlängerung ging. Verzögerungen waren nötig wegen mangelhafter Vorsorge und Vorsicht. Echtzeitphilosophie lenkt den Blick nicht zurück oder beklagt die Fehler, sondern stellt sich den Notwendigkeiten. In der Pandemie wiederholen sich Erfahrungen, die in vergangenen Pandemien, aber auch in der Finanzkrise gemacht wurden. Wieder sind Folgen von Empfehlungen und Entscheidungen nicht vorhersehbar. In der aktuellen Corona-Krise geht es aber nicht mehr nur um Geld der Banken, die Schulden des Staates und die Erfolge von Wirtschaftsunternehmen, sondern um das Leben der Erkrankten und den Schutz der nicht unmittelbar Gefährdeten. Es bedurfte nur weniger Monate, um das Gefühl zu entwickeln, die Pandemie sei nicht nur den Politikern, ihren Ratgebern und vielen Publizisten, sondern auch den Wissenschaftlern über den Kopf gewachsen. Nicht zuletzt deshalb sprossen Verschwörungstheorien, wurden virologische Hypothesen verbreitet, nicht selten in den wildwuchernden "sozialen Medien". Ihre Widersprüchlichkeit war verwirrend und lässt sich nicht als Ausdruck von Bösartigkeit abtun, sondern reflektiert Unübersichtlichkeit, Ratlosigkeit, das Gefühl von Ausweglosigkeit und eine mangelhafte kommunikative Auseinandersetzung mit Entscheidungsgründen.
Die Verfasser betonen, dass von den Verantwortlichen Entscheidungen zu fällen waren, deren Komplexität durch medizinische, klinische und wirtschaftliche bestimmt und belastet war. Vor allem mit der Schließung von Schulen und Kindertagesstätten war auch das Arbeitsleben betroffen. In der Tat hat von Februar bis Juli 2020, also innerhalb von gut vier Monaten, eine Fülle nicht selten unstimmiger Empfehlungen, Vorschriften und Entscheidungen für Verwirrung gesorgt. Die Folgen des Lockdowns für die Wirtschaft waren in ihren Auswirkungen kaum jemals verlässlich überschaubar. Hier setzen die Autoren an, denn es geht bei einer "Echtzeitphilosophie" nicht um richtige Entscheidungen, sondern um den verantwortlichen und rational abwägenden Umgang mit Unsicherheiten, mit eingeschränkten Informationen, mit ständig neuen Erkenntnissen, die Wissenszuwachs begründen.
Die Autoren zeigen, dass sich Entscheidungen aufgrund von Erfahrungen und ethischen Überlegungen rational begründen lassen. Denn Pandemien gab es immer und damit auch vielfältige Erfahrungen. Literarische Zeugnisse wie Daniel Defoes Chronik der Pest in London aus dem 17. Jahrhundert, Heines Schilderung der Cholera in Frankreich im 19. Jahrhundert oder Camus' "Pest" schildern gesellschaftliche Verhaltensweisen und individuelle Dilemmata, die vielen Beobachtungen aus den in den letzten Wochen gleichen. Was es etwa für beratende Virologen und entscheidende Politiker bedeutet, tagtäglich ohne ausreichende Informationen weitreichende, das Leben aller Betroffenen verändernde Entscheidungen zu fällen, machen die beiden Verfasser ohne jede Überheblichkeit deutlich. Sie haben dieses kleine Reclam-Bändchen in wenigen Tagen Anfang April niedergeschrieben, und liefern ein Lehrstück für den Umgang mit allgemein zugänglichen Nachrichten. Sie liefern sich den Tagesaktualitäten nicht aus, sondern bleiben distanziert und überdies erstaunlich gut informiert. Bemerkenswert ist die Klarheit der Gedankenführung und der Argumentation.
Die Verfasser nehmen die Covid-19-Krise zum Ausgang des Versuchs, Wahrnehmungen, Beurteilungen und Handlungen zu rekonstruieren. Sie kritisieren die Handelnden, machen ihre Entscheidungsdilemmata deutlich und befördern die Bereitschaft, trotz ungesicherter Informationen Entscheidungen zu fällen. So liefern sie nicht nur ein exzellentes Beispiel für die Möglichkeiten reflektierten Nachdenkens (und machen zugleich Verschwörungstheorien den Garaus), sondern laden ein, trotz vieler Unsicherheiten Risiken einzugehen, auch wenn Freiheiten und Grundrechte eingeschränkt werden, der Alltag belastet und sogar an die Existenz mancher Selbständiger gerührt wird. Mukerji und Mannino gerieren sich nicht als Meinungsmacher, sondern begründen Zweifel, Einwände und Nachfragen. Wenn viele der ursprünglichen Pandemie-Vorschriften bereits wenige Tage später revidiert werden mussten, spiegelt sich darin vor allem die Bereitschaft zu Korrektur und Reflexion und die Bereitschaft, den wissenschaftlich ermittelten Kenntnisstand umzusetzen.
Dies ist kein Buch für Besserwisser, sondern für Neugierige, für selbstkritische Leser, die das Denken anderer nachvollziehen können und wollen. Es ist ein Musterbeispiel für verständliche Wissenschaftskommunikation und schon jetzt eines der wichtigsten Bücher zur Corona-Krise. So macht Philosophie Freude. Ein schmales, aber ein großartiges Buch, das nicht zuletzt in die Hände der der Hobby-Virologen gehört, an denen unser Land so reich scheint.
Peter Steinbach
Wissenschaftlicher Leiter Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Covid 19: Was in der Krise zählt - Über Philosophie in Echtzeit
Nikil Mukerji und Adriano Mannino
Reclam-Verlag, 120 S., 6 Euro