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Titelthema

Wild, blutgierig und mordlustig

Titelthema - Wild, blutgierig und mordlustig
Bis heute umgibt den Wolf etwas Mystisches. Von manchen wird er gefürchtet, von anderen bewundert © Jana Malin

Rückwärts laufen und eine Glocke läuten: Der Wolf in der Mythologie, im Aberglauben und in Volksüberlieferungen

Holger Ehrhardt01.01.2024

Im Vorwort zu seiner Edition der mittelalterlichen Tierfabel Reinhart Fuchs (1833) bemerkt Jacob Grimm, dass die Poesie ganz allgemein nicht nur Schicksale, Handlungen und Gedanken der Menschen, sondern auch das verborgene Leben der Tiere umfassen wolle. Dabei seien die in den Fabeln am häufigsten vorkommenden Tiere der Fuchs und der Wolf. Dies verweist auf die Allgegenwart des Wolfs, der seit der Antike über das Mittelalter bis in die Neuzeit hinein in Europa eine große Bedeutung für die Menschen hatte, und zwar nicht nur als gefürchtetes Tier.


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Die ältesten Zeugnisse, die auf einen Kontakt zwischen Mensch und Wolf verweisen, frühgeschichtliche Funde in West- und Mitteleuropa, deuten auf Wolfsjagden hin und darauf, dass der Wolf vom Menschen gegessen wurde.

In der ägyptischen Mythologie ist der Wolf dem Herrscher der Unterwelt, Osiris, zugeordnet. Einige wölfische Züge sind auch in Zeus-Überlieferungen eingegangen. Der Wolf ist ebenso mit anderen griechischen Göttern verbunden, mit Apollo, Ares oder Artemis. Als Wappentier findet er sich auf Athenes Schild abgebildet. In der römischen Götterwelt ist er dem Kriegsgott Mars zugeordnet. In der germanischen Mythologie wird Fenrir, das große endzeitliche Untier, in Wolfsgestalt beschrieben. Doch wie in der antiken Mythologie erschient der Wolf auch hier als göttliches Begleittier. So füttert Odin seine Wölfe Geri und Freki mit Eberfleisch von seinem Tisch. Auch den Nornen, den germanischen Schicksalsfrauen, werden Wölfe zugeordnet.

Sag nicht seinen Namen

Jacob Grimm beschreibt in seiner Geschichte der deutschen Sprache (1848) die weite Verbreitung des Wortes Wolf im germanischen Sprachraum. Das Deutsche Wörterbuch belegt gotisch „wulfs“, altnordisch „ulfr“, alt- und mittelhochdeutsch „wolf“, altfriesisch „wolf“, angelsächsisch „wulf“, albanisch „ul’k“, litauisch „vilkas“, altpreußisch „wilkis“ oder lettisch „vìlks“ und andere. Wilhelm Grimm verweist auf ein weiteres Wort, nämlich „warg“, das im Gotischen, aber auch in slawischen Sprachen nicht allein den Wolf, sondern allgemein Raubtiere oder gottlose, verruchte Menschen bezeichnet. Im althochdeutschen Muspilli, einem Stabreimgedicht vom Welten ende, und im Heliand, einer altsächsichen Evangelienharmonie, wird der Antichrist „varc“ genannt. Der Eintrag „warg“ im Deutschen Wörterbuch nennt die Grundbedeutung dieses im Neuhochdeutschen ausgestorbenen Wortes: „würger, wolf, ausgestoszener verbrecher, teufliches wesen“. Der Wolf wird in vielen christlichen Schriften mit bösen Dämonen oder dem Teufel in Verbindung gebracht, indem er als seelenraubender Wolf oder ungeheurer Höllenwolf bezeichnet wird. Noch im Abentheuerlichen Simplicissimus (1668) von Grimmelshausen zeugt das Wort „Höllenwolf“ von diesem Zusammenhang. Auch eine Reihe von Sprichwörtern scheinen darauf zu verweisen, denn der Wolf soll wie der Teufel nicht benannt werden: „Wenn man den Wolf nennt, so kommt er gerennt.“ Oder: „Wenn man des Wolfs gedenkt, so kömmt er.“ Oder: „Wenn man vom Wolf spricht, ist er nicht weit.“

Hexen, die auf Wölfen reiten

Die Sage vom Werwolf ist schon beim griechischen Geschichtsschreiber Herodot zu finden. Er berichtet vom Volk der Neuren, dass sie sich mehrere Tage im Jahr in Wölfe verwandeln könnten. Ähnliche Dinge berichten später Plinius und Augustin. Das Wort Werwolf ist allerdings erst bei Burchard von Worms (um 1000) belegt. Auch Hexen besitzen die Fähigkeit, sich in Wölfe zu verwandeln, schon das lateinische Schimpfwort „lupula“ für Hexe oder Unholdin deutet darauf hin. Der Volksaberglaube sieht Hexen darüber hinaus auf Wölfen reiten, Hexenmeister reiten in Wolfsgestalt zum Sabbat, oder Menschen werden von ihnen in Wölfe verwandelt.

Viele Sagen knüpfen sich an die Schäferei: Der Wolf reißt Schafe, weil er um seinen versprochenen Lohn als Schäferhund betrogen wurde. Eine ganze Reihe von Sagen gilt aber auch der Erklärung seines sonderbaren Aussehens, etwa seines steifen Rückens oder seines langen Schwanzes. Seine Nachtaktivität, sein Heulen bei Vollmond und die Vereinigung mehrerer Wölfe zu Jagdrudeln haben manche unheimliche Vorstellung über sein Fressverhalten hervorgebracht.

Das Wesen des Wolfes wird als böse, wild, blutgierig und mordlustig angesehen. Die Wendung „den Wolfspelz anlegen“ bedeutet „Gewalt anwenden“; eine „wölfische Gesinnung“ zu haben heißt, treulos oder grausam zu sein. Die Bibel warnt vor falschen Propheten, die in Schafskleidern kommen, aber inwendig reißende Wölfe sind (Mt 7, 15). An dieser Stelle hat die Wulfila-Bibel den Beleg für das gotische Wort „wulfs“ bewahrt: „in wastjom lambe, iþ innaþro sind wulfos wilwandans.“ In der mittelalterlichen Literatur ist der Wolf meistens negativ konnotiert. Böse Menschen nehmen seine Sitten an, leichtfertige Frauen sind wild wie der Wolf, wütende Blicke werden Wolfsblicke genannt, der Wolfsrachen wird mit der Hölle und dem Teufel verglichen. Seinen Namen, Wolvesguome, trägt auch ein Räubergeselle im Meier Helmbrecht (um 1270), zwei andere heißen Wolvesdrüzzel und Wolvesdarm. Der Wolf ist neben dem Schaf eins der wenigen Tiere, das im Mittelalter mit dem Menschen verglichen wird und dessen Eigenschaften ihm zugeschrieben werden. „Wolfshunger“ und „Wolfsmagen“ bezeichnen einen krankhaften Hunger. So wird der Wolf als gieriger Dieb, Räuber und Mörder angesehen, der seine Beute ganz verschlingt. Der Wolf wird nicht nur als Feind der Schäfer und Hirten angesehen, sondern auch als Feind des Menschen. Denkmäler, Legenden, aber auch einige Märchen verweisen auf solche Begegnungen. Eine ganze Reihe von abergläubischen Vorstellungen gibt Ratschläge, wie man dem Wolf dabei entrinnen kann: rückwärts laufen, damit er einen ansehen muss, einen Stein niederlegen, eine Glocke läuten oder ein Feuer anzünden. In der Folge solcher Ansichten wurde der Wolf stark bejagt: Es wurden Wolfsgruben angelegt, und Wolfsjäger standen noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts in hohem Ansehen.

Listig ist er, aber auch dumm

Im Tiermärchen wird der Wolf sowohl als dumm als auch voller List beschrieben. Auch im sehr bekannten Grimmschen Märchen vom Wolf und den sieben jungen Geißlein zeigen sich diese beiden Züge: Durch seine List – er frisst Kreide, um seine Stimme zu verstellen – gelangt er in das Haus zu den Geißlein, und wegen seiner Dummheit fällt er in den Brunnen und ertrinkt. In dem von starker Mündlichkeit geprägten Märchen Der wunderliche Spielmann werden einem Wolf von einem Spielmann die Vorderpfoten in einen Spalt geklemmt. Wilhelm Grimm ist hier verwundert, weil die dem Wolf sonst beigelegten Eigenschaften nicht erwähnt werden, und genau diese fehlenden Züge meint er, wenn er bemerkt, „es müßte ein Grund angegeben sein, warum der Spielmann die Thiere […] so hinterlistig behandelt“. Der Blutdurst des Wolfes kommt in Brüderchen und Schwesterchen zum Ausdruck, dort droht dem Bruder die Verwandlung in einen Wolf, der dann unweigerlich seine Schwester fressen müsste. Im Märchen Daumesdick wird ein gieriger Wolf geschildert, der einen Kuhmagen verschlingt und schließlich in einer Vorratskammer erschlagen wird. Im Tiermärchen Die Hochzeit der Frau Füchsin wird der Wolf als Freier abgewiesen, in den Märchen Der alte Sultan, Der Wolf und der Mensch sowie Der Wolf und der Fuchs wird ein gieriger Wolf jeweils überlistet.

Am Ende wird er für seine Untaten bestraft

Das bekannteste Grimmsche Wolfsmärchen, das Rotkäppchen, zeigt auch die Züge eines listigen und gierigen Wolfes, der am Ende für seine Untaten bestraft wird. Doch lässt sich die Erzähltradition dieser Geschichte, abgesehen von einem schwedischen Volkslied, nicht weiter zurückverfolgen als bis zum französischen Märchen Chaperon Rouge (1695) von Charles Perrault. Hier sind keine Relikte der germanischen oder deutschen Wolfsmythologie festzustellen, sondern Wölfe werden mit Männern gleichgesetzt, die „zahm und gefällig […] den jungen Damen in ihre Häuser und in ihre Gemächer“ folgen und die „die allergefährlichsten sind“. Zwar ist dieser moralisierende Anhang im Grimmschen Märchen verloren gegangen, doch zeigen die Parallelen und die Umstände der Überlieferung, dass hier der französische Text von Perrault als Vorlage gelten muss.

Eine sehr amüsante Veränderung erhält das Rotkäppchen-Märchen durch die Bearbeitung des Meininger Märchensammlers Ludwig Bechstein. Dort lockt der Wolf das Rotkäppchen vom Weg ab, indem er es auf Heilkräuter aufmerksam macht:

„Ihr seid gewiß ein Doktor, werther grauer Herr?“ fragte Rothkäppchen: „weil ihr die Heilkräuter kennt. Da könntet Ihr mir ja auch ein Heilkraut für meine kranke Großmutter zeigen!“
„Du bist ein ebenso gutes als kluges Kind!“ lobte der Wolf. „Ei freilich bin ich ein Doktor und kenne alle Kräuter, siehst du! Hier steht gleich eins, der Wolfsbast, dort im Schatten wachsen die Wolfsbeeren, und hier am sonnigen Rain blüht die Wolfsmilch, dort drüben findet man die Wolfswurz.“ –
„Heißen denn alle Kräuter nach dem Wolf?“ fragte Rothkäppchen. „Die besten, nur die besten, mein liebes, frommes Kind!“ sprach der Wolf mit rechtem Hohn. Denn alle die er genannt, waren Giftkräuter.

Solche mythologischen, literarischen, abergläubischen und in den Volksüberlieferungen dem Wolf zugeschriebenen Züge haben nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass er im Laufe der Zeit in Mitteleuropa ausgerottet wurde. Der letzte Wolf wurde 1904 in Hoyerswerda erschossen.

Holger Ehrhardt

Holger Ehrhardt, RC Kassel-Wilhelmshöhe, ist Professor für Germanistik mit dem Lehr- und Forschungsschwerpunkt Werk und Wirkung der Brüder Grimm an der Universität Kassel.