Rotary Aktuell
Wofür wir stehen
Zur Wertediskussion und berufsethischen Positionierung von Rotary
Im Jahre 2007 erklärte der Deutsche Governorrat: „Rotary ist eine Wertegemeinschaft“. Auf Tagungen, im Rotary Magazin (zuletzt im „Standpunkt“ in Heft 6/2018), vor allem aber in den Clubs selbst wird seitdem intensiv über die Bedeutung moralischer Werte für das Selbstverständnis, das Miteinander und die Aktivitäten der rotarischen Gemeinschaft diskutiert.
Auch der RC Lüneburg hat einen Werteausschuss gebildet, der sich mit den ethischen Grundlagen Rotarys befasst. Darüber hinaus hat der Club mit Unterstützung eines Marktforschungsinstituts 300 Rotariern in Deutschland und 500 Personen auf der Straße die Frage gestellt: „Was verbinden Sie mit Rotary?“ Das Ergebnis war eindeutig: Nur wenige der Befragten konnten sagen, wofür Rotary eigentlich steht, selbst Rotarier gaben diametral entgegengesetzte Auffassungen über die Kernkompetenz ihrer Organisation zu erkennen. Dass über die Ausrichtung von Rotary weder in der Bevölkerung noch unter Rotariern eine eindeutige Vorstellung vorhanden ist, entfachte bei den Lüneburgern eine intensive Diskussion. Ein Ausschuss wurde ins Leben gerufen und bemüht sich seit nunmehr fünf Jahren um Klarheit über die Frage, wofür Rotary steht.
Insbesondere die Auseinandersetzung mit der Gründungsidee machte deutlich, dass bereits vor 113 Jahren der Wunsch und die Notwendigkeit im Mittelpunkt standen, einen Kontrapunkt zum zügellosen Kapitalismus der damaligen Zeit zu setzen. Nicht Egoismus und Gier, sondern Handeln zum Vorteil aller Beteiligten sollte die Basis des beruflichen Miteinanders sein. Gemeint ist genau der Anstand, den wir im beruflichen und privaten Miteinander heute ebenso häufig vermissen wie unsere Gründerväter damals.
Die Herausforderung
Rotary kann auf eine einzigartige Erfolgsgeschichte zurückblicken. Mehr als 1,2 Millionen Menschen aus verschiedenen Berufsfeldern engagieren sich in über 30.000 Clubs rund um den Globus; ein lebendiger Austausch in den Clubs, Distrikten und in der internationalen Organisation stiftet Freundschaft und fördert Völkerverständigung; vielfältige lokale und internationale Gemeindienstprojekte stärken Bildungsprojekte und kulturelle Infrastruktur, helfen Bedürftigen oder unterstützen die medizinische Versorgung weltweit.
Dieses Erfolgskonzept wurde jedoch so häufig kopiert, dass sich Rotary kaum noch von vielen anderen Interessenverbänden und Clubs unterscheidet, die alle gleichermaßen bemüht sind, Persönlichkeiten unserer Gesellschaft für sich zu interessieren und neue Mitglieder zu gewinnen. Als Konsequenz daraus
• verliert Rotary in den Kernländern immer mehr Mitglieder. Die Organisation erscheint vielfach nicht mehr attraktiv genug, um Menschen für ihre Ziele zu begeistern und die Freundinnen und Freunde einmal wöchentlich am rotarischen Tisch zu versammeln;
• nimmt die Identifikation mit der Organisation ab. Immer weniger Mitglieder tragen noch mit Stolz die rotarische Nadel oder geben sich öffentlich als Rotarier zu erkennen;
• stehen gerade talentierte junge Menschen Organisationen wie Rotary zunehmend zurückhaltend gegenüber und hinterfragen, welche Leitidee einer Organisation, für die sie sich engagieren sollen, zugrunde liegt;
• leidet zunehmend das rotarische Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Präsenz in den wöchentlichen Treffen geht kontinuierlich zurück, was die rotarische Freundschaft auf Dauer unterhöhlt;
• wird die Mitgliedergewinnung immer schwieriger. War es früher ein großes Privileg, von Rotary angesprochen zu werden, häufen sich heute die Absagen;
• ist das Ansehen von Rotary – im Gegensatz zu dem von Organisationen mit klarer inhaltlicher Ausrichtung wie UNICEF, Greenpeace oder Amnesty International – in der Öffentlichkeit gering;
• rangiert Rotary im nationalen Spendenranking nicht einmal unter den ersten hundert gemeinnützigen Organisationen. Kaum ein Mitglied käme heute noch auf die Idee, Rotary den persönlichen Nachlass zu überschreiben.
(vgl. zu diesen Punkten etwa die „Umfrage zum Strategieplan 2014“ unter: my.rotary.org/de/document/strategic-plan-survey-results-2017)
Ursachen für diese Entwicklung
Als Paul Harris und seine Mitstreiter im Jahre 1905 in Chicago den ersten Rotary Club gründeten, standen ihnen die Auswüchse eines zügellosen Kapitalismus unmittelbar vor Augen. Ungebremster Egoismus und stürmisches Wachstum drohten, das normative Band der Gesellschaft zu zerreißen. Vor diesem Hintergrund entwickelten die Gründerväter von Rotary die Idee, moralisch integre Persönlichkeiten aus verschiedenen Berufsgruppen zu versammeln, die in wechselseitiger Verbundenheit auch dem Gemeinwohl dienen wollen. Das tägliche Handeln der Rotarier sollte sich in Beruf und Gesellschaft an den Werten orientieren, die im Jahre 1932 dann von Herbert Taylor in der Vier-Fragen-Probe verbindlich formuliert wurden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Gründungsidee von Rotary jedoch zunehmend als „Charity“ verstanden. Nun sollten durch Sammeln von Spenden und tätige Mithilfe Projekte vornehmlich aus dem Sozial- und Bildungsbereich gefördert werden. Die Ursprungsidee, dass Rotarier dem Gemeinwohl dienen, indem sie ihr tägliches Handeln in Beruf und sozialem Umfeld an moralischen Werten orientieren und so vorbildhaft in die Gesellschaft hineinwirken, trat demgegenüber in den Hintergrund.
Dass Rotary heute seine Strahlkraft verliert, sich in zahllosen, unspezifischen Förderprojekten verzettelt, Schwierigkeiten hat, interessante neue Mitglieder zu gewinnen, und seine bisherigen Mitglieder kaum noch für die rotarischen Ziele motivieren kann, scheint hier seine Ursache zu haben.
Chancen für Rotary
Die Gründungsidee von Rotary hat demgegenüber nichts an Aktualität verloren. Im Gegenteil: In einer Welt, in der die Einkommens- und Vermögensunterschiede wachsen, nationale und internationale Konflikte zunehmen und gegenseitige Rücksichtnahme schwindet, ist sie aktueller denn je. Ein Blick auf die für alle Rotarier verbindliche Vier-Fragen-Probe macht deutlich, dass Rotary ursprünglich nicht primär als Serviceclub, sondern als Wertegemeinschaft konzipiert war. Die Probleme, für deren Bekämpfung Rotary einst gegründet wurde, sind keineswegs kleiner geworden, sie wurden nur zunehmend aus den Augen verloren.
Rotary muss sich daher nicht neu erfinden, sondern auf seine Gründungsidee einer Wertegemeinschaft rückbesinnen. Rotarische Freundschaft darf keine Floskel bleiben, sondern sollte auf einem ethischen Fundament ruhen. Die Gemeinwohlorientierung darf nicht in beliebigen Förderprojekten versanden, sondern muss im täglichen Handeln jedes Rotariers erkennbar sein. Wenn Rotary seine unverwechselbare Stellung zurückgewinnen will, muss die Organisation sich daher auf das Thema konzentrieren, für das sie einst gegründet wurde: die Berufsethik. Als Zusammenschluss von Führungspersönlichkeiten aus den unterschiedlichen Berufsgruppen unserer Gesellschaft ist Rotary hierfür prädestiniert wie keine andere Organisation auf dieser Welt.
Handlungsempfehlungen
Eine Konzentration von Rotary auf seine ursprüngliche Kernkompetenz, die Berufsethik, hätte praktische Konsequenzen. Die Themen, die bereits jetzt in vielfältigen Förderprojekten behandelt werden – Bildung, Entwicklung, Gesundheit – müssten stärker auf die berufsethische rotarische Kernkompetenz fokussiert werden. Folgende Beispiele für berufsethisch orientierte rotarische Projekte zeigen das Potenzial auf: Rotary sollte
• den Schulen der jeweiligen Region anbieten, im Rahmen von Berufsorientierung und Berufsethik im Unterricht oder in unterrichtsvertiefenden Projekten die Expertise von Rotariern unterstützend zu nutzen;
• im Jugendaustausch Schüler und Studenten auch weiterhin auf die Rolle als Botschafter der rotarischen Idee vorbereiten, durch anständiges Handeln in Beruf und Alltag gegen Egoismus, Gier und Korruption zu kämpfen;
• RYLA-Seminare mit einem anderen Verständnis von Leadership ausrichten: „Mit Anstand führen“;
• einen Rotary-Award ausloben, der für ethisch vorbildliches Handeln in unterschiedlichen Berufssparten vergeben wird;
• die beabsichtigte Rückbesinnung durch die Gründung eines wissenschaftlichen „Rotary-Instituts für Wirtschafts- und Berufsethik“ inhaltlich fundieren, dauerhaft in der Gesellschaft verankern und öffentlichkeitswirksam inszenieren.
Alle Rotarier sind aufgerufen, weitere Vorschläge für die praktische Umsetzung der berufsethischen Refokussierung der Organisation und des Clublebens zu unterbreiten.
Ergebnis
Um seine Attraktivität zu steigern, seinen Mitgliedern zu einem klareren Selbstverständnis zu verhelfen und die Verwendung seiner Mittel besser zu fokussieren, sollte Rotary sich auf seine Ursprünge als Wertegemeinschaft besinnen. Berufsethik könnte als Bindeglied zwischen den unterschiedlichsten Kulturen dazu beitragen, die rotarischen Freundinnen und Freunde wieder mit Stolz auf ihre Gemeinschaft blicken zu lassen und die Welt ein wenig anständiger zu machen.
Der Werteausschuss des Rotary Clubs Lüneburg