Gastbeitrag von Ekkart Zimmermann
Was tun mit Putin und nach Putin?
Tschto delat? Was tun? So fragte Lenin 1902 in seinem gleichnamigen Buch in der Diskussion über die mögliche revolutionäre Umwandlung des zaristischen Russlands.
Lenin empfahl die Kombination aus bürgerlicher umstürzlerischer Intelligenz und zu organisierender Arbeiterklasse, geführt in einer verschworenen Partei von Berufsrevolutionären, der „Avantgarde der Revolution“. Buchstäblich nichts davon ist in der Realität eingetreten – in der Diktatur einer totalitären Staatspartei, nicht der Herrschaft der Arbeiterklasse. Allerdings sind die Folgewirkungen dieser historischen Fehlsicht mit der Abfolge der russischen de facto Diktatoren bis hin zum „allmächtigen“ Gorbatschow bis heute zu spüren: Die doppelte Freiheit von offenem Marktzugang und demokratischer Wahl ist in Russland bis heute nicht erreicht, geschweige denn nachhaltig angestrebt.
Verkürzt seien einige historische Erfahrungen und erklärungskräftige Theorien zur Einschätzung der Lage ein paar Wochen nach Beginn des russischen Angriffkriegs auf die Ukraine, Europa, die Vereinigten Staaten und die freie Welt schlechthin erlaubt:
Erstens, selbst wenn Putin Kiew und die Zentralgewalt in der Ukraine erlangen wird, wird er sich bald einer Situation des Guerillakampfes in unvertrauten Städten und auf dem Lande gegenübersehen. Dieser erfordert nach allen historischen Erfahrungen von mehr als einhundert Jahren eine Überlegenheit der Repressionskräfte von mindestens 16:1. Der Zugriff auf die Herrschaft in einem überfallenen Lande ist nahezu der am wenigsten zu legitimierende politische Akt. Der dadurch ausgelösten Widerstandskraft und dem langfristigen Kampfeswillen der einheimischen Bevölkerung wird abnehmende Beharrungskraft und zunehmender Verschleiß der Besatzungsmächte nichts entgegensetzen können. Hinzu kommt die Unterstützung der gesamten freien Welt für die Ukraine, der Totalzusammenbruch der russischen Wirtschaft inklusive der eigenen Infrastruktur zum Export der verbliebenen Rohstoffe. Schon jetzt beträgt die Wirtschaftsleistung von Russland nur sieben Prozent derer der USA und noch weniger, wenn man die Wirtschaftskraft der Europäischen Union mitbedenkt. Pyrrhus lässt grüßen, ebenso Krösus, wenn man die Reichtümer aus der Aneignung der Bodenschätze durch eine engvernetzte Kamarilla sieht.
Zweitens bleibt somit nur der Weg in das absolute wirtschaftliche Elend, in relativer Betrachtung auch für die bisherigen Finanzeliten, die neben dem Geheimdienst, hohen Parteimitgliedern und Militärs das Selektorat in Russland darstellen. Darunter versteht man die Personen, die direkt über mögliche Kandidaten für die politische Führung mitentscheiden und bislang jedenfalls auch Wahlen, die Entscheidung durch das Wahlvolk, das Elektorat, mitbestimmt haben. Solange die politische und wirtschaftliche Lage, wenngleich auf niedrigem Niveau, stabil blieb, war die große Masse nicht für ein Verlassen dieses gesellschaftlichen Paktes zu gewinnen. Jetzt ändert sich die Lage dramatisch.
Drittens gibt es den Punkt, an dem die Mobilisierung der Unzufriedenen entscheidende Kraft gewinnt. Hintergrund ist das wirtschaftliche Elend, noch entscheidender aber angesichts der Duldungsfähigkeit des russischen Volkes und der nachhaltigen Durchdringung der Gesellschaft durch die Sicherheitskräfte das Umschlagen privater Kritik in öffentliche Kritik. Wie 1989 in Osteuropa verbreitet sich die Unzufriedenheit bei den Massen in geometrischem Fortschritt, auch bei den vom bisherigen Regime abfallenden Teilen der Elite. Dies geschieht in unerwartet hohem Ausmaß. Natürlich könnte wirtschaftliche Hilfe von außen und fanatische Repression gegen die Unzufriedenen das angegriffene Regime (vorübergehend) stärken. Russland selbst hat dies neben anderen Absichten im Syrien und Belarus vorgeführt. Doch könnte die einzig nennenswerte Hilfe in dieser Lage nur von der chinesischen Führung kommen, die sich aber auf die Auseinandersetzung mit den USA konzentriert und wenig Interesse an einem derart schwächelnden „Vasallen“ hätte.
Viertens deutet sich damit große Unzufriedenheit gegenüber dem und im Selektorat an. Hinzu kommen die russischen Opferzahlen und die unfassbare Lügenprogapanda, die die soldatischen Opfer und ihre Familien verhöhnt. Hier deuten sich die oben geschilderten explosionsartigen „emotionalen Kaskaden“ (Timur Kuran) an. Was kann damit auf Putin zukommen, sofern er Attentate aus den eigenen Reihen überlebt? Unwahrscheinlich ist der Fall, dass der verbliebene Staatsapparat Putin an den internationalen Gerichtshof übergibt. Auch ein ähnliches Urteil wegen Kriegsverbrechen oder gar die Hinrichtung im eigenen Land sind eher nicht für Putin zu erwarten. Zu stark sitzt der Schock der Liquidierung der russischen Führungsfiguren durch Stalin. Die Hinrichtung des Geheimdienstchefs Berija nach Stalins Tod war der letzte entsprechende Vorgang. Vermutlich wird man Putin politisch und wirtschaftlich stark beschneiden, gänzlich entmachten. Außer China und einigen in diesem Punkte eher exotischen Ländern etwa Lateinamerikas wird sich kein Land für ein Exil finden, auch nicht in Nahost. Ein Putin ohne Land und Geld ist ein Häufchen Elend, das zumindest einer härteren Bestrafung entgangen wäre.
Fünftens ist in der Frage der Nachfolge mit politischen und wirtschaftlichen Kämpfen unter den möglichen Nachfolgern und ihren Anhängern zu rechnen, bis hin zu einer neuen Form des russischen Bürgerkriegs. Ein Blick auf die Politik der Alliierten nach dem 2. Weltkrieg Japan und Deutschland gegenüber ist lehrreich. Man hat bei allen Härten die Bevölkerung im Wiederaufbau unterstützt, die Transformation in eine Demokratie mit funktionierenden Märkten und leistungsfähigen konkurrierenden Parteien erreicht. Das alles nach einer bedingungslosen Kapitulation der ehemals so angriffswütigen Kriegsgegner.
Hilfreiche Ressourcen einer Neubesinnung würden im großen Stile von außen kommen, allein um das völlige Abdriften Russlands nach China zu verhindern. Aber es gilt, viele hier nur gestreifte Unterschiede zu berücksichtigen, eine unnötige Demütigung weniger verantwortungsvoller politischer Führer oder der Bevölkerung insgesamt unter allen Umständen zu vermeiden.
Dem internationalen Handel werden seit David Ricardo komparative Kostenvorteile zugeschrieben. Alle Länder beziehen daraus Vorteile, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Güter statt Soldaten sollten die Grenzen passieren. Auch hier kommt Lenin wieder ins Spiel: Die Kapitalisten verkauften ihren Gegnern noch den Strick, an dem sie aufgehängt würden. So fest fixiert schien die geostrategische und geopolitische Lage Russlands und Europas. Nunmehr bedarf es grundsätzlicher Neuorientierung.
Ekkart Zimmermann
Professor em. für Makrosoziologie
Prof. Dr. em. Ekkart Zimmermann (RC Munich-International) lehrte bis 2011 Makrosoziologie an der TU Dresden.