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Titelthema

Was ist Glück?

Über ein wichtiges Grundbedürfnis in unserem Leben – und eine Sache, die noch wichtiger für uns ist

Wilhelm Schmid 01.01.2018

Die Frage nach dem Glück beschäftigt viele Menschen. Was aber ist das Glück? Zuallererst ist es, wie so vieles, nichts als ein Begriff. Und speziell mit dem Begriff „Glück“ kann ganz Verschiedenes gemeint sein; es gibt keine verbindliche, einheitli­che Definition. Was darunter zu verstehen ist, legt letztlich das jeweilige Individuum für sich selbst fest.

Die Philosophie kann lediglich Hilfestellung bieten, die etwa in einer Auseinan­derlegung des Begriffs besteht, fern da­von, eine bestimmte Bedeutung zur ein­zig möglichen zu erklären. Dies erlaubt die je eigene Klärung, um die Frage zu beantwor­ten: Was bedeutet Glück für mich? Darauf kommt es letztlich an. Beim genaueren Hinsehen zeigt sich, dass drei Arten des Glücks und zwei weitere Aspekte im Spiel sind, und es könnte sinnvoll sein, sie aus­einanderzuhalten:

Das Zufallsglück
Das deutsche Wort „Glück“ rührt vom alt­hochdeutschen gelücke her und hat viel mit dem Schicksal zu tun, das so oder auch anders ausfallen kann. Die Zufälligkeit dieses Glücks prägt den Begriff im Deutschen bis heute. Menschen brauchen sehr viel von diesem Glück, können es jedoch nicht machen. Wesentlich an diesem Glück ist seine Unverfügbarkeit. Verfügbar ist le­diglich die Haltung, die der Einzelne dem Schicksal und Zufall gegebenüber einnimmt: Er/sie kann sich verschließen oder offen dafür sein.

Die Offenheit scheint das Zufallsglück zu beflügeln: Es macht gerne dort Station, wo es sich gut aufgehoben fühlt und nicht noch Vorwürfe zu hören bekommt, dass es jetzt nicht passt. Nicht wirklich geklärt werden kann, ob eine ordnende Hand dahintersteckt und ob es so kommt, wie es eben kommen muss. Und Achtung: Wer glaubt, mit einem günstigen Zufall sei alles schon gelaufen, kann sich böse irren. Es kommt darauf an, etwas daraus zu machen.

Das Wohlfühlglück
In moderner Zeit wird der Begriff des Glücks zusehends stärker vom Positiven bestimmt, vom Angenehmen, von Lüsten, von guten Empfindungen, vom Wohlfühlen. Das Wohlfühlglück ist schön, jedem ist so viel wie möglich davon zu gönnen. Es hält glückliche Augenblicke bereit, für die ein Mensch sich nicht nur offen halten, die er vielmehr auch selbst präparieren kann. Für dieses Glück kann jeder wirklich viel tun: Die Situationen suchen, um derent­willen das Leben sich lohnt und die sich nahezu jeden Tag finden lassen. Wichtig dafür ist nur zu wissen, was einem selbst und Anderen gut tut, um sich dann darum zu kümmern: eine Tasse Kaffee, ein Gespräch, ein Kinobesuch …

Es käme aber darauf an, nicht das gesamte Leben damit zu verwechseln, um dann bitter enttäuscht zu sein, wenn nicht alles jederzeit lustvoll ist. Vor allem in der Liebe ist das ein großes Problem: immer nur glücklich sein zu wollen mit dem Anderen. Das Leben kann nicht ständig nur aus Wohlgefühl bestehen. Und auch nicht nur aus Zufriedenheit.

Viele Menschen stellen sich unter Glück eine immerwährende Zufriedenheit vor. Aber große Leistungen der Menschheit gingen oft nicht aus Zufriedenheit hervor, warum wollen wir uns die Motivationsquelle der Unzufriedenheit versagen? Auch sie ist ein Kulturgut, also: Bitte nicht im­mer nur zufrieden sein! Das führt nur dazu einzuschlafen, in der Beziehung und auch im Beruf. Das eigentliche Glück ist sowieso noch ein anderes.

Das Glück der Fülle
Es ist das philosophische Glück, nicht ab­hängig von bloßen Zufällen und momentanen Gefühlen, vielmehr eine Balance in aller Gegensätzlichkeit des Lebens, nicht unbedingt im jeweiligen Augenblick, son­dern durch das ganze Leben hindurch.

Wie ist dieses Glück der Fülle zu er­reichen? Es liegt völlig in der Hand des Menschen selbst, es ist eine Frage seiner bewussten Haltung zum Leben, ein Einverstandensein mit dem Leben in all seiner Gegensätzlichkeit: Leben ist nicht nur Gelingen, sondern auch Misslingen; nicht nur Er­folg, auch Misserfolg; nicht nur Lust, auch Schmerz; nicht nur Zufriedenheit, auch Unzufriedenheit; nicht nur Tun, auch Lassen.

In Heiterkeit und Gelassenheit kommt dieses Glück am besten zum Ausdruck – eine Art von Grundstimmung, die das Leben auch dann trägt, wenn es schwierig wird. Keine der genannten Ebenen – Zu­falls­ebene, Gefühlsebene, geistige Ebene – ist verzichtbar, aber das dritte Glück vor allem gilt es wieder zu entdecken. Es ist das einzige, das bleibt. Es kann auch das Unglücklichsein umfassen.

Das Unglücklichsein
Die Gefahr der verbreiteten Rede vom Glück ist, dass unglückliche Menschen sich vom Leben ausgeschlossen fühlen. Aber auch das Unglücklichsein gehört zum Leben, zumindest zeitweise, für manche Menschen auch dauerhaft. Von alters her gibt es dafür den Namen Melancholie, wenn die Seele schmerzt und sich ängstigt, ohne dass dies in irgendeiner Weise als krankhaft gelten könnte.

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© Carmen Spitznagel/Plainpicture

Es gibt regelrechte Zeiten der Melancho­lie, etwa im Herbst angesichts fallender Blätter, im Winter bei ausbleibender Sonne, in der Quarterlifecrisis, Midlifecrisis und späteren Krisen bei der Erinnerung an verlorene Kindheitstage. Auch bei einem Burnout und auch, wenn Menschen nicht gewinnen, was sie sich erhofften. Tiefe Ein­schnitte ins Leben sind mit Schmerzen verbunden, die nicht mehr so ohne Weite­res zu lindern sind. Und sogar dann, wenn ein sehnlicher Wunsch in Erfüllung geht, kann eine unerwartete Leere sich auftun: Lange war es die Orientierung auf ein Ziel hin, die dem Leben Sinn gegeben hat, aber sie fällt nun ersatzlos weg – eine Gefahr, die viele unterschätzen.

Für viele moderne Menschen ist zu einem Unglück geworden, was eigentlich immer schon ein Teil des Menschseins war: depressiv, bedrückt, niedergedrückt zu sein, gelegentlich oder länger anhaltend. Viele, die sich für depressiv halten und oft genug so diagnostiziert werden, sind eigentlich melancholisch. Sie leiden, wie dies im alltäglichen Sprachgebrauch genannt wird, an Depressionen (Plural). Etwas anderes ist die Krankheit der Depres­sion (Singular), die im Unterschied zu den bewegten Gefühlen und Gedanken der Melancholie von erstarrten Gefühlen und Unfähigkeit zur Reflexion gekennzeichnet ist. Da der Betroffene aus dem engen Zirkel seiner Gedanken nicht mehr herausfindet und sich selbst nicht mehr helfen kann, ist er angewiesen auf Menschen, die Verantwortung für ihn übernehmen, auf Angehö­rige und Freunde, die ihn jetzt nicht verlassen, Therapeuten, die ihn betreuen.

Dass von der Diagnose Depression auch für die Melancholie inflationärer Gebrauch gemacht wird, treibt die Zahl der Kranken in absurde Höhen. Das ist gut für die öffent­liche Wahrnehmung der Krankheit, nicht aber für den angemessenen Umgang mit dem Einzelnen, der in der Melancholie, bei Depressionen, nicht so sehr Medikamente, sondern Gesprächspartner braucht, die ihn nicht damit malträtieren, dass er glücklich sein solle.

Am deutlichsten wird es in den Beziehungen zwischen Menschen: Sind Eltern ohne Unterlass glücklich mit ihren Kindern, auch in Zeiten der Pubertät? Empfinden Liebende ständig Glück im Leben mit dem Partner, Tag für Tag, Nacht für Nacht? Die Antwort geben Erfahrungen. Und warum werden die Beziehungen nicht sofort beendet, wenn das Glück aussetzt?

Wichtiger als das Glück: Sinn
Weil es noch etwas Wichtigeres gibt als Glück: Der Sinn, der in einer Beziehung gesehen wird, macht es möglich, auch schwierige Zeiten auszuhalten und durchzustehen. Sinn verleiht Kräfte, Sinnlosigkeit entzieht sie. Ein volles Lebensgefühl, erfüllend bis in die letzte Pore, ist mit Sinn verbunden, eine völlige Leere mit dem Gegenteil. Wenn Menschen Sinn sehen, können sie vieles durchstehen und bewältigen, ohne Sinn kaum etwas. Ohne Sinn werden Kräfte zunichte und die Menschen brennen aus: Sinnlosigkeit ist ein Grund für Burnout. Die beste Burnout-Prophy­­la­xe ist dann – die Frage nach Sinn ernstzu­nehmen. Und die beste Therapie – an der Wiederherstellung von Sinn zu arbeiten. Aber wie?

Beziehungen „machen Sinn“, wenn sie gepflegt werden, erfahrbar in Begegnungen, die gesucht werden, in Gesprächen, die geführt werden. Jedes Gespräch knüpft einen Faden zwischen zwei Menschen und verkörpert Sinn schon durch sein bloßes Geschehen. Umso mehr jedoch die starke, gefühlte Bindung, die von herausgeho­be­ner Bedeutung für den jeweiligen Menschen ist und einen innigen Zusammenhang bewirkt: Menschen, die Liebe für­einander fühlen (auch wenn das Gefühl manchmal eine Pause macht), stellen sich die Frage nach dem Sinn nicht mehr – denn sie fühlen sich in dessen Besitz. Freunde, die sich einander zugehörig fühlen, schöpfen aus ihrer Beziehung den Sinn, der sie Widrigkeiten besser durchstehen lässt und ihr Leben bejahenswerter macht. Die Erfüllung, die es bedeuten kann, Kinder zu haben, mit allen positiven und negativen Seiten, geht aus der Erfahrung des unbedingten Zusammenhangs mit ihnen hervor, der für immer bestehen bleibt.

Auch Heimat ist eine Quelle von Sinn aufgrund der engen Bindung an einen Ort mit seinen tief verwurzelten, unverwechselbaren, vollkommen vertrauten Eigenarten. Jede Geselligkeit spendet Sinn durch das Gefühl des Dazugehörens. Jede Zusam­menarbeit erscheint sinnvoller als das sinn­lose Aneinandervorbeiarbeiten. Und jede Arbeit vermittelt eine starke Er­fahrung von Sinn, wenn sie für etwas gut ist und nicht nur für Geld geleistet wird. Ins­be­sondere ein Beruf macht Sinn aufgrund der hingebungsvollen Arbeit an einem Werk, der Bindung an eine spezifische Tätigkeit, die mehr ist als ein bloßer „Job“.

All diese Möglichkeiten stehen zur Ver­fügung, um das Leben mit Sinn zu erfüllen und unabhängiger davon zu werden, ob im Leben aktuell auch Glück erfahrbar ist oder nicht.

Wilhelm Schmid
Prof. Dr. Wilhelm Schmid lehrt als außerplanmäßiger Professor Philosophie an der Universität Erfurt. Zu seinen Büchern gehören u.a. „Das Leben verstehen“ (Suhrkamp Verlag, 2016) und „Selbstfreundschaft: Wie das Leben leichter wird“  (Insel Verlag, 2. Auflage, 2018). lebenskunstphilosophie.de