Obwohl der Bedarf nach Weltordnung wächst, schwindet die Fähigkeit, diesen Bedarf zu bedienen. Über die Ursachen und Folgen der gegenwärtigen Entwicklung
Die Welt driftet auseinander und wird unregierbar. Die Stichworte dieses seit Jahren zu konstatierenden Trends lauten: Krieg in der Ukraine, Griechenland-Krise, Krieg und Staatszerfall in Irak und Syrien, Ausbreitung terroristischer Organisationen und des organisierten Verbrechens, neue Völkerwanderung, Restauration des sowjetischen Raums, Rückkehr des Rüstungswettlaufs, Krise der EU, „Brexit“, Trump.
Überforderte Institutionen
Ein Problem verdrängt das andere, ohne dass nur eines gelöst ist. Es ist sicher, dass diese Themen in den nächsten Jahren weiter auf der Agenda stehen mit der Konsequenz, dass die bestehenden Institutionen überfordert und die USA nicht mehr bereit sind, allein die Lasten einer Ordnungsmacht zu tragen. Obwohl Europa mehr Verantwortung übernehmen müsste, wird sich der Trend zur Selbsthilfe statt des Vertrauens in die EU verstärken und Deutschland in die ungewollte Rolle des Euro-Hegemons drängen, will es deren Zusammenhalt bewahren.
Verantwortlich für das düstere Szenario sind langfristige Trends, die keinen linearen, sondern einen exponentiellen Verlauf nehmen, bis sogenannte Kipppunkte erreicht werden. An einem solchen Punkt können die ökologischen, sozialen, wirtschaftlichen, politischen und administrativen Systeme deren Folgen nicht mehr handhaben und kollabieren.
Eine wesentliche Ursache, dass die Welt einen Kipppunkt erreicht hat, ist paradoxerweise, dass in großen Teilen der Welt nachholende „Entwicklung“ stattfindet und in den alten Industrieländern unvermindert fortschreitet. Dies bedeutet Wirtschaftswachstum, bessere Ernährung und medizinische Versorgung mit der Konsequenz von Bevölkerungswachstum bei steigender Lebenserwartung und höherem Pro-Kopf-Einkommen. Im Laufe eines Lebens hat sich die Weltbevölkerung auf mehr als 7,5 Milliarden verdoppelt. Alles zusammen führt zu exponentiell steigendem Verbrauch von Böden, Rohstoffen, Energie, Wasser, Luft mit Konsequenzen für den Klimawandel, dem die ariden Gebiete besonders unterworfen sind. Daraus resultieren Verteilungskonflikte um knapper werdende Ressourcen und neue Formen des Kolonialismus.
Während der Bedarf nach Weltordnung wächst, schwindet die Fähigkeit, diesen Bedarf zu bedienen. Es gibt vier Modelle, wie mit der Anarchie der Staatenwelt angesichts des nicht vorhandenen Weltstaats umgegangen werden kann. Dem realistischen Denken entspricht das Selbsthilfeprinzip. Jeder Staat versucht so gut er kann, seine Interessen aus eigener Kraft wahrzunehmen. Für mächtige Staaten ist dies eher möglich als für schwache, zumal sie immer die Option des Isolationismus besitzen. Dem idealistischen Denken entspricht die Kooperation der Staaten durch Verträge, internationale Organisationen, das Völkerrecht und normengeleitetes Handeln, das auf gemeinsamen Werten beruht. Das Recht ersetzt die Macht.
Wenn man die Hierarchie der Staatenwelt als wesentlicher ansieht, weil die Staaten in nahezu jeder Hinsicht ungleich sind, bieten sich das hegemoniale und das imperiale Modell an. Die großen Mächte sorgen stellvertretend für den Weltstaat für Ordnung. Der (benevolente) Hegemon stützt sich auf seine überragende Leistungsfähigkeit und die Akzeptanz der Gefolgschaft, weil er die Ordnung durch die Bereitstellung internationaler öffentlicher Güter garantiert, in deren Genuss die Gefolgschaft nahezu kostenlos gelangt. Die USA haben die Rolle des Hegemons nach 1945 über die westliche Welt und nach 1990 über die gesamte Welt eingenommen. Das Imperium nimmt seine Ordnungsfunktion über Herrschaft wahr, liefert nur Clubgüter für die Unterworfenen und stützt sich dabei auf deren Ressourcen. Die Sowjetunion gehörte zwischen 1945 und 1990 zu diesem Typ.
Öffentliche und private Güter
Damit konzentriert sich die Frage internationaler Ordnung darauf, wer, wie und in wessen Interesse internationale öffentliche Güter wie (militärische) Sicherheit und (wirtschaftliche) Stabilität bereitstellt. Öffentliche Güter sind durch die Kriterien Nichtausschließbarkeit und Nichtrivalität definiert. Die Bereitstellung erfolgt durch den Staat, der auch die Regeln ihrer Nutzung bestimmt. Fehlt die Nichtrivalität, spricht man von Allmendegütern (Fluss), die als freie Gaben der Natur offeriert werden, sehr wohl aber zur nachhaltigen Nutzung der Verregelung bedürfen. Sonst droht die Tragedy of the commons. Fehlt die Nichtausschließbarkeit, spricht man von Clubgütern (Pay-TV), für die ein „Verein“ zuständig ist. Fehlen beide Kriterien, handelt es sich um private Güter, für deren Verregelung der Markt zuständig ist.
Bei internationalen öffentlichen Gütern kommt als drittes Kriterium die Unentgeltlichkeit hinzu (GPS). Nur der Hegemon, bzw. dessen Steuerzahler kommen für die Bereitstellung auf, alle anderen sind Freerider. Internationale Clubgüter haben eine regionale Reichweite und gelten nur für die, die zum „Club“ des Imperiums gehören. Da sie zur Finanzierung herangezogen werden, sind sie auch keine Freerider. Am schwierigsten gestaltet sich die Verregelung der internationalen Allmendegüter (Hohe See, Luft, grenzüberschreitende Flusssysteme, Polargebiete). Dies erklärt, warum Umweltabkommen so wenig Erfolg zeigen.
Die bipolare Konstellation bis 1990 bedeutete, dass die USA internationale öffentliche Güter bereit gestellt haben und die Sowjetunion regionale Clubgüter für die Staaten des Warschauer Paktes. Auch Neutrale haben als Freerider unter dem Nuklearschirm der USA gestanden. Die unipolare Konstellation nach 1990 hat die Reichweite der von den USA bereitgestellten öffentlichen Güter ausgedehnt. Dazu gehörten u. a. die Garantie eines Welthandels- und Weltfinanzsystems mit dem US-Dollar als Weltgeld und den USA als letztem Kreditgeber, die Sicherung der Tankerrouten zum Persischen Golf, die Offerierung eines globalen Kommunikations-, Informations- und Orientierungssystems durch Internet und GPS. Seit den Anschlägen des 11. September 2001 war die Rolle des Weltpolizisten hinzu gekommen, der mit seinen Drohnen und Geheimdiensten den War on Terror führt.
Mit Antritt der Obama-Administration mehrten sich die Indikatoren (Doppeldefizit von Haushalt und Handel), dass die USA nicht mehr in der Lage und bereit sind, allein die Rolle des Hegemons zu spielen. Es liegt daran, dass ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit durch den Verdrängungswettbewerb der neuen Industrieländer in Asien, allen voran China und Indien, geschwächt wird und dass die Nachfrage nach internationalen öffentlichen Gütern weiter wächst. Aus dem Dilemma zwischen Status- und Positionsverlust resultierte die Forderung nach Lastenteilung, die sich an die Freerider richtet. Für ein Land von der Größe der USA besteht auch die Alternative des Isolationismus.
Aus dem „Battleship USA“ würde die „Fortress USA“, aus „Amerika as No. 1“ „Amerika first“. Trump bevorzugt diese Alternative, ist bereit, die Position der Führungsmacht zu opfern, um den Status der Industriemacht zu behaupten.
Hegemon im Wartestand
China, dessen Sozialprodukt etwa im Jahre 2030 das amerikanische übertreffen wird, wäre der erste Kandidat für Lastenteilung. Da China aber anders als Japan, das in den 1980er Jahren als der wirtschaftliche Herausforderer galt, kein Juniorpartner ist, sondern eigene Ambitionen hegt, verweigert es auf allen Feldern eine Lastenteilung, die nicht in chinesischem Interesse liegen. Chinas Aktivitäten konzentrieren sich auf Zentralasien („Neue Seidenstraße“), den asymmetrischen Handel mit Russland, Subsahara-Afrika, das Rote Meer und den Persischen Golf. Dazu investiert es in die Rohstoffsektoren vieler Länder, betreibt Auswanderung, um deren Binnenwirtschaft zu durchdringen, unterhält Beziehungen zu sogenannten Schurkenstaaten, die unter dem Druck des Westens stehen, wird aktiv in internationalen Organisationen ohne Beteiligung der USA und forciert eine Rüstung, die nicht der Landesverteidigung dient, sondern die Seerouten in das Becken des Indischen Ozeans sichern soll. Die Redeweise vom peaceful rise hat nur legitimatorischen Charakter. Das chinesische Modell, das wirtschaftliche Erfolge mit einem autoritären politischen System verbindet, ist attraktiv für afrikanische und asiatische Despoten. Theoretisch ausgedrückt ist China zwar bereit, Clubgüter für solche Staaten zu liefern, die zu seinem Interessenbereich gehören, versteht sich aber global unter Verweis, dass man immer noch Entwicklungsland sei, als Freerider der USA.
Ganz anders Russland. Nach Überwindung der Transformationskrise der Jelzin-Ära verfolgt es eine revisionistische Politik der Rückgewinnung ehemaligen sowjetischen Einflusses. Dazu werden politische (Konfrontation in der UNO), wirtschaftliche (Konditionierung bei Gas- und Ölexporten) militärische (Krim, Ukraine, Syrien) und sogar religiöse Strategien (Kooperation mit den Schiiten) eingesetzt. Sein Engagement ist nicht Lastenteilung mit den USA, sondern die Reduktion der US-Hegemonie. In Syrien wird nicht der IS bekämpft, sondern das Assad-Regime gestützt, um einen alevitischen Reststaat an der Küste zu behaupten, der einen Marinestützpunkt im Mittelmeer (wie auf der Krim) garantiert. Damit verschärft Russland eine komplexe Gemengelage von Konflikten, die separate Wurzeln haben.
Eine Wurzel ist das alte Schisma des Islam zwischen Sunniten und Schiiten, das sich heute im Konflikt zwischen Saudi-Arabien und dem Iran offenbart, deren eigentliche Machtressource neben der Ideologie der Energiereichtum ist. In allen arabischen Ländern, die religiös gespalten sind, unterstützt der Iran die Schiiten, besonders die „schiitische Achse“ über den Süden des Irak, die Aleviten Syriens bis zur Hisbollah im Libanon, während die Saudis im Verbund mit den anderen Ölstaaten die Sunniten stärken. Die Türkei spielt wegen der Kurden ein realistisches Spiel nach dem Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“.
Konfliktwurzeln
Die zweite Wurzel ist der alte Konflikt zwischen Christentum und Islam. Dessen Grenze verläuft durch das Mittelmeer und quer durch Subsahara-Afrika. Er manifestiert sich in innerstaatlichen Konflikten (z. B. Nigeria) wie im globalen Terrorismus, der seine Kämpfer weltweit rekrutiert. Der Versuch der Bush-Administration, nach „9/11“ den Terrorismus militärisch zu bekämpfen und gleichzeitig den gesamten Nahen und Mittleren Osten in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft zu transformieren, ist gescheitert. Zwar schien der „Arabische Frühling“ der Strategie für kurze Zeit Recht zu geben, doch führte der Sturz der autoritären Regime stattdessen zu Re-Islamisierung, Staatszerfall, substaatlichen Kriegen und massenhafter Flucht, die die noch stabilen Staaten der Region unter Druck setzt.
Damit sind wir bei der dritten Wurzel, dem Zerfall vieler postkolonialer Staaten, die nur auf dem Papier bzw. in der Hauptstadt bestanden haben und nur die staatliche Symbolik inszenierten, ohne öffentliche Güter bereit zu stellen. Hier hat der Ost-West-Konflikt stabilisierend gewirkt, weil beide Seiten ihre Klientel mit Waffen, Ausbildern, Entwicklungs- und Finanzhilfe unterstützt haben. Nach 1990 ist die östliche Unterstützung weggefallen und die westliche reduziert bzw. mit politischen Auflagen versehen worden. In dieses Vakuum ist China vorgestoßen und Russland gefolgt.
Die vierte Wurzel ist die Transformation des Terrorismus zum quasistaatlichen Akteur. Al Quaida war der Prototyp eines weltweit operierenden Netzwerkes, das lediglich Rückzugsräume und Ausbildungslager benötigte. Die neue Generation baut staatliche Strukturen auf, in denen sie im wahrsten Sinne des Wortes das Gewaltmonopol behauptet. Nicht nur der Westen, die gesamte Welt soll mit einem alternativen Gesellschaftsmodell konfrontiert werden, attraktiv für die Unterprivilegierten und Perspektivlosen weltweit mit islamischen Wurzeln.
Push- und Pull-Faktoren
Eine Befriedung des Europa umgebenden Krisengürtels ist vorerst nicht zu erwarten. Eher wird sich die Krisenregion nach Subsahara-Afrika und auf die armen Teile der Arabischen Halbinsel ausweiten. Europa sollte eigentlich, weil die USA zögern, China passiv bleibt und Russland eine revisionistische Politik betreibt, gezwungen sein, mehr für Sicherheit und Stabilität an seiner Peripherie zu sorgen, wie eine große Macht zu handeln – wenn es nicht selber dabei wäre, auseinanderzudriften. Beim Thema Migration wird das besonders deutlich.
Dabei ist zu berücksichtigen ist, dass diese immer durch Push- und Pull-Faktoren bestimmt wird. Erstere liefern die Gründe, warum Menschen ihre Heimat verlassen. Dazu gehören Krieg, Staatszerfall, Verfolgung, Naturkatastrophen, Klimawandel, Armut, Perspektivlosigkeit. Letztere sind ausschlaggebend, welche Zielgebiete sie anstreben. Dazu gehören deren Wohlstand, politische Stabilität, Beschäftigungsmöglichkeiten, Akzeptanz im Sinne von Willkommenskultur, ob bereits Verwandte oder Bekannte vor Ort sind. Eine verstärkende Rolle spielen die Medien, die ein Bild vorgaukeln, das nicht der Realität entspricht. Entscheidend für die Erwartung ist nicht das, was ist, sondern wie es wahrgenommen wird. Relevant sind ferner die Randbedingungen. Ist es attraktiv, in den Flüchtlingslagern Jordaniens für ungewisse Zeit auszuharren? Lassen die Türkei oder Libyen Flüchtlinge passieren? Gibt es Schleusernetzwerke, die den Transport organisieren? Wie hoch ist der Preis und um wie viel steigt er, wenn gegen die Schleuser vorgegangen wird?
Deshalb sind die Mitglieder der EU nicht gleichermaßen betroffen, funktioniert die Umverteilung nicht. Die Strategie, die Ursachen der Migration zu bekämpfen, ist nur im Prinzip richtig, kann jedoch nur langfristig Wirkung zeigen. Sie setzt voraus, das Entwicklungsgefälle zwischen Ost- und Westeuropa zu schließen, die Ursachen des Staatszerfalls zu beseitigen, das religiöse Schisma zu überwinden, den Klimawandel zu bremsen etc. 60 Jahre Entwicklungszusammenarbeit haben das genauso wenig geschafft wie militärische Interventionen, ob humanitär oder sicherheitspolitisch begründet. Erwartbar ist, dass noch mehr Länder den Kipppunkt erreichen.
Deshalb reagiert Europa kurzfristig. Wenn man die Push-Faktoren kaum beeinflussen kann, setzt man bei den Pull-Faktoren an. Eine gesamteuropäische Strategie außer der, auf Abschottung zu setzen, ist aufgrund der heterogenen Betroffenheit wenig wahrscheinlich, zumal das Projekt EU insgesamt in die Krise geraten ist. Lediglich die Furcht vor der Restauration Russlands hält die Exit-Kandidaten in Osteuropa bei der Stange.
Das Ende der alten Ordnung
Seit Theresa May den harten „Brexit“ verspricht und der irrlichternde Trump die Macht im Weißen Haus übernommen hat, ist es noch schwieriger, die Welt zusammenzuhalten. Das Beispiel Großbritanniens macht Schule unter Europas Populisten. Marine Le Pen hat den Austritt im Falle ihres Wahlsiegs angekündigt. Wenn Frankreich die EU verlässt, ist Europa am Ende. Trump ist noch viel gefährlicher für den Zusammenhalt. Wenn er tatsächlich den angekündigten isolationistischen Kurs realisiert, die internationalen Abkommen und Organisationen aufkündigt, die die USA nach 1945 selber ins Leben gerufen haben, dann gibt es niemanden, der die internationalen Güter bereitstellt, der die Welt zusammenhält. Wenn er die westliche Wertegemeinschaft infrage stellt, verlieren die USA ihre Soft power, die eine Hegemonialmacht auszeichnet.
An die Stelle der idealistischen Idee, dass durch Kooperation alle gewinnen können, tritt das realistische Selbsthilfeprinzip, das die Weltpolitik als Nullsummenspiel begreift. Was der eine gewinnt, muss der andere verlieren. Insofern erleben wir jetzt das Ende der Nachkriegsordnung. Der Umbruch der Jahre 1989/90 war gar nicht so fundamental, weil er „nur“ zur Ausdehnung der liberalen amerikanischen Weltordnung auf Kosten des sowjetischen Imperiums führte. Der Kandidat, künftig eine neue Ordnung zu errichten, ist China. Doch wird diese sich nicht an den Kriterien der westlichen Wertegemeinschaft orientieren.
Prof. Dr. Ulrich Menzel war bis 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen und Vergleichende Regierungslehre am Institut für Sozialwissenschaften der Technischen Universität Braunschweig. Zuletzt
erschien „Die Ordnung der Welt“ (Suhrkamp 2015).
ulrich-menzel.de
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