Titelthema
Wer hat Angst vorm bösen Wolf?
Die Antwort auf die steigende Wolfspopulation in Deutschland kann keine erhöhte Abschussquote sein, sondern ein vernünftiger Herdenschutz.
Als der Lausitzer Schäfer Frank Neumann am 30. April 2002 seine Schafherde aufsuchte, blickte er fassungslos auf 27 getötete Tiere, umgebracht von einer Gruppe Wölfe, die in der Nacht in die Herde eingedrungen war. Zwar ist bekannt, dass seit dem Ende der 90er Jahre Wölfe aus Polen nach Ostdeutschland eingewandert waren, beziehungsweise über die Oder geschwommen sind, bisher hatten sie ihren Hunger jedoch ausschließlich mit Wildtieren gestillt, überwiegend mit Rothirschen und Rehwild.
Frank Neumann rief nicht wie erwartet nach der Freigabe zum Abschuss der Wölfe, sondern er entschied sich mit Unterstützung der Gesellschaft zum Schutz der Wölfe und des Schweizer Wolfsexperten Jean-Marc Landry für den Herdenschutz durch Elektrozäune und Herdenschutzhunde. Nach einem Rückschlag 2007, bei dem er nochmals drei Schafe verlor, vergrößerte er die Zahl der Hunde pro Herde und verzeichnete seitdem keine Verluste mehr. Und das, obwohl seine Schafe Flächen in vier Wolfsrevieren beweideten. Bei meinem Besuch im Jahr 2016 grasten zu meinem Erstaunen um seine Weiden zahlreiche Rothirsche, offensichtlich sind diese Regionen absolut wolfssicher.
Keine Tierart polarisiert so stark wie die der Wölfe. In Mitteleuropa geistern die Vorfahren unserer Hunde durch schaurige Mythen und Märchen, bei den Inuit und den sibirischen Jakuten wird er hochverehrt und nach einer mongolischen Legende entstammt Dschingis Khan der Verbindung einer Hirschkuh mit einem Wolf.
In Deutschland argumentieren Landwirte, dass Wolfsübergriffe auf Weidetiere zu großen Verlusten und Irritationen der verbleibenden Herde führen, dass Schutzmaßnahem zu teuer, zu schwierig umsetzbar und ohnehin nutzlos sind. Einige befürchten, dass ihre Frauen und Kinder bei einem Waldspaziergang oder im Winter an der Bushaltestelle von Wölfen angefallen werden. Und, stimmt das etwa nicht?
Laut einer Studie des norwegischen Institutes "Nina" fanden Wissenschaftler zwischen 2002 und 2020 weltweit 26 tödliche Angriffe von Wölfen auf Menschen, überwiegend aus dem Iran, der Türkei und Indien. 78 Prozent ließen sich auf Tollwut zurückführen. Die Chance, von einem Wolf angefallen zu werden, ist also, wenn auch nicht völlig ausgeschlossen, so doch verschwindend gering. Zumal wildlebende Wölfe Menschen meiden – nicht aber Dinge, die dem menschlichen Gebrauch dienen. Autos, Panzer, Trecker werden gern begutachtet und beschnüffelt, solange kein Mensch daneben steht. Gefährlich sind Wölfe aber für unsere Hunde, sofern sie frei in Wolfsgebieten umherlaufen und sie nicht durch die menschliche Anwesenheit geschützt sind. Sie sehen die Hunde als Konkurrenten und Eindringlinge in ihr Territorium an.
Wolfsbefürworter hingegen sind hocherfreut, dass die Natur offenbar wieder Einzug in unsere Kulturlandschaft hält und die Wölfe das Ökosystem des Waldes unterstützen, indem sie Reh- und Rotwild bejagen, das durch das Abfressen der Knospen den Aufwuchs des Waldes verhindert.
Seit Schäfer Neumann seine Schafherden gegen Wolfsübergriffe schützte sind 21 Jahre vergangen und die Wölfe haben sich immer mehr nach Nordwesten ausgebreitet. Im Monitoringjahr 2022/23 existierten in Deutschland 184 Rudel, 47 Paare und 22 residente Einzelwölfe. Insgesamt wurden 1339 Wolfsindividuen nachgewiesen. Die meisten Rudel leben in Brandenburg (47), Niedersachsen (34) und in Sachsen (31).
Die Nahrung der Wölfe ist abhängig von der Jahreszeit und vom Verbreitungsgebiet. Im Winter dienen in Deutschland überwiegend große Pflanzenfresser wie Hirsche und Rehe, aber auch Schwarzwild als Nahrung, im Sommer kommen Kaninchen, Hasen, Mäuse, Vögel und sogar Obst auf den Speiseplan. Ein erwachsener Wolf benötigt rund vier Kilogramm Fleisch am Tag. Das entspricht etwa 25 Hirschen pro Wolf und Jahr. Und leider werden auch gerne Weidetiere wie Schafe, Gatterwild, Jungrinder oder Ponys gefressen, wenn sich den Wölfen die Möglichkeit bietet. Das Problem bei der Verfolgung der Weidetiere ist das Entstehen des sogenannten Blutrausches: Bei den Hundeartigen läuft im Gehirn eine Verhaltenskette mit den Sequenzen sich orientieren – fixieren – hetzen – jagen – packen – töten ab. Bei jedem Tier, das sich innerhalb der Umzäunung bewegt, beginnt die Sequenz von Neuem, und so entsteht das schwer zu ertragende Bild eines regelrechten Gemetzels. Bei unseren Haushunden sind die letalen Sequenzen herausgezüchtet. Bei einem ausgebildeten Hütehund endet die Kette beim Hetzen, bei einem Herdenschutzhund sogar schon beim Fixieren.
Nach der Ranzzeit im Februar werden von April bis Mai zwei bis sechs (bis acht) Wolfswelpen in einer Erdhöhle geboren. Im ersten Lebensjahr ist die Welpensterblichkeit sehr hoch. Bis zu einem Alter von 18 bis 24 Monaten bleiben die Jungwölfe bei ihrer Familie. Anfangs unter dem Schutz der Elterntiere, später entdecken sie unter der Obhut ihrer älteren Geschwister aus dem Vorjahr spielerisch ihre Umwelt, lernen Sozialverhalten und gutes Benehmen, und sie lernen, erste Beutetiere zu fangen. Im Folgejahr sind sie dann die Babysitter für die kleinen Wölfe. Die großen Geschwister machen sich auf den Weg nach neuen Territorien und einem Partner zur Rudelgründung. Und laufen dabei nachts auch schon einmal durch Ortschaften und an einem Kindergarten oder beim Lidl vorbei – wie Videos zeigen. Bei diesen Wanderungen legen einige Tiere sogar mehr als 1000 Kilometer zurück.
Ein Rudel besteht aus zwei bis acht Individuen. Größe und Zusammensetzung sind aber nicht konstant, sondern durch Tod, Abwanderung und Neuzugänge einem ständigen Wechsel unterzogen. Die durchschnittliche Reviergröße für ein Rudel beträgt 250 Quadratkilometer. Durch die Zunahme der Wolfsindividuen kommt es nicht zu einer Verdichtung der Population in dem Gebiet, sondern zu einer Ausweitung, das heißt neue Territorien werden ausgesucht und gegebenenfalls besetzt.
Wölfe sind Kosmopoliten, Opportunisten, enorm anpassungsfähig – und sie sind bequem. Eine Jagd hinter wehrhaftem Wild ist um ein vielfaches kräftezehrender, als sich an einem Büffet von schlecht eingezäunten Schafen zu bedienen. Hätten sich die Schäfer bei der Westwanderung der Wölfe die Erfahrungen von Frank Neumann zunutze gemacht und ihre Tiere mit gut funktionierenden Elektrozäunen – möglichst 1,20 Meter hoch und – noch besser – mit Herdenschutzhunden gegen Wolfsübergriffe geschützt, hätten die Wölfe bereits in Sachsen und Brandenburg die Erfahrung gemacht, dass Schafe einen sehr schmerzhaften Stromschlag und wehrhafte Hunde bedeuten – und sich an Wildtiere gehalten.
Anhand von Daten aus Frankreich und der Slowakei lässt sich ablesen, dass der Abschuss der Wölfe keineswegs weniger Übergriffe auf die Weidetiere zur Folge hat. Trotz erhöhter Abschusszahlen hat die Anzahl gerissener Weidetiere dort zugenommen. Jungtiere, deren Eltern entnommen wurden, verwahrlosten und ernährten sich – wie in einer Region in Estland – überwiegend von Hofhunden. Wenn ganze Rudel zum Abschuss freigegeben werden, kommen oftmals innerhalb der folgenden zwei Jahre neue Rudel nach. In Niedersachsen wurde ein bestimmter Wolf "freigegeben": Erst der siebte getötete Wolf war der richtige. Die Tiere ähneln einander so sehr, dass sie äußerlich kaum zu unterscheiden sind.
Die Bundesregierung stellte 2022 Präventionszahlungen für den Herdenschutz in Höhe von etwa 18,5 Millionen Euro zur Verfügung, die Ausgleichzahlungen für gerissene Weidetiere betrugen dagegen circa 660.000 Euro. Von dem zur Verfügung gestellten Geld für die Prävention wurde nur ein Bruchteil abgerufen. Sowohl Zäune als auch zertifizierte Herdenschutzhunde werden finanziell gefördert – mit Erfolg. In Sachsen-Anhalt, wo der Herdenschutz intensiviert wurde, gehen die Risszahlen trotz Zunahme der Wölfe in diesem Jahr signifikant zurück.
Deutschland war rund 150 Jahre lang wolfsfrei. Wir haben nicht gelernt, mit diesen Tieren, die uns in vieler Hinsicht so sehr ähneln, in Gemeinschaft zu leben. Mit Kompromissen auf beiden Seiten sollte es möglich sein. Unsere Aufgabe ist es, den Wölfen zu vermitteln, dass sie in den Wald gehören, indem wir uns die Mühe machen, unsere Weidetiere sicher zu schützen. Überall und flächendeckend, auch wenn noch kein Wolf in der Region gesichtet wurde. Der Vorschlag von Bundesumweltministerin Steffi Lemke, Wölfe, die Schafe hinter gut gesicherten Zäunen gerissen haben, ohne DNA-Nachweis innerhalb von 21 Tagen in einem Umkreis von 1000 Metern um die Rissstelle abzuschießen, ist ein Kompromiss, dem wir zugunsten der restlichen Wolfspopulation zustimmen sollten.
Dr. Barbara Seibert arbeitet seit 1974 als praktische Tierärztin und seit dem Jahr 2000 als Tierpsychologin. In den letzten 50 Jahren hat sie zahlreiche Wolfsreisen von Kanada bis in die Mongolei unternommen – und dabei noch niemals einen wildlebenden Wolf zu sehen bekommen.