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Titelthema

Wenn das Feuer erlischt

Titelthema - Wenn das Feuer erlischt
© Mario Wagner/2 Agenten

Das IOC will die Olympischen Spiele gegen den Willen der japanischen Bevölkerung durchziehen. Wahrscheinlich. Das birgt ein enormes Konfliktpotenzial.

Evi Simeoni01.06.2021

Wann genau schlug die Stimmung um? War es schon im Frühjahr 2020, als Thomas Bach und Shinzo Abe die Athleten in aller Welt eine schmerzhafte Ewigkeit lang hinhielten, bis sie sich endlich am 24. März auf eine Verschiebung der Olympischen Spiele in Tokio einigen konnten? War es kurz darauf, als Thomas Bach, der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), erklärte, die Spiele, die man auf Sommer 2021 verlegt hatte, würden der ganzen Welt in der finsteren Pandemie das Licht am Ende des Tunnels zeigen? Und das in einer Phase, als die Entwicklung eines Impfstoffs gegen das neue Coronavirus noch in weiter Ferne lag, als reichen und armen Ländern verheerende Krankheitswellen drohten und als es noch keinen Hoffnungsschimmer gab, dass die Menschheit die Pandemie überhaupt würde bannen können? Woher, so fragten sich vernünftige Leute, nahm Thomas Bach die Vermessenheit, zu behaupten, dass die Menschheit sich in einem Jahr als Sieger über Covid-19 würde wähnen können?


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Stellenwert des Spitzensports

Seit diesen Tagen hat sich das Bild der Olympischen Spiele in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem der westlichen Nationen dramatisch verschlechtert. In vielen Ländern, in vielen Echokammern, auch unter Sportlern und ihren Fans, wurde die Ansicht immer populärer, dass die Welt in diesen Zeiten wichtigere Probleme habe als die Austragung einer sportlichen Volksbelustigung. Beim Gedanken an die vielen Athleten, die ihre Olympiavorbereitung um ein Jahr verlängern mussten, vor denen plötzlich zwölf weitere Monate der Opfer, Schmerzen und harten Arbeit lagen, tat den wahren Sportfreunden zwar das Herz weh. Aber die Sportler, bis hierher die großen Vorbilder an Leistungsbereitschaft und Kampfkraft, konnten das verblassende olympische Image nicht mehr wie bisher aufwerten. Im Gegenteil: Olympia mit seinem in der Weltkrise immer dubioser scheinenden Selbstbild zog sie mit herunter.

Bestes Beispiel: Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, eines der reichsten Länder, im Weltvergleich bestens ausgestattet mit Impfstoffen diverser Hersteller, konnte sich erst Mitte April dazu durchringen, ihren Sportlern für Tokio eine vorzeitige Immunisierung gegen Covid-19 anzubieten. Und das, obwohl die Sportler mit dem Bundesadler auf der Brust in den internationalen Prestigewettbewerb geschickt werden. Und obwohl das Land pro Jahr Hunderte Millionen Euro für den Leistungssport ausgibt. Der Säbelfechter Max Hartung, oberster Sprecher der deutschen Athleten, forderte angesichts dieser Lage eine Diskussion über den Stellenwert des Leistungssports in diesem Land. Doch die brauchte es gar nicht mehr: Die Art und Weise, wie in den Bund-Länder-Runden mit Bundeskanzlerin Angela Merkel die Interessen des Sports ignoriert wurden – auch der gesundheitsfördernde Aspekt des Breitensports –, war Antwort genug.

Das Coronavirus wirkt auch hier, wie an vielen Stellen, an denen Selbsttäuschung und Wunschdenken vor der Pandemie den Blick hatten verschwimmen lassen, wie eine unbestechliche Lupe. Die Nationenwertung bei Sportveranstaltungen, die von Politikern jahrzehntelang als Maßstab der Leistungsfähigkeit von Ländern und Systemen gepusht wurde, entpuppte sich als das, was sie immer war: eine symbolträchtige Spielerei.

Am 10. Mai, etwa zehn Wochen vor dem Termin der Eröffnungsfeier, zeigte sich in aller Deutlichkeit, wie tief die Olympischen Spiele in der Wertschätzung der Gastgeber von 2021 gesunken sind. 2013 hatte Tokio kurz vor der Vergabe der Spiele bei der IOC-Vollversammlung in Buenos Aires noch mit dem Argument für sich geworben, dass 92 Prozent der japanischen Bevölkerung der Bewerbung zustimmten. Nun sagte Ministerpräsident Yoshihide Suga, der Nachfolger von Shinzo Abe, nachdem er im Parlament gegrillt worden war, den aufschlussreichen Satz: „Ich habe nie die Olympischen Spiele an die erste Stelle gestellt. Meine Priorität war immer, das Leben und die Gesundheit der japanischen Bevölkerung zu schützen.“ Braucht es mehr, um die Stimmung in Japan zu umreißen? Die Angst vor Virus-Einschleppung in dem abgeschotteten Land, das es versäumt hat, rechtzeitig mit Impfungen zu beginnen und im internationalen Vergleich hinterherhinkt, war zu diesem Zeitpunkt so groß, dass laut Umfragen 60 Prozent der Bevölkerung die Spiele ablehnten. Krankenhausärzte, Krankenschwestern protestierten, Hospitäler erklärten ihre Weigerung, eventuell erkrankte Olympiateilnehmer aufzunehmen, andere argumentierten, die 10.000 Gesundheitsmitarbeiter, die gebraucht würden, um das Sicherheitskonzept der Spiele durchzuziehen, fehlten der japanischen Bevölkerung. Hunderttausende unterschrieben eine Petition von Olympiagegnern.

Abgeschottet und ohne Fans

Und das IOC? Drei Tage später erklärte IOC-Sprecher Mark Adams scheinbar gelassen, dass es schon immer kurz vor Beginn von Spielen eine Zustimmungsdelle bei der Bevölkerung gegeben habe. Und dass man mit Volldampf daran arbeite, exzellente Spiele auszutragen, „die die Welt zusammenbringen“. So als bildeten Umfragen im unter Pandemieschock stehenden Japan eine ganz normale Entwicklung ab. Und so, als käme die Welt im Sommer nach Tokio. Obwohl zu diesem Zeitpunkt ausländische Zuschauer längst ausgeladen waren und im Juni darüber entschieden werden sollte, ob die Ränge in den Stadien ganz leer bleiben sollten. Längst war auch klar, dass die Sportler nur so lange wie irgend nötig im Athletendorf bleiben sollten. Und dass Olympia sich möglichst in ein in Japan gelandetes Ufo verwandeln sollte ohne jede Berührung mit der verängstigten Bevölkerung.

Konzern der Unterhaltungsindustrie

Eines scheint sicher: Vor dem Zeitalter der Kommerzialisierung, als es noch keinen Markt für Fernsehrechte gab im Sport, wären diese Olympischen Spiele, die der Gastgeber nicht mehr haben will, einfach abgesagt worden. Doch die Pandemie hat es an den Tag gebracht: Das IOC hat diese Freiheit nicht. Es ist nichts anderes als ein Konzern der Unterhaltungsindustrie. Seine Aufgabe ist es, Olympia zu veranstalten, das seine einzige Einnahmequelle ist, und diese Aufgabe zieht es durch, solange es kann. 75 Prozent der IOC-Einnahmen stammen aus dem Verkauf von Fernsehrechten, 18 Prozent von Sponsoren. Beide Verbindungen sind durch langfristige Verträge abgesichert. Das heißt, Spiele ohne Zuschauer sind zwar unangenehm, sie liefern dem Fernsehen und den Sponsoren keine Atmosphäre. Die Hygienemaßnahmen verordnen den Teilnehmern ein isoliertes Leben ohne Kontakt mit Land und Leuten – aber nichts wäre schlimmer für das IOC, als keine Spiele veranstalten zu können. Olympia ist wie ein riesiger Ozeandampfer, es stampft weiter und ignoriert den aktuellen Wellengang, solange es kann. Die meisten Sportler, die ihr Leben auf Olympia ausgerichtet haben, sind trotzdem bereit, ihr Herzblut für diese Veranstaltung zu geben. Und auch für die nächste, die Winterspiele, die 2022 stattfinden sollen. Es ist aber nicht zu erwarten, dass diese Veranstaltung die Herzen der Welt zurückgewinnen kann: Sie findet in Peking statt. Die politischen Boykott-Forderungen im Westen sind schon auf dem Weg.


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Evi Simeoni

Evi Simeoni ist Sportredakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Reporterin und Buchautorin. 1981 wurde sie mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet, 1996 und 2012 wurde sie zur Sportjournalistin des Jahres gewählt.