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Titelthema

Zu abhängig, zu verletzlich

Titelthema - Zu abhängig, zu verletzlich
Massenhaft Masken: Produktionsstätte in der chinesischen Stadt Handan © Getty Images Str, Richard Bord

Die Globalisierung steckt in der Krise, wieder einmal. Neu ist, dass sich Kritik im kosmopolitischen Milieu in der Mitte der Gesellschaft regt.

Ulrich Menzel01.06.2020

Globalisierung ist, kurz gesagt, die Kompression von Raum und Zeit. Die Zweifel an ihrem Segen wachsen. Kritik wurde schon seit Langem von prinzipiellen Gegnern wie Attac aus dem linken Spektrum geäußert, die Globalisierung gleichsetzen mit Ausbreitung des Kapitalismus. Später hinzu kam die Kritik aus dem populistischen Milieu, die sich an Migration und „kultureller Überfremdung“ entzündete. Neu ist, dass die Kritik sich auch im kosmopolitischen Milieu in der Mitte der Gesellschaft regt, die Klimawandel und Umweltbelastung auf die Globalisierung zurückführen.

Ihr eigentlicher Prophet war David Ricardo mit seinem Theorem der komparativen Kosten (1817), mit dem er begründete, warum internationale Arbeitsteilung unter Freihandelsbedingungen aufgrund der Kostenersparnis von Vorteil ist für alle. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das ricardianische Denken hegemonial und bestimmte das Handeln der Politik. Über eine Serie von bilateralen Verträgen, die über die Meistbegünstigungsklausel miteinander verknüpft waren, setzte Großbritannien das Prinzip des Freihandels durch. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs hatte die Globalisierung dank Eisenbahn und Dampfschiff ein Niveau erreicht, das in der relativen Bedeutung der heutigen nahekam. In der Weltwirtschaftskrise fehlte Großbritannien die Kraft, weiter die liberale Weltordnung zu garantieren, waren die USA noch nicht bereit, ihren Isolationismus aufzugeben.

Das änderte sich erst 1944 mit der Bretton-Woods-Konferenz, als die USA die Führung übernahmen und mit der Gründung von IMF, Weltbank und WTO einen Ordnungsrahmen setzten, der die Rückkehr des ricardianischen Denkens beförderte. Der Neoliberalismus wurde im Westen hegemonial und breitete sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion über die ganze Welt aus. Die neuen Zauberworte hießen Deregulierung, Privatisierung und Outsourcing von Fertigung in „Billiglohnländer“, um Kosten zu sparen. Die schwindende Handlungsmächtigkeit der Nationalstaaten sollte kompensiert werden durch das Zauberwort Global Governance. Innenpolitisches Pendant war die Entstehung eines kosmopolitischen Milieus der Besserverdienenden und Gebildeten, Fremdsprachenkundigen und Weitgereisten, der Befürworter und Nutznießer der Globalisierung.

Fünf Krisen der Globalisierung

Auch der kleine Mann lernte die Vorteile zu schätzen: billige Textilien und Unterhaltungselektronik aus Asien, exotische Früchte das ganze Jahr, All-inclusive-Cluburlaub in den Tropen, Fußballer aus der ganzen Welt, um den Heimatverein fit zu machen für die Champions League, Arbeitsmigranten für die körperlich schwere und schlecht bezahlte Arbeit daheim. Allerdings – seit den 1980er Jahren regte sich erste Skepsis, als sich herausstellte, dass man Gewinner und Verlierer der Globalisierung zugleich sein kann, wenn der Preis für billige Konsumgüter aus Asien der Verlust des eigenen Arbeitsplatzes ist.

Bis heute lassen sich fünf Krisen der Globalisierung identifizieren, die in immer dichterer Abfolge auch den Globalisierungsdiskurs infrage stellen. Die nachholende Industrialisierung in Asien, erst in Japan, dann in den Schwellenländern und zuletzt in China, haben zu der Erkenntnis geführt, dass die neue internationale Arbeitsteilung womöglich ein Nullsummenspiel ist. Die Industrialisierung im Osten wird erkauft durch die Deindustrialisierung im Westen. Wenn China zur Werkbank der Welt und Indien zum Callcenter der Welt geworden sind, dann bleibt nicht mehr viel, um komparative Kostenvorteile wahrzunehmen. Nicht jede Näherin, nicht jeder Bandarbeiter kann zum IT-Spezialisten umgeschult werden.

Die zweite Krise wurde 2008 in den USA ausgelöst durch die Lehman-Pleite, die sich zu einer globalen Finanzkrise ausweitete und manche Staaten an den Rand des Bankrotts führte. Nur eine konzertierte massive Staatsintervention, und nicht die Kräfte des Marktes, konnte das Schlimmste abwenden. Zumindest die Globalisierung der Finanzmärkte war desavouiert, weil nicht nur die großen Jongleure, euphemistisch Investmentbanker genannt, betroffen waren, sondern auch der Mittelstand, der sein Erspartes in Erwartung immer höherer Zinsen dubiosen Finanzberatern anvertraut hatte und am Ende sogar den Ertrag seiner Lebensversicherung dahinschmelzen sah. Angesichts der Null-Zins-Politik zur Sanierung maroder Staatshaushalte wanderte das Kapital auf der Suche nach neuen Renditen in den Immobiliensektor mit der Folge exorbitanter Steigerung der Preise und Mieten, unter denen die kleinen Leute besonders zu leiden haben.

Die dritte Krise wurde ausgelöst durch die neue Völkerwanderung, die 2015 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte. Im Lichte der neoliberalen Theorie ist Migration gut, da sie Arbeitsmärkte ins Gleichgewicht bringt. Im Einwanderungsland wirkt sie kostendämpfend und bedient den demografisch bedingten Rückgang auf der Angebotsseite, im Auswanderungsland reduziert sie die Arbeitslosigkeit und wirkt lohnsteigernd. Deshalb sind Unternehmensverbände für Einwanderung. Diese ist aber nicht nur eine Reaktion auf Arbeitsmärkte, sondern auf viele Push- und Pull-Faktoren wie Krieg und Bürgerkrieg, politische, religiöse und ethnische Verfolgung, Dürre, Perspektivlosigkeit und unrealistische Vorstellungen über die Aufnahmebedingungen in den Zielländern. Während die Finanzkrise eher die Wohlhabenden an der Globalisierung zweifeln ließ, war jetzt das untere Segment der Gesellschaft betroffen, musste doch in den sozialen Brennpunkten und nicht in den gutbürgerlichen Vierteln die eigentliche Integrationsarbeit geleistet werden. Das Jahr 2015 war das Jahr, in dem das populistische Milieu in den Chor der Globalisierungskritik einstimmte.

Der Wahnsinn der Fleischproduktion

Das Jahr 2019 offenbarte eine weitere Front. Dank „Fridays for Future“ und deren medialer Unterstützung angesichts von zwei Dürresommern, Waldbränden, Starkregen, Überschwemmungen und Wirbelstürmen kam auch die breite Öffentlichkeit nicht mehr an der Erkenntnis vorbei, dass es den Klimawandel gibt, dass er durch die CO2-Emissionen ausgelöst wird und dass dafür die Globalisierung verantwortlich ist. Man denke nur an die Emissionen der mit Schweröl befeuerten Kreuzfahrtschiffe, der Flugzeuge für den Massentourismus und der Container-Schiffe und der daran hängenden Lkw-Geleitzüge quer durch Europa, um „just in time“ ein Lenkrad in Wolfsburg zu montieren, das in Mexiko gefertigt wurde. Die Waldbrände im brasilianischen Urwald brachten den Irrsinn auf den Punkt. Brandrodung ist die billigste Methode, Ackerland zu schaffen zum Anbau von Soja, das als Futter für die hiesige Massentierhaltung benötigt wird, weil die heimischen Futterflächen nicht ausreichen. Die Schweine werden von rumänischen Wanderarbeitern, die in Containern wohnen, maschinell in den Schlachthöfen zerlegt, um die Kühllaster und Kühlschiffe zu bestücken für den Schweinefleischexport nach China. Globalisierungskritisch mobilisiert wurde das bildungsbürgerlich-kosmopolitische Milieu, das der Globalisierung positiv gegenüberstand. Die Kritik an Kreuzfahrten, Inlandsflügen (Flugscham) und SUVs, der neue Trend, lokale Produkte im Hofladen zu kaufen, mit dem Fahrrad zu fahren und Urlaub zu machen im eigenen Land, sind praktizierte Kritik an der Globalisierung.

Die fünfte und bislang letzte Krise wurde ausgelöst durch Corona. Weil diese so fundamental ist und alle Lebens- und Arbeitsbereiche erfasst, hat sie einen regelrechten Paradigmenwechsel ausgelöst in der Mitte der Gesellschaft. Die Corona-Krise hat offenbart, in welche Abhängigkeiten und Verletzlichkeiten wir dank der Lieferketten geraten sind. Das wurde manifest, als sich offenbarte, dass China (wahrscheinlich) nicht nur der Ursprung des Virus ist, sondern auch das Monopol besitzt auf die Fertigung von Gesichtsmasken, Schutzanzügen und medizinischem Gerät, sogar auf die Produktion von Wirkstoffen, die in der hiesigen Pharmaindustrie verarbeitet werden. Werkstilllegungen sind nicht nur das Resultat von Vorbeugung, sondern auch ausbleibender Komponenten aus Übersee. Umfang und Dauer des Einbruchs, wie viele Betriebe und welche Branchen vor dem Ruin stehen, sind noch gar nicht absehbar.

Wer nimmt die Führungsrolle ein?

Damit verkehrt sich die skizzierte Argumentation. Der neoliberale Globalisierungsdiskurs wird von einem globalisierungskritischen Diskurs überlagert, dem auch die Politik Tribut zollt. Im Zentrum der Kritik stehen nicht nur hierzulande die Lieferketten und daraus resultierende Abhängigkeiten. Mindestens im Gesundheitssektor, womöglich auch bei Nahrungsmitteln und Hygieneartikeln wird es Auflagen geben, ausgelagerte Fertigung zurückzuholen. Auch wenn das nur kleine Schritte sind, so werden doch andere Länder folgen.

Wie immer ist entscheidend, wie sich die USA verhalten. Trotz aller erratischen Wendungen folgt Trump einer Logik. Die USA stehen vor dem Dilemma zwischen Positions- und Statusverlust. Bleiben sie Garant einer liberalen Weltordnung, verlieren sie die Position der führenden Wirtschaftsmacht als Folge des chinesischen Wettbewerbs. Wenn sie protektionistisch reagieren, gar einen weiteren Handelskrieg mit China anzetteln, verlieren sie den Status als liberale Führungsmacht. Trump hat sich entschieden für „America first“ in der Hoffnung, es mit Protektionismus und Isolationismus wieder groß machen zu können. Wegen der Größe des amerikanischen Marktes ist das faktisch ein großer Schritt Richtung Deglobalisierung. Obwohl China wegen Corona in der Defensive ist, könnte es als Gewinner aus dem Konflikt hervorgehen, der zugleich ein Hegemonialkonflikt um die künftige Führungsrolle in der Welt ist. China präsentiert sich mit seinen Maskenlieferungen als Wohltäter für diejenigen Länder, für die in Trumps Welt kein Platz mehr ist. Wenn aber China für Global Governance zuständig würde, bekäme die Globalisierung einen bürokratisch und autoritär orchestrierten Akzent, der nicht der uns so lieb gewordenen liberalen Weltordnung entspricht.

Ulrich Menzel
Prof. Dr. Ulrich Menzel war bis 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen und Vergleichende Regierungslehre am Institut für Sozialwissenschaften der Technischen Universität Braunschweig. Zuletzt
erschien „Die Ordnung der Welt“ (Suhrkamp 2015). ulrich-menzel.de