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Titelthema

Unter Wölfen

Titelthema - Unter Wölfen
Tanja Askani mit Wölfen, die sie aufgezogen hat © Achim Heisler

Tanja Askani arbeitet seit über 30 Jahren mit Wölfen. Ein Gespräch über Vertrauen, Respekt und lächerliche Nahtoderfahrungen.

01.01.2024

Frau Askani, seit 30 Jahren beschäftigen Sie sich mit Wölfen und ziehen sie von Hand auf. Woher kommt diese Faszination ausgerechnet für Wölfe?

Polarwölfchen Cheenook, den ersten Wolfswelpen, habe ich im Frühjahr 1992 im Arm gehalten. Etwas später, als ich als Falknerin im Wildpark Lüneburger Heide arbeitete, kam Flocke zu mir. Eines Tages wurde mir ein winziges Fellbündel gebracht mit dem Hinweis, dass Mutter und Geschwister tot seien und nur noch das kleine Ding sei am Leben – ob ich versuchen wollte, es durchzubringen. Ich nannte die Kleine Flocke. Mit Hilfe meiner Jagdhündin haben wir es gemeinsam geschafft, die Polarwölfin aufzupäppeln und zu retten. Unsere Beziehung wurde sehr intensiv. Flocke war meine Lehrerin. Sie hat alle wichtigen Grundlagen in mir gelegt für die Wölfe, die später folgen sollten.

Schon als Kind hatte ich von meinem Vater gelernt, wie man verwaiste Tierkinder betreut und aufzieht. Tiere sind um mich herum so lange ich denken kann. Ich liebe Tiere, vor allem Wildtiere, und mit Flocke kam eine außerordentliche Zuneigung hinzu, auch eine Faszination für das Wesen Wolf. Es existieren viele Märchen, Mythen, Überlieferungen und wilde Geschichten über Wölfe, die fast allesamt falsch sind und dem Wolf nicht gerecht werden, wie ich durch Flocke und "meine" anderen Wölfe erfuhr. Sie zeigen mir immer wieder, wie ähnlich Mensch und Wolf sich in vielen Dingen sind. Auch nach 30 Jahren bin ich immer noch fasziniert von diesen Tieren und bin dankbar dafür, dass das Fellbündel damals zu mir kam.

Sie ziehen die Tiere groß, essen mit ihnen, sind Teil des Rudels. Diese Nähe hat kaum ein anderer Mensch. Was haben Sie über Wölfe gelernt, wie würden Sie sie charakterisieren?

In meinem Buch "Wolfsspuren" habe ich es so beschrieben: "Sie sind voller Kraft. Jedoch immer elegant und geschmeidig, vorsichtig und bedächtig, aber zugleich kompromisslos und souverän. Gleichzeitig wirken sie friedlich und verspielt, liebevoll und manchmal verschmust, dabei aber unbändig und unzähmbar wild. So viele vermeintlich unvereinbare Eigenschaften stecken in einem Wolf." So sind sie, so erlebe ich sie. Was ich noch über sie gelernt habe: Sie vergessen niemals etwas, weder im Guten noch im Schlechten. Wenn sie einmal eine Entscheidung getroffen haben, wird diese Entscheidung niemals revidiert. Das bedeutet auch: Wenn ich einen Fehler machen würde, der ihr Vertrauen in mich zerstört, wäre unsere Verbindung für immer irreparabel zerstört.

Shaun Ellis, der britische Wolfsforscher, sagte einmal, er sei unter den Wölfen weder Mensch noch Wolf, sondern Teil einer Rangordnung, die nach uralten Werten funktioniere. Da ginge es um Weisheit, Vertrauen, Respekt, also um Werte, die oftmals verlorengegangen seien. Können Sie das bestätigen?

Natürlich bin und bleibe ich Mensch unter Wölfen. Wenn ich Teil der wölfischen Rangordnung werden wollte oder wäre, hätte ich sehr schlechte Karten und über kurz oder lang wohl ein großes Problem, das durchaus mit meinem Tod enden könnte. Ich teile nicht das, was Shaun Ellis über seine angeblichen Erfahrungen mit Wölfen schreibt. Wenn ich in Not geratene Wolfswelpen aufnehme, stelle ich natürlich keine Wolfsfamilie mit den Welpen oder dem einzelnen Welpen her, sondern bin und bleibe Mensch, der die Welpen füttert,versorgt und betreut. Das verstehen die Welpen recht schnell, und das bleibt so, auch wenn die Welpen heranwachsen und erwachsen werden. Ein Mensch wird nie ein Sozialpartner für einen Wolf – so wie wir es bei Hunden kennen. Eine Beziehung mit erwachsenen Tieren ist nur auf Vertrauensbasis und auf Augenhöhe möglich. Ich bin und bleibe eine Art Mutterersatz, vor allem aber immer Mensch, ich werde keine Wölfin für meine Wölfe.

Wie bei anderen Wildtieren ist es trotz vieler falscher Behauptungen auch bei Wölfen nicht erforderlich, demonstrativ auf allen Vieren im Wolfsgehege zu kriechen, sich monatelang nicht zu waschen, um den Rudelgeruch nicht zu verlieren. Ebenso wenig ist es erforderlich, demonstrativ Rohfleisch zu kauen, um akzeptiert zu werden. Wer etwas anderes behauptet, unterschätzt völlig die hohe Intelligenz der Wölfe. Wichtiger sind Eigenschaften wie Geduld, Empathie, Fingerspitzengefühl und eine große Portion Respekt vor dem Wolf.

In Gefangenschaft können Wölfe nicht nach ihren wölfischen Gesetzen leben. All das, was Wölfe in Freiheit tun, ist ihnen im Gehege nicht möglich. Im Gehege gibt es keine intakte Wolfsfamilie, kein intaktes Rudel, sondern nur Wolfsindividuen, die gezwungenermaßen zusammenleben, weil die Menschen es so entschieden haben. Diese Wolfsindividuen haben wölfische Empfindungen, Reflexe wie ihre wilden Artgenossen, aber sie können ihre Empfindungen, ihre Reflexe nicht auf natürliche Art ausleben. Und hier besteht die große Verantwortung des betreuenden Menschen, Wölfe in Gefangenschaft so gut wie möglich zu behandeln und zu versorgen. Das hat natürlich vor allem mit Vertrauen zu tun, welches tagtäglich auf Neue gefestigt werden muss. Die Tiere vertrauen mir, wenn es mir gelingt, sie "zu lesen", das heißt wenn ich erkenne, was in ihnen vorgeht und wenn ich darauf richtig reagiere – das sind aber Dinge, die man nur im Umgang mit Wölfen lernen kann, das ist kein Bücherlernstoff.

Was können wir Menschen von den Wölfen lernen?

Für die frühen Menschen war der Wolf ein Lehrer, dessen Ausdauer und Geschick bei der Jagd bewundert, verehrt und später auch nachgeahmt wurde. Das hoch entwickelte Sozialverhalten der Wölfe, ihre Familienordnung mit den sozialen Strukturen bei der Jagd, bei der Verteilung der Beute und bei der Aufzucht der Jungen mögen als Vorbild auch für Bereiche unseres menschlichen Verhaltens gedient haben. Mitgefühl zu zeigen, Verantwortung zu übernehmen, der Gemeinschaft zu dienen sind Eigenschaften, die wir für ursprünglich menschlich halten – obwohl die frühen Menschen wahrscheinlich alles bei den Wölfen beobachtet haben, lange bevor unsere Vorfahren selbst über ähnliche Fähigkeiten und Eigenschaften verfügten.

Im Bereich von Naturwissenschaft und Technik hat Lernen von der Natur eine lange Tradition. Auch Wirtschaft und unternehmerisches Handeln lassen sich gerne von der Natur inspirieren. Wölfe waren und sind ausgezeichnete Impuls- und Ideengeber für uns Menschen, gerade weil wir mit Wölfen vieles gemeinsam haben. Vielleicht sind Wölfe die besten Impulsgeber der Natur für uns, wenn es um Fragen von Teamarbeit, Kooperation, Nachhaltigkeit, Biodiversität, Artenschutz und ähnliches geht.

Wie verhalten Sie sich, wenn Sie in eine Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehreren Wölfen geraten?

Ich beobachte, greife normalerweise nicht ein. Auch wenn es für Außenstehende manchmal dramatisch aussehen kann, sind es kleine Raufereien, Machtdemos oder es spielen Eifersucht oder Futterneid eine Rolle. Die Tiere verletzen sich dabei nicht beziehungsweise selten und es artet auch nicht aus, so wie es bei Hunden oft passieren kann. Wölfe haben zwar eine deutlich stärkere Beißkraft als ein Hund, sie können aber im Gegensatz zu ihren domestizierten Verwandten mit ihren Zähnen viel feiner und differenzierter umgehen. Auch wenn ich in unmittelbarer Nähe des Geschehens bin, kann ich sicher sein, dass mir nichts passiert. Mit Hunden wäre das anders. Wenn Hunde sich raufen, beißen sie wild um sich und man sollte sich als Mensch hüten, dazwischen zu geraten. Eine Voraussetzung bei Wölfen ist aber, dass im Gehege Tiere leben, die auch zusammenpassen und die sich verstehen. Kein wilder Wolf möchte mit anderen erwachsenen Wölfen zusammenleben. Draußen existieren kein Alphawolf und keine Alphawölfin, auch kein Beta- oder Omegawolf. Wölfe leben paarweise, ohne Hierarchie und ohne Aggressionen. Es ist ein reiner Familienverband: Mutter, Vater und Welpen. Bevor die Kleinen die Geschlechtsreife erreichen, gehen sie ihre eigenen Wege und verlassen die Familie. Sie wandern nach und nach ab, um ihr eigenes Revier und einen Partner fürs Leben zu finden, um eine eigene Familie zu gründen und um damit zur Arterhaltung beizutragen.

Trotz dieser Erkenntnisse werden Wölfe immer noch in der Gefangenschaft oft in größeren Gruppen gehalten. Dass sich dabei die Tiere gegenseitig schwer verletzen oder sogar töten, wird vielfach in Kauf genommen. Das ist in meinen Augen Tierquälerei. In Freiheit würden diese Wölfe sich weiträumig aus dem Weg gehen, was sie im gemeinsamen Gehege nicht können. Leider sind die Richtlinien und Gesetze, die die Haltung von Wölfen in Gefangenschaft betreffen, veraltet und benötigen dringend eine Überarbeitung nach aktuellen wissenschaftlichen Standards.

Viele Menschen haben Angst davor, einem Wolf zu begegnen. Können Sie das nachvollziehen?

Ja, ein bisschen schon. Diese Menschen kennen Wölfe nicht, haben nur die alten Märchen und die vielen reißerischen Geschichten und Berichte über Wölfe im Kopf, die gezielt Angst erzeugen sollen. Bei vielen Menschen gelingt das, die haben Angst, einem Wolf zu begegnen, weil sie glauben, angegriffen zu werden. In der öffentlichen Berichterstattung über Wölfe dominieren leider die von Wolfsgegnern, Wolfshassern und Herdenschutzverweigerern lancierten Meldungen über angeblich gefährliche Wölfe, die Waldspaziergänger aggressiv angestarrt haben sollen oder die unschuldige Fahrradfahrer durch den Wald gejagt haben sollen. Diese Geretteten rufen dann als erstes eine Zeitungredaktion an, um von ihrer Nahtoderfahrung zu berichten. All diese Meldungen und Storys sollen noch mehr Angst erzeugen, um die öffentliche Stimmung gegen Wölfe aufzubringen, um den Weg für Wolfsabschüsse zu bereiten.

Menschen, die sich über Wölfe informiert haben, freuen sich, wenn sie tatsächlich mal einen Wolf sehen, was relativ selten geschieht. Wölfe meiden die Begegnung mit Menschen, gehen uns aus dem Weg.

Was bräuchte es aus Ihrer Sicht, um zu einem funktionierenden Miteinander von Mensch und Wolf zu kommen?

Wenn Journalisten nur ein bisschen recherchieren würden, wenn ihnen Geschichten zugetragen werden, wenn sie zum Beispiel erfahrene Wolfskenner sowie langjährige Studien und Erkenntnisse der Wissenschaft – vor allem von Wildbiologen – in die Recherche zu Meldungen einbeziehen würden, würde sich das Blatt schnell wenden. Seit Jahren werden zunehmend statt sachlicher Berichterstattung überwiegend Wut und Angst vor Wölfen verbreitet, um ein gemeinsames Feindbild Wolf zu erzeugen. Nach Meinung von Wolfsgegnern hat der Wolf kein Lebens- und Existenzrecht in unseren Landschaften und muss bejagt, am besten wieder ausgerottet werden.

Wenn man sich nur ein bisschen mit Wölfen, ihrer Biologie, ihrem Verhalten und mit ihrem Wesen beschäftigt, wird rasch klar: Es gibt keinen Grund, den Wolf zu verteufeln. Er tut der Natur gut.

Wenn flächendeckend Weidetiere, die sich gegen Wölfe und wildernde Hunde nicht selbst verteidigen können, geschützt werden, kann es zu einem relativ konfliktfreien Nebeneinander von Mensch und Wolf kommen. Hier hat auch die Politik eine große Verantwortung. Statt unaufgeregt und sachlich zu informieren, zu beraten und Tierhalter zu unterstützen, wird der Wolf für eigene politische Zwecke missbraucht, um Wählerstimmen mit unsinnigen Versprechen zu generieren. Populistische Politiker fordern die Regulierung der Wolfspopulation und lassen betroffene Weidetierhalter glauben, damit sei es getan. Dabei spielt es keine Rolle, ob in der Nachbarschaft eine ganze Wolfsfamilie oder nur ein einziger Wolf lebt. Die Lösung, um Nutztiere vor Übergriffen zu schützen, ist nach wie vor erwiesenermaßen einzig und allein vernünftiger Herdenschutz.

Es ist an der Zeit, den Wolf so zu sehen, was und wie er tatsächlich ist und nicht länger so, wie er in Märchen dargestellt wurde und von Wolfsgegnern hingestellt wird: als gefährliche Bestie, die demnächst über unsere Kinder herfallen wird. Das wird er nicht tun.

Es gibt viele Ansätze, schon Kinder über Wölfe zu informieren. Das ist vielversprechend. Die, die noch heute Märchenbilder des Wolfes in sich tragen, werden diese Bilder nicht aufgeben. Die Kinder von heute sind aber die Erwachsenen von morgen mit einem hoffentlich entspannteren Wolfsbild.

Das Gespräch führte Björn Lange.