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Titelthema

Wind und Wasser und Furchen im Fels

Titelthema - Wind und Wasser und Furchen im Fels
Johan Christian Clausen Dahl Schlucht in der Sächsischen Schweiz, 1820 (Öl auf Leinwand) Der Norweger war ein Landschaftsmaler der Romantik und gehörte zum engsten Freundeskreis Caspar David Friedrichs in Dresden. Friedrichs Einfluss wird in Dahls Kunstauffassung und seiner Hinwendung zu einer stimmungsreich aufgeladenen Landschaftsmalerei erkennbar. © blauel/gnamm/artothek, yvonne böhler

In den Ferien verschwanden wir wochenweise in den entlegenen Teilen der Sächsischen Schweiz. Nur wenn wir Wasser brauchten, fanden wir in die Zivilisation zurück.

Thilo Krause01.08.2021

Ob ich das richtige Studienfach gewählt hatte, wusste ich bis zum Diplom nicht zu sagen. Ich quälte mich mit höherer Mathematik, mit überfüllten Seminaren und der dürftigen materiellen Ausstattung, aber das alles waren bestenfalls Rechtfertigungen, um nicht über meinen eigenen Weg nachdenken zu müssen.


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Zu mir zurück fand ich in der Sächsischen Schweiz – einer Landschaft, die mir zum Kraftort geworden ist, ganz ohne Esoterik. Semester für Semester stieg ich mit Kocher, Isomatte und einem Rucksack voller Bücher in die S-Bahn, fuhr das Elbtal Richtung tschechische Grenze hinauf, um mich alsbald in der Weite der Landschaft zu verlieren, wie es schon Caspar David Friedrich und Ludwig Richter getan hatten oder auch Anton Graff und Adrian Zingg, die beiden Schweizer Maler, von denen das Elbsandsteingebirge seinen Namen hat: die Sächsische Schweiz. Rechtselbisch der Nationalpark mit der viel besuchten Bastei, der schwindelerregenden Schrammsteinkette, den tiefen Gründen und Schluchten oder auch der Felsenbühne Rathen, wo in lauen Sommernächten unter freiem Himmel „Der Freischütz“ erklingt, während das Käuzchen über die Zuschauer fliegt und ruft. Links el bisch die Landschaft der Tafelberge und Kornfelder, wo uns in einer kalten Winternacht zwischen den Dörfern ein Luchs begegnete. Auf dieser Seite, ein paar Kilometer entfernt von der Festung Königstein, befindet sich der Gohrisch, einer meiner liebsten Fluchtorte von damals. Ein schroffes Felsriff, das eine von Touristen unbegangene Seite besitzt, die mit ein wenig Geschick und Orientierung leicht zu erreichen ist. Manchmal gewitterte es und ich floh vor dem Hagel unter einen Überhang. Manchmal waren die Tage grau, ohne Sicht. Von Böhmen herüber ergoss sich der Nebel und es zog ein eisiger Wind elbabwärts.

Wie ein Kreuzgang im Offenen

Aber wenn ich mich heute an diese Zeit erinnere, dann sehe ich mich unter einem hohen Himmel umherwandern. Der Wind geht durch die Kiefern. Ich bin barfuß, wie es die Kinder sind, halte das Skript einer Vorlesung in der Hand und streune auf dem Gohrisch umher. Runde um Runde, in denen ich den Prüfungsstoff vor mich hinspreche. Unter mir schwankt der Wald, wiegen sich die Kronen der Fichten, Kiefern und Birken, gegen Süden steigt die Pultscholle des Erzgebirges an, Richtung Westen sind golden der Elbkessel und Dresden zu erkennen.

Mein wind- und wasserdurchfurchtes Felsriff scheint mir heute wie ein wilder Kreuzgang im Offenen, den ich tausendfach durchschritt, nicht in mönchsgleicher Ruhe, ein wenig verzweifelt eher mit den Dingen, die ich zu lernen hatte, aber gleichermaßen getragen von dieser Landschaft und auch meinen Freunden. Abends trafen wir uns, legten bei gutem Wetter die Isomatten und Schlafsäcke direkt auf den Sandstein und schliefen unter den Sternen ein, um am Morgen direkt am Fels zu sein. Denn auch das ist die Sächsische Schweiz: die Wiege des Freikletterns.

Mit einem Kilo Kirschen zurück in den Berg

Als Kind hatte ich das immer gleiche Buch aus Vaters Regal gezogen, um das immer gleiche Foto aufzuschlagen: Mit weit ausgespreizten Beinen müht sich ein Mann ungesichert eine abschüssige Felsenkluft empor. Unter ihm ist schattenhaft Wald zu erkennen. Nicht auszudenken, welch fatale Folgen ein Fehltritt hätte. Genauso schwindelerregend: der Gedanke, wie der Fotograf seine Aufnahme machte. Jene gilbenden Schwarz-Weiß-Ansichten der Kletterväter waren es, die mich als Kind staunen ließen. Männer mit gestärktem Hemdkragen, Fliege und Cha peau claque auf ausgesetzten Bändern, als seien sie mal eben zum Plausch verabredet, oder ein störrisches Hanfseil um den Bauch, an Vorsprüngen hängend, um am Ende stolz auf ihren Gipfeln zu posieren, die auch unsere waren. In den Ferien verschwanden wir wochenweise in den entlegenen Teilen des Gebirges. Nur wenn wir Wasser brauchten, fanden wir in die „Zivilisation“ zurück, klingelten am erstbesten Haus und bekamen zum Wasser ein Stück Kuchen dazu oder ein Kilo Kirschen.

Dann tauchten wir wieder ab, fielen aus der Zeit, obwohl wir uns der Gegenwart stets bewusst blieben. Manchmal nachts zogen die Schleuser von Tschechien her durch den Wald. Über uns donnerte der Hubschrauber mit der Wärmebildkamera. Wir schreckten aus dem Schlaf und lauschten hinaus ins Dunkel. In diesen Momenten begriffen wir, was es bedeutete, ein Zuhause zu haben, wohin man leichten Herzens zurückkehren konnte.

Es sind diese Erlebnisse, die mich am Ende so erfolgreich durchs Studium trugen, dass ich für das Doktorat an die Eidgenössische Technische Hochschule nach Zürich gehen konnte. Die Disziplinen und Theorien, die sich während meines Studiums nie gefügt hatten, passten in der Forschung plötzlich zusammen. Manchmal scheint mir, dass mir die Sächsische Schweiz auf ihre Art die Welt aufgeschlossen hat. Die Weite der Landschaft fand sich in den Dingen wieder, die ich tat. Ich flog um die Welt, hielt Vorträge, besuchte Konferenzen. Und oft, auf irgendeinem Interkontinentalflug, kurz bevor ich in den Schlaf fand, sah ich mein Felsriff aufflackern – im Abendlicht ein zerfurchter Koloss über Feldern und Wald.


Städte

Pirna
Im Stadtteil Graupa schrieb Richard Wagner 1846 seine Oper „Lohengrin“, es gibt ein Wagner-Museum.

Glashütte
Die Kleinstadt ist für ihre Uhrenmanufakturen bekannt.

Ausflugstipps

Barbarine
Der bekannteste frei stehende Felsen im deutschen Teil des Elbsandsteingebirges gehört zum Massiv des Pfaffensteines beim Ortsteil Pfaffendorf der Stadt Königstein.

Kirnitzschtalbahn
Eine Fahrt mit der Kirnitzschtalbahn führt Reisende von Bad Schandau durch das Kirnitzschtal bis zum Lichtenhainer Wasserfall.

Thilo Krause
Dr. Thilo Krause wurde 1977 in Dresden geboren. Nach dem Studium des Wirtschaftsingenieurwesens in Dresden und London promovierte er an der ETH Zürich. Für seine Bücher wurde der Schriftsteller mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschien 2020 sein Roman Elbwärts im Carl Hanser Verlag.