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Interview

„Wir sitzen alle in einem Boot“

Interview - „Wir sitzen alle in einem Boot“
Festredner auf der Convention in Hamburg: Bundesminister Gerd Müller © Thies Ibold / Rotary International

Im Gespräch mit Bundesminister Gerd Müller. Über die Ziele der aktuellen Entwicklungspolitik, die besondere Bedeutung der Familienplanung und Rotary als strategischen Partner

01.08.2019


Zur Person

Dr. Gerd Müller ist Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. 2017 erschien „Unfair! Für eine gerechte Globalisierung“ (Murmann Publishers).

bmz.de


 

Herr Müller, seit Ihrer Ernennung zum Minister sind Sie bestrebt, nicht mehr von Entwicklungshilfe zu sprechen, sondern von Entwicklungszusammenarbeit – statt also der Vergabe von Almosen ist inzwischen viel von Win-Win-Situationen die Rede. Warum?
Die Globalisierung macht immer deutlicher, dass alles mit allem zusammenhängt: unser Reichtum mit der Ausbeutung Afrikas, unser Konsumverhalten mit dem Klima weltweit. Wir müssen entschlossen auf globale Herausforderungen wie Klimawandel und Bevölkerungswachstum antworten. Deswegen richten wir unsere Zusammenarbeit neu aus.
Wir können jedoch die Probleme der Welt nicht mit öffentlichem Geld lösen. Die klassische Entwicklungshilfe allein reicht bei den Überlebensfragen der Menschheit nicht aus. Erfolg beruht vor allem auf eigener Leistung.
Die Afrikaner haben sich selbst ehrgeizige Ziele mit ihrer Agenda gesteckt – und wir wollen sie dabei unterstützen. Afrika braucht vor allem wirtschaftliche Entwicklung. Wenn es uns gelingen soll, der Jugend Perspektiven in der Heimat zu bieten, dann müssen wir Jobs, Jobs und noch einmal Jobs schaffen. Die wird es nur geben, wenn private Unternehmen vor Ort investieren. Deswegen haben wir den Entwicklungsinvestitionsfonds mit bis zu eine Milliarde Euro auf den Weg gebracht, der deutsche Firmen – gerade auch aus dem Mittelstand – dabei unterstützen wird, in den Zukunftsmärkten Afrikas Fuß zu fassen und in Beschäftigung zu investieren. Das nützt der afrikanischen Wirtschaft – aber auch deutschen Unternehmen.
Neu ist auch, dass wir nicht mehr Gelder nach dem Gießkannenprinzip verteilen. Wir konzentrieren unsere staatliche Entwicklungszusammenarbeit auf die Umsetzung von Reformen. Ich sage ganz klar: Unsere Partner in Afrika müssen selbst mehr leisten. Denn Eigeninitiative ist der Schlüssel für Entwicklung. Das ist auch Kern unseres „Marshallplans mit Afrika“.

Wie genau?
Unsere Partnerstaaten müssen messbare Fortschritte in ihrer Regierungsarbeit vorweisen. Vor allem bei Demokratie, Kampf gegen Korruption, guter Regierungsführung, Einhaltung der Menschenrechte und einer transparenten Verwaltung der Einnahmen. Wer diesen Reformweg mit uns geht, dem bieten wir eine vertiefte Partnerschaft an.

Welche Länder sind das?
Mit Tunesien, Ghana und Elfenbeinküste haben wir eine solche Reformpartnerschaft geschlossen. Im Gegenzug für Reformen unterstützen wir die Länder verstärkt beim Aufbau von Rechnungshöfen oder der Steuerverwaltung. Ghana hat die Steuereinnahmen mit unserer Unterstützung vervierfacht. Mit Marokko, dem Senegal und Äthiopien verhandeln wir derzeit. Äthiopien sollten wir im Augenblick ganz besonders auf seinem Reformweg unterstützen. Nach 30 Jahren hat sich das Land umfassend geöffnet.In Staaten, die nicht bereit sind, grundlegende Reformen umzusetzen, werden wir unser Engagement herunterfahren. Aber von Hunger und Katastrophen bedrohte Menschen in den ärmsten Ländern lassen wir niemals allein.

Wo liegen derzeit die größten Herausforderungen?
Eine der größten globalen Herausforderungen ist das Wachstum der Weltbevölkerung. Jeden einzelnen Tag werden fast 400.000 Babys auf dem Planeten geboren, jedes Jahr wächst die Weltbevölkerung um 83 Millionen Menschen – einmal die Einwohnerzahl Deutschlands! Allein in Afrika wird sich bis 2050 die Bevölkerung verdoppeln – auf dann 2,5 Milliarden Menschen. Schon heute drängen auf dem afrikanischen Kontinent jedes Jahr 20 Millionen Jugendliche neu auf den Arbeitsmarkt – viele finden keine Beschäftigung. Diese Herausforderung wird sich gewaltig verschärfen, wenn nicht alle Verantwortlichen – vor Ort wie in den reichen Ländern des Westens – endlich gemeinsam an einem Strang ziehen und den jungen Menschen berufliche Perspektiven und so eine Zukunft im eigenen Land ermöglichen. Dann werden sich weitere Flüchtlingsströme in Bewegung setzen.

Das klingt in der Theorie gut. Wo setzen Sie praktisch an?
Ein wichtiger Pfeiler ist Bildung!
Bildung ist der Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben, für menschenwürdige Arbeit und die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Sie ist Kern der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Wir investieren in über 60 Ländern in Bildung, beispielsweise in den Schulbau in Jordanien, in Lehrerfortbildungen im Kosovo oder in die Handwerkerausbildung in Ghana. Dazu arbeiten wir eng mit der deutschen Wirtschaft, Kirchen und der Zivilgesellschaft zusammen.
Das Projekt „1000 Schulen für unsere Welt“ steht hierfür beispielhaft. Bei der Gemeinschaftsinitiative der drei kommunalen Spitzenverbände – Deutscher Städtetag, Deutscher Städte- und Gemeindebund, Deutscher Landkreistag – arbeiten wir eng mit Kommunen, Privatpersonen und Unternehmen zusammen. 71 Schulprojekte sind bereits in Planung, 15 Schulen wurden bereits eröffnet.
Und wir brauchen einen Technologietransfer. Hier kann die Politik potenzielle Partner aus unserer Industrie und in den Schwellenländern zusammenführen. Zu einer echten Entwicklungsperspektive gehören aber vor allem faire Märkte! Es ist nicht länger zu akzeptieren, dass in Ländern wie Bangladesch, Äthiopien oder Vietnam Menschen zu unwürdigen Bedingungen produzieren, damit wir hier möglichst billige Kleidung tragen können. Hier müssen sich die Industrieländer zu einer neuen globalen Verantwortungspartnerschaft mit den Entwicklungs- und Schwellenländern verpflichten. Das heißt: weltweite Einhaltung und Umsetzung der Menschenrechte und grundlegender Sozial- und Umweltstandards.

Sie sprachen von der Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Wie wollen Sie diese fördern?
Ebenfalls durch Bildung. Gebildete Frauen kennen eher ihre Rechte, können sich besser vor geschlechtsspezifischer Gewalt schützen und treffen häufiger selbstständige Entscheidungen.
Mit zunehmender Bildung der Mütter – das zeigen Angaben der UNESCO eindrucksvoll – sinkt auch das Risiko von ungewollten Schwangerschaften und der Kindersterblichkeit: Wenn alle Frauen in Entwicklungsländern
eine Grundschule besuchen würden, würde die Kindersterblichkeit um 15 Prozent sinken. Hätten sie eine Sekundarschulbildung, würde die Kindersterblichkeit sogar um knapp die Hälfte sinken. Die Gesellschaften profitieren somit unmittelbar von der Gleichberechtigung der Geschlechter.

Welche Zusammenhänge bestehen zwischen der Bildung der Frauen und der Bevölkerungsentwicklung?
Bildung, Gesundheit und wirtschaftliche Chancen für Frauen sind die wirksamsten Mittel gegen das Bevölkerungswachstum: Je höher der Bildungsgrad der Frauen ist, desto niedriger ist die Geburtenrate. Zudem werden jedes Jahr rund 90 Millionen Frauen ungewollt schwanger, weil sie entweder nicht aufgeklärt wurden oder keine Verhütungsmittel haben. Viele Frauen begeben sich in ihrer Not in zweifelhafte Hände, weil die medizinische Versorgung fehlt. Deswegen ist zusätzlich der Aufbau grundlegender Gesundheitsstrukturen wie Geburtsstationen und Krankenhäuser so wichtig. Das Entwicklungsministerium unterstützt diese Ziele unter anderem mit der Initiative für selbstbestimmte Familienplanung und Müttergesundheit.

Warum Familienplanung?
Tagtäglich kommen Tausende Kinder in Entwicklungsländern ungewollt auf die Welt, die Mütter sind selbst kaum dem Kindesalter entwachsen. Zur Versorgung der Kinder sind die Eltern und auch die Gesellschaften oft nicht in der Lage. Familienplanung kann den Eltern helfen, über die Zahl ihrer Kinder frei zu entscheiden und unerwünschte Schwangerschaften und Schwangerschaftsabbrüche zu vermeiden. Dazu brauchen wir Aufklärung über Verhütungsmethoden für Mädchen und Frauen. Wir wollen aber auch, dass die Männer Verantwortung übernehmen und bei den Beratungen teilnehmen. Über unsere Initiative für selbstbestimmte Familienplanung und Müttergesundheit haben wir bereits über 24 Millionen Paare unterstützt, sich vor ungewünschten Schwangerschaften zu schützen.

Wie reagieren die Partner vor Ort in den Entwicklungsländern auf derartige Vorstöße? Immerhin könnte es als Einmischung und Anmaßung der früheren Kolonialherren in die inneren Angelegenheiten empfunden werden, wenn die reichen Länder des Nordens und Westens nun den Ärmeren vorschreiben wollen, dass sie die Zahl ihrer Kinder reduzieren sollen.

Wir wollen ja keiner Familie vorschreiben, wie viele Kinder sie auf die Welt bringen darf. Wir helfen lediglich dabei, dass die Eltern so viele Kinder bekommen, wie sie haben möchten. Deshalb stoßen wir bei unseren Partnern vor Ort auf großes Interesse.
Wenn Mütter und Familien die Sicherheit haben, dass ihre Babys auch das Erwachsenenalter erreichen, dann sinken die Geburtenraten. Dafür gibt es inzwischen gute Beispiele. In Bangladesch bekamen die Frauen vor vierzig Jahren noch sechs Kinder, heute sind es zwei – wie in Europa. Die Erfolgsfaktoren waren der Ausbau des Gesundheitswesens und der Zugang zu Bildung für Frauen und Mädchen bis hin zur Gleichberechtigung. Auch in einigen afrikanischen Ländern gibt es positive Beispiele. Zum Beispiel in Ghana sind die Frauen vergleichsweise gleichberechtigt und haben Zugang zu Gesundheitsstrukturen.
In Nigeria arbeiten die Rotarier sehr erfolgreich mit der Regierung im Bereich der Familienplanung und dem Gesundheitswesen zusammen. Ich plane, das gemeinsame Projekt zwischen Rotary und unserem Ministerium noch in diesem Jahr zu besuchen und die Zusammenarbeit in den kommenden Jahren auszubauen. Zugesagt sind bereits 1,5 Millionen Euro für die Rotarier vor Ort.
Sambia hingegen geht einen anderen Weg. Dort ist die Regierung nicht bereit, Familienplanungsmaßnahmen aktiv zu unterstützen. Unter anderem deshalb ist die Kinderzahl mit fast fünf Kindern pro Frau nach wie vor hoch.

Welche Bedeutung hat Rotary als strategischer Partner der Politik in der Entwicklungszusammenarbeit?
Rotary ist ein ganz entscheidender und wertvoller Partner in allen Entwicklungs- und Krisenländern. Sie fördern weltweit Bildung und Ausbildung und haben für die Bekämpfung von Polio weltweit über zwei Milliarden US-Dollar gesammelt und investiert – und somit einen wesentlichen Beitrag dafür geleistet, dass Polio nahezu besiegt ist. Wir als Regierung, als Staat arbeiten in allererster Linie mit den Regierungen in unseren Partnerländern zusammen. Damit unsere Unterstützung jedoch wirklich erfolgreich sein kann, brauchen wir den Zugang zur Zivilgesellschaft, zu den gesellschaftlichen Strukturen in dem jeweiligen Land. Und diesen Zugang hat weltweit kaum eine Organisation so gut wie Rotary. Deshalb sind die Rotarier – die Clubs vor Ort in den Entwicklungsländern ebenso wie die Vertreter hierzulande – so wichtig.
Nicht zuletzt haben die Rotarier durch ihre globale Vernetzung etwas verstanden, was viele Politiker noch nicht verstanden haben: Dieser Planet, diese eine Welt erfordert von uns allen, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Wir können nicht mehr sagen, „Wir Deutsche … oder wir Amerikaner … wir konzentrieren uns auf unsere eigenen Probleme und wenden uns von der Welt um uns herum ab“. Wir alle tragen Verantwortung für diesen Planeten und die auf ihm lebenden Menschen. Auch das rotarische Prinzip, dass der Wohlhabende die Armen und Schwachen nicht allein lässt, ist ein Vorbild für unsere Politik. Als Christ setze ich mich für den Erhalt der Schöpfung, für Humanität, für ein Leben in Würde für jeden Menschen ein. Maßloses Gewinnstreben führt unseren Planeten an den Abgrund. Das erkennen immer mehr Menschen. Denn wir alle sitzen in einem Boot.

 

Das Gespräch führte René Nehring.