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Titelthema

Wo Deutschland einst zu Ende war

Titelthema - Wo Deutschland einst zu Ende war
Die hohen, weiten Sanddünen auf der Kurischen Nehrung gehören zu den Haupttouristenattraktionen © Plainpicture/Naturepl/Hamblin

Das Memelland an der Kurischen Nehrung hat eine wechselvolle Geschichte, die mit der deutschen eng verwoben ist. Vielen ist das Land bis heute ein Sehnsuchtsort.

Hermann Pölking01.07.2021

Im Jahr 2010 geben Alt-Präsident Richard von Weizsäcker und Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Buchreihe namens Die Deutschen und ihre Nachbarn heraus, die sich den Nachbarstaaten in jeweils einem Band widmet. Italien, Spanien und Großbritannien waren im Sinne der Geografie nie Nachbarn. Sie bekamen aber ebenso einen eigenen Band wie Russland. Denn bis 1917 war das Zarenreich Nachbar Deutschlands. Aber das war Litauen für mehr als zwei Jahrzehnte auch. Dem Alt-Präsidenten und Alt-Bundeskanzler war das baltische Land kein Buch wert. Dabei sind Litauer und Deutsche viel stärker verbunden, als es die meisten wissen.


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Litauische Familiennamen wie Buttgereit, Simoneit, Wowereit, aber auch Endrikat zeigen Vorfahren mit Beziehungen zu Litauen an. Man findet sie in jedem deutschen Telefonbuch. Kein Wunder, denn der nördliche Teil Ostpreußens wurde noch bis zum Jahr 1900 ganz allgemein als „Preußisch-Litauen“ bezeichnet. Regimenter der preußischen Armee, die dort aufgestellt wurden, trugen selbstverständlich den Zusatz „litauisch“. Wo einst der Tilsiter Käse zu Hause war, war das Litauische die Muttersprache vieler Menschen – im schmalen Streifen Preußens nördlich der Memel noch bis in die 1920er Jahre bei der Mehrheit.

Von der Maas bis an die Memel – das war das Programm einer deutschen Nationalbewegung. Jenes Land aber in den Grenzen, dass Hoffmann von Fallerslebens „Lied der Deutschen“ besingt, hat es so nie gegeben. Von der Maas bis an die Memel – das ist ein funktionierender Stabreim. Aber auch ab 1871 bildete der Fluss Memel auf diesen 112 Kilometern Länge nie die Grenze eines deutschen Staates. Hier im Osten reichte Deutschland noch als ein 140 Kilometer langer und bis zu 20 Kilometer breiter Landstreifen in das weite flache Land bis an die russische Grenze hinaus. Bis 1919 hieß der nördlichste Punkt des Deutschen Reichs „Nimmersatt“. In diesem direkt am Strand der Ostseeküste gelegenen 399-Einwohner-Dorf gab es eine „Immersatt“ genannte Gaststätte. „Nimmersatt und Immersatt, wo das Reich ein Ende hat“, war ein Merksatz im Geografieunterricht deutscher Schulen.

„Memelland“ nennt man in Deutschland das ehemalige Stück Ostpreußen nördlich des Flusses. Es hatte als „Memelgebiet“ von 1920 bis 1939 eine eigene staatliche Identität, wenn auch nie völlige Autonomie erlangt. Der Versailler Vertrag hatte bestimmt, dass das Land nördlich der Memel zum Januar 1920 vom Deutschen Reich abgetrennt werden sollte, weil dort die Mehrheit der Bevölkerung „litauisch“ sei. Die Litauer hatten 1919, nach fast 123 Jahren Zugehörigkeit zu Russland, einen Nationalstaat gründen können. Das Memelland wurde für drei Jahre eine Art französisches Protektorat. 1923 verleibte sich Litauen das Memelgebiet mit Gewalt ein. 1925 wurde es ihm in einer internationalen „Memel-Konvention“ zugesprochen. In Versailles hatte man Sprache mit „nationaler Gesinnung“ verwechselt. Aber die preußischen Litauer waren anders als die katholischen „Großlitauer“ seit 400 Jahren protestantisch. Freie Wahlen bewiesen, dass 90 Prozent der rund 130.000 Memelländer, die ab 1925 in einem weitgehend autonomen Memelgebiet lebten, nicht zum katholisch geprägten Litauen gehören wollten. Im März 1939 presste Hitler dem zu dieser Zeit ebenfalls diktatorisch regierten Litauen die Heimkehr des Memellandes in das Deutsche Reich ab. Das war seine letzte unkriegerische Eroberung. Die große Mehrheit der Memelländer war begeistert. Sechs Jahre teilten sie wieder das Schicksal Deutschlands. Und 1944 waren sie die ersten, die vor der Roten Armee nach Westen flohen.

Religiöse Spuren

Dem Reisenden, der heute an die Memel, den sagenhaften Hügel Rambynas (Rombinus), das Kurische Haff, die Nehrung und nach Klaipėda kommt, erschließt sich das Gebiet nicht mehr als „Land“. Litauen hat neue regionale und lokale Verwaltungsstrukturen über die alte Grenze hinweg gezogen. Keine zehn Prozent der Memelländer hatten nach 1945 als litauische Muttersprachler in das sowjetische Litauen zurückkehren dürfen oder müssen. Die Mehrheit von ihnen ist später in die Bundesrepublik ausgesiedelt. Sprachliche Spuren des Deutschen gibt es nur noch bei wenigen ganz Alten. Die religiösen Spuren sind deutlicher. Die kleinen protestantischen Gemeinden an Memel und Haff unterhalten noch immer große Gotteshäuser. In Šilutė (Heydekrug), Rusnė (Russ) und Nida (Nidden) sind sie beeindruckend. Diese Orte, wie auch das Zentrum von Klaipėda, zeigen ein Ortsbild, das uns Deutschen vertraut vorkommt. So auch das dörfliche Kintai (Kinten) am Haff. Einige Läden im heutigen Dorf zeigen an ihren Wänden stolz Reproduktionen aus der deutschen Zeit. Überhaupt werden die Spuren der deutschen Geschichte nirgendwo mit Absicht verwischt. Litauer mit Geschichtskenntnissen sehen nämlich die preußische auch als ihre Geschichte an.

Die Memel und ihr Delta-Arm Skierwith bilden heute die Grenze zwischen Litauen und der russischen Oblast Kaliningrad. Anders als zu Sowjetzeiten gibt es auf ihnen heute keinen Schiffsverkehr mehr. Der Natur hat das gutgetan. Die Memel mäandert in vielen Armen ins Kurische Haff. Die Mündungsarme bilden die Insel Rusnė. Dieses einmalige Wiesenland wie auch das nahe Minge ̇ am gleichnamigen Fluss sind nicht so spektakulär wie die Kurische Nehrung, mit dem sie einen Nationalpark bilden. Aber man bekommt die Idee einer Landschaft, die vielen Deutschen als „Ostpreußen“ noch immer Sehnsuchtsort ist.

Mehr Infos zum Thomas-Mann-Haus und weitere Kulturtipps gibt es unter rotary.de/a18215

Hermann  Pölking

Hermann Pölking ist Filmemacher und Buchautor. Seine Bücher Ostpreußen – Biographie einer Provinz und der historische Reisebegleiter Das Memelland – Wo Deutschland einst zu Ende war sind zurzeit nur als E-Books lieferbar. Sein Ostpreußen-Buch erscheint 2022 in einer aktualisierten Fassung.