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Nationalsozialismus

Wie eine Sinti-Familie im »Dritten Reich« verfolgt wurde

Seit Jahrhunderten haben die Europäer ein zwiespältiges Verhältnis zu den Sinti und Roma. Dem romantischen Bild des »lustigen Zigeunerlebens« stehen Klischees und Stereotypen über das »fahrende Volk« gegenüber. Das Titelthema des Februars 2014 widmet sich dem Schicksal und der Kultur eines Volkes, über das zwar oft und viel geredet wird – das selbst jedoch meist nicht zu Wort kommt.

Roland Flade14.02.2014

Die Geschichte der Würzburger Sinti-Familie Winterstein steht beispielhaft für die gegen die „Zigeuner“ gerichtete Diskriminierungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten. Das Familienoberhaupt war Johann Winterstein, ein Korbmacher, der mit seiner Frau Josefine und den Kindern, darunter der 1921 geborenen Tochter Theresia, in einem ärmeren Teil der Stadt lebte.

Die Haltung der meisten Deutschen gegenüber den Sinti war zwiespältig. Während sie einerseits von Rassisten wegen ihrer angeblichen „Minderwertigkeit“ abgelehnt wurden, waren andere vom angeblich so freien Leben der „Zigeuner“ fasziniert. So kam es, dass trotz der NS-Propaganda gegen die Minderheit zwischen 1937 und 1939 das Würzburger Stadttheater zwei Operetten auf die Bühne brachte, in denen ihr Leben im Mittelpunkt steht: „Der Zigeunerbaron“ von Johann Strauss und „Zigeunerliebe“ von Franz Lehár.

Im Frühjahr 1940 stand auch die 18-jährige Theresia Winterstein, eine begabte Tänzerin, auf der Bühne des Stadttheaters. George Bizets Oper „Carmen“ wurde gegeben, die bekannteste künstlerische Darstellung einer „Zigeunerin“. Die neun Aufführungen waren der Höhepunkt der kurzen Karriere von Theresia, die mit anderen Frauen das Ballett verstärkte. „Wir flogen dann raus, weil wir nicht arisch waren“, berichtete Theresia später über sich und ihren Verlobten Gabriel Reinhardt, der als Musiker ebenfalls bei „Carmen“ eingesetzt war.

Unerlaubte Schwangerschaft

Im Sommer 1942 wurde Theresia schwanger. Da sie zuvor unter dem Druck der Behörden ihr Einverständnis zur Sterilisation erklärt hatte, war dies eine strafbare Handlung. Die „freiwillige“ Einwilligung zur Sterilisation bedeutete eine Möglichkeit für manche Sinti, der Deportation zu entgehen. Theresia Winterstein hatte unterschrieben. Aber wie die Opernfigur Carmen wollte sie sich nicht zum hilflosen Objekt übermächtiger Männer machen lassen. Ihre Schwangerschaft war demzufolge ein Akt der Selbstbehauptung.

Theresias unerlaubte Schwangerschaft rief die Behörden auf den Plan. Das Kind sollte abgetrieben werden. Allerdings stellte sich bei einer Untersuchung heraus, dass Theresia Zwillinge erwartete, weshalb die Abtreibung nicht stattfand. Dies deshalb, weil Zwillinge im „Dritten Reich“ zu den bevorzugten Versuchsobjekten von Rasseforschern gehörten. In deren Augen besaßen Zwillinge den Schlüssel zu den Geheimnissen der Genetik. Ein „Zwillings-Experte“ war auch Josef Mengele, der spätere Auschwitz-Arzt und Massenmörder. 1942 erfuhr er wohl von seinem Würzburger Kollegen Werner Heyde von der Zwillingsschwangerschaft. Heyde leitete die Würzburger Universitäts-Nervenklinik. 1941 war er als Obergutachter im Rahmen der „Euthanasie“-Aktion für die Ermordung von rund 100.000 Heilanstaltsinsassen und KZ-Häftlingen verantwortlich gewesen. 1942 arbeitete er häufig in Berlin und traf dort wahrscheinlich Mengele.

Am 3. März 1943 kamen die Zwillinge Rita und Rolanda in der Universitäts-Frauenklinik zur Welt. Anfang April wurden Theresia Winterstein und Gabriel Reinhardt gezwungen, in ihren besten Kleidern und mit dem Zwillingskinderwagen auf der Domstraße für Propagandafotos zu posieren.

Während das Foto gemacht wurde, füllte sich bereits das sogenannte „Zigeuner-Familienlager“ in Auschwitz-Birkenau in unmittelbarer Nähe der Krematorien. Mehrere Hunderttausend europäische Sinti und Roma wurden im „Dritten Reich“ ermordet, viele davon in Auschwitz. Auch 13 Mitglieder der Familie Winterstein wurden nach Auschwitz deportiert, darunter sechs Babys und Kleinkinder. Nur drei Erwachsene überlebten.

Anneliese Winterstein, eine von Theresias Cousinen, war 20 Jahre alt, als sie mit ihren Kindern Karl-Heinz und Waldemar in Auschwitz ankam. Beide Kinder starben binnen kurzer Zeit. Was danach geschah, erfuhr Theresia nach dem Krieg von Überlebenden: „Die SS bestimmte sie als Prostituierte für das Lagerbordell. Als sie merkte, dass sie fürs Bordell eingeteilt werden sollte, rannte sie zum Stacheldrahtzaun, der mit Starkstrom geladen war. Bevor sie sich von einem Deutschen anfassen ließ, wählte sie lieber den Tod.“

Am 6. April 1943 wurden Theresia Wintersteins Zwillinge zwangsweise in die Würzburger Universitäts-Kinderklinik eingewiesen. Hier nahm wahrscheinlich Werner Heyde nach Anweisungen von Josef Mengele medizinische Experimente an ihnen vor. Nach wenigen Tagen hielt Theresia die Ungewissheit nicht mehr aus. Gegen den Widerstand des Krankenhauspersonals drang sie zu den Babys vor; Rolanda, die einen Verband am Kopf trug, war bereits tot. Theresia nahm daraufhin Rita mit nach Hause, in der berechtigten Furcht, dass auch ihr Schreckliches passieren könne. Auch bei Rita wies ein Pflaster am Kopf auf Versuche hin.

Diagnose  »Zigeunermischling«

Das bürokratische Räderwerk arbeitete unerbittlich weiter. Jetzt stand die Unfruchtbarmachung an, die zuvor nur aufgeschoben worden war. 300.000 bis 400.000 Zwangssterilisationen wurden im „Dritten Reich“ in besonders dafür ausgewählten Kliniken vorgenommen. Eines dieser Krankenhäuser war die Universitäts-Frauenklinik in Würzburg. Als „Diagnose“, also als Grund für die Zwangssterilisation der 21-Jährigen Theresia Winterstein am 4. August 1943, wurde im Operationsbuch lediglich „Zigeunermischling“ angegeben. Die Behörden gaben sich nicht die geringste Mühe, einen medizinischen Grund vorzutäuschen. Als Sinti geboren zu sein genügte.

Entwürdigt und gedemütigt und an ihrer Gesundheit für immer geschädigt, verließ Theresia am 21. August 1943 die Frauenklinik. Anschließend erhielt sie die Erlaubnis, ihren Verlobten Gabriel Reinhardt zu heiraten. Der kleinen Familie blieb die Verschleppung erspart, weil Gabriel Reinhardt nach der amtlichen Untersuchung seines Stammbaums als „reinrassiger Zigeuner“ eingestuft worden war. Diese relativ kleine Gruppe der deutschen Sinti galt den Nazis im Gegensatz zu „minderwertigen Mischlingen“ als erhaltenswert, da man bei ihr wegen ihrer direkten historischen Herkunft aus Indien „unvermischtes arisches“ Erbgut vermutete. Zudem war sichergestellt, dass der „Mischling“ Theresia keine weiteren Kinder haben konnte.

Im Sommer 1945 trafen überlebende Mitglieder der Familie Winterstein in Würzburg ein. Theresias Bruder Otto brachte schwerkrank seine spätere Frau mit, die er im KZ kennengelernt hatte. Auch Karoline Winterstein, eine weitere Verwandte, kehrte zurück. Im Februar 1945 hatte man sie im Frauen-KZ Ravensbrück noch zwangssterilisiert; ihre drei kleinen Kinder waren in Auschwitz ermordet worden. Auch Theresias Eltern Johann und Josefine hatten das „Dritte Reich“ überlebt.

Theresias Tochter Rita litt so stark unter den Folgen der an ihr durchgeführten Versuche, dass sie später wegen häufiger Ohnmachtsanfälle von der Schulpflicht befreit werden musste. Auch die Mutter war wegen der Spätfolgen der Sterilisation und wegen der Angst, die sie um ihre Tochter ausgestanden hat, in ihrer Gesundheit stark eingeschränkt.

Unterdessen setzte Carl Joseph Gauß, der 1945 abgesetzte Direktor der Universitäts-Frauenklinik, seine Karriere fort und übernahm nach einigen Jahren die gynäkologische Abteilung eines Krankenhauses in Bad Kissingen. Josef Mengele floh nach Südamerika, wo er 1979 bei einem Badeunfall ums Leben kam. Werner Heyde tauchte nach kurzer Inhaftierung und Flucht unter und kam unter falschem Namen als medizinischer Gutachter zu Ansehen und Wohlstand. Er wurde erst 1959 enttarnt und beging 1964 in seiner Zelle Selbstmord.

Spätfolgen der Misshandlungen

In einem mehrjährigen Prozess versuchte Rita Winterstein, ihre gesundheitliche Beeinträchtigung als Folge der Versuche und Experimente nach ihrer Geburt anerkennen zu lassen – vergeblich. Die letzten Beweise ließen sich nicht erbringen.

Theresia Winterstein gründete eine Frauenorganisation der Sinti mit dem Ziel, Öffentlichkeit herzustellen, Wiedergutmachungszahlungen für Zwangssterilisierte durchzusetzen und den oft des Schreibens unkundigen Betroffenen gegenüber Behörden beizustehen. Am 1. April 2007 verstarb Theresia; sie hatte noch miterlebt, dass Stolpersteine für ermordete Würzburger Sinti gelegt wurden und ein Denkmal für sie errichtet wurde. Ihre 70-jährige Tochter, die heute Rita Prigmore heißt, berichtet vor jungen Leuten in vielen Ländern von dem Unrecht, das den Sinti angetan wurde.