Titelthema
Zauberhaftes Kerzenlicht
Die Kerze ist ein kraftvolles Symbol im Christentum. Ihr mildes Licht steht für den Weg hinaus aus dem Dunkel, für Hoffnung, tiefe Sehnsucht und innere Heimkehr.
In der Adventszeit zünden wir gerne eine Kerze an. Das Licht der Kerze strahlt Geborgenheit und Milde aus. Wir fühlen uns in dem lebendigen Licht der Kerze daheim. Das Licht der Kerze ist anders als die grelle Neonbeleuchtung. Es ist ein mildes Licht. Es bewertet und beurteilt nicht. Wir haben den Eindruck, wenn wir vor der brennenden Kerze sitzen, dann dürfen wir so sein, wie wir sind. Das milde Licht der Kerze erhellt uns. Und es wärmt uns. Es wird uns warm in unserem Herzen.
Wenn wir in einem dunklen Zimmer eine Kerze anzünden, dann wird das ganze Zimmer hell. Aber es wird nicht ausgeleuchtet. Es ist vielmehr hell-dunkel. Das Dunkle ist aber nicht unheimlich. Es ist vielmehr angenehm. Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Besser, als über die Finsternis zu klagen, ist es, ein kleines Licht anzuzünden.“ So will die Kerze, die wir anzünden, nicht nur die Dunkelheit im Zimmer erhellen, sondern auch die Finsternis unseres Herzens. Es gibt manchmal im Menschen düstere Stimmungen, depressive Gefühle. Das milde Licht der Kerze ist eine Hilfe, diese düsteren Stimmungen aus unserem Herzen zu vertreiben.
Das Warten auf das Kommen Jesu
Die Adventszeit ist die Zeit des Wartens. Wir warten auf das Kommen Jesu, der das wahre Licht der Welt ist. Und die Adventszeit ist die Zeit, in der wir in Berührung kommen mit unserer Sehnsucht. Wir schauen auf die Kerze und spüren in uns, wie da alte Sehnsüchte in uns auftauchen, Sehnsucht nach Heimat, nach Geborgenheit, nach Liebe, nach Erfüllung. Wenn wir an Heimat denken, denken wir an die Kindheit. Aber Heimat ist etwas, was vor uns liegt. Ernst Bloch, der jüdische Philosoph, hat Heimat einmal definiert: „Heimat ist das, was jedem in die Kindheit scheint, und worin noch niemand war.“ Diese Sehnsucht nach Heimat ist in jedem von uns. Das Licht der Kerze erinnert uns an diese Sehnsucht. Die Psychologie sagt uns: Die vielen Süchte, unter denen heute zahlreiche Menschen leiden, sind letztlich verdrängte Sehnsucht. So ist es heilsam für uns, uns vor die brennende Kerze zu setzen. Wenn wir unsere Sehnsucht spüren, dann befreit uns das von unseren Süchten. Unsere Sucht kann wieder in Sehnsucht verwandelt werden. Wir sehnen uns nach absoluter Geborgenheit und Liebe. Aber wer das sofort haben will, wer das durch Alkohol oder Drogen erreichen will, der wird süchtig. Und er schadet sich selbst. Wenn wir aber die Sehnsucht in uns wachhalten, dann erkennen wir: Die absolute Geborgenheit und Liebe können wir uns nicht selbst machen. Sie vermag allein Gott zu erfüllen.
Ein Gebet zum Himmel schicken
In der Autobahnkirche in der Nähe von Baden-Baden – so erzählte mir der Mesner – kommen täglich Autofahrer vorbei, die haltmachen und eine Kerze anzünden und auf den Ständer am Marienaltar stellen. Es sind nicht die typischen Kirchgänger, die da in die Autobahnkirche kommen. Viele dieser Besucher tun sich schwer mit dem Beten. Aber sie möchten eine Kerze anzünden für einen lieben Menschen, der in Not ist, der krank ist, der vor einer Operation steht. Sie haben das Bedürfnis, etwas für den notleidenden Menschen zu tun. Eine Kerze zu entzünden – so sagt die christliche Tradition – heißt: dass das Gebet für den anderen so lange zum Himmel emporsteigt, wie die Kerze brennt. Und die brennende Kerze drückt unsere Bitte aus, dass Gott das Leben des Menschen, an den wir gerade denken, heller werden lässt, dass ihm wieder das Licht der Hoffnung aufleuchtet und dass die Kälte seines Herzens durch die brennende Kerze erwärmt wird.
Wenn ich einen Kurs für verwaiste Eltern halte, die ein Kind verloren haben, dann lade ich sie bei der Eucharistiefeier ein, ein Bild ihres verstorbenen Kindes in die Mitte zu legen. Bei den Fürbitten können dann die Eltern eine Kerze anzünden und sie zum Bild stellen. Dabei können sie sagen: „Ich zünde eine Kerze an für meinen Sohn, für meine Tochter.“ Wir zünden die Kerze an mit dem Wunsch, dass den Kindern das ewige Licht leuchten möge, wie wir in der Totenliturgie beten. Aber wir zünden das Licht auch an in der Hoffnung, dass das verstorbene Kind für die Eltern und seine Geschwister jetzt zum Licht wird. Wir vertrauen darauf, dass das Kind jetzt bei Gott ist. Und in Gott und bei Gott ist es selbst zum Licht geworden. So bitten wir, dass es für unser Leben ein Lichtblick ist, dass es unsere Trauer verwandelt und in unsere Dunkelheit wieder Licht bringt.
Das schnelle Glück ist flüchtig
Die brennende Kerze verzehrt das Wachs, aus dem sie geschaffen wurde. Das ist ein Bild auch für uns Menschen. Wenn wir zum Licht für andere werden wollen, geht das nur, wenn wir uns für andere hingeben. Wir erkennen in der Kerze den Sinn unseres Lebens. Der Sinn unseres Leben besteht nicht in erster Linie darin, dass wir um unser eigenes Wohlgefühl kreisen, dass wir ständig glücklich sein wollen. Wer ständig glücklich sein möchte, wer das Glück für sich kaufen möchte, der ist meistens höchst unglücklich. Wahrhaftes Glück erfahren wir, wenn wir uns hingeben und wenn durch unsere Hingabe das Leben anderer Menschen heller und heiler wird. Das Wachs, das sich in der Flamme verzehrt, ist ein Bild für diese Hingabe, durch die wir zum Segen werden für andere Menschen. Es gibt Kerzen, die nur zur Verzierung da sind. Sie werden nie angezündet.
So gibt es auch Menschen, von denen wir sagen: Er hat nie gebrannt. Er hat sich nie entzünden lassen für etwas, was ihn begeistert hat. Er ist nur um sich gekreist, damit ihm ja nichts fehlt. Aber es fehlt ihm das Brennen. Wer nie gebrannt hat, dessen Leben ist langweilig, dunkel, sinnlos. Und die Frage ist: Wofür brenne ich? Wofür lasse ich mich begeistern?
Die Bedeutung des Adventskranzes
Im liturgischen Jahr haben die Kerzen jeweils unterschiedliche Bedeutungen. In der Adventszeit zünden wir an jedem Adventssonntag eine Kerze mehr am Adventskranz an. Die vier Kerzen haben dabei eine jeweils andere Bedeutung: Die erste Kerze, die wir am ersten Adventssonntag anzünden, ist ein Bild für das Einswerden. Für die Griechen war die große Sehnsucht, eins zu werden. Eins zu werden mit sich selbst, aber auch mit der Natur und mit allen Menschen. Die große Not der Griechen war die Zerrissenheit. So zünden wir am ersten Adventssonntag die eine Kerze an, damit wir aus der Zerrissenheit in die Einheit kommen, von der Spaltung zur Ganzheit. Die zweite Kerze steht für die Polarität. Der Gegensatz von Mann und Frau, von rechts und links, von Jung und Alt möge durch das Licht Christi erleuchtet und dadurch zu einem einzigen Licht werden. Die dritte Kerze symbolisiert die Zahl Drei. Es gibt drei Bereiche im Menschen: Geist, Seele und Leib, oder Verstand, Wille und Gedächtnis. Alle drei Bereiche im Menschen sollen erleuchtet werden. Und die Vier steht für das Irdische, Alltägliche. Unser Alltag möge vom Licht Christi erhellt werden, die Konflikte mögen sich auflösen und in die Verstrickungen möge Klarheit kommen.
An Weihnachten hängen wir Kerzen an den Christbaum. Wegen der Feuergefahr schmücken wir heute den Christbaum meistens mit elektrischen Kerzen. In meiner Kindheit war es immer ein tiefes Erlebnis, wenn die Mutter uns mit der Weihnachtsglocke ins Wohnzimmer rief, das durch die brennenden Kerzen am Christbaum erleuchtet war. Aus der Dunkelheit in das Licht zu kommen, das berührt uns tief. In den Weihnachtsmetten in den evangelischen und katholischen Kirchen werden meistens am Schluss alle elektrischen Lichter in der Kirche ausgeschaltet. Nur der Christbaum leuchtet. Und im Licht des Christbaums singen alle das vertraute Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“. Das lässt niemanden unberührt.
An Ostern spielt die Kerze auch eine große Rolle. Da wird mitten in der Nacht eine große geschmückte Osterkerze am Osterfeuer angezündet. Und dann wird diese brennende Kerze in die dunkle Kirche getragen. Der Diakon singt dabei dreimal – immer einen Ton höher – das Lumen Christi = Licht Christi. Beim zweiten Mal werden die Kerzen der Ministranten entzündet und beim dritten Mal die Kerzen aller Besucher und die Kerzen, die auf den verschiedenen Altären in der Kirche aufgestellt sind. So wird die ganze Kirche vom Licht der Kerzen erhellt. Dann singt der Diakon das Exsultet, den großen österlichen Lobgesang. Er besingt das Licht des großen Königs, das jetzt alle umleuchtet. Und zum Schluss besingt er das Lob der Kerze: „Aus dem köstlichen Wachs der Bienen bereitet, wird sie dir dargebracht von deiner heiligen Kirche ... . Wenn auch ihr Licht sich in die Runde verteilt hat, so verlor es doch nichts von der Kraft seines Glanzes. Denn die Flamme wird genährt vom schmelzenden Wachs, das der Fleiß der Bienen für diese Kerze bereitet hat.“
Der Weg aus dem Dunkel
Die Kirchenbesucher nehmen sich ihre Osterkerzen mit nach Hause und entzünden sie daheim als Bild dafür, dass das Licht der Auferstehung die Finsternis des Todes überwunden hat. Und das Licht der Osterkerze erinnert uns an die Verwandlung, die an uns in der Taufe geschehen ist: „Einst wart ihr Finsternis, jetzt aber seid ihr durch den Herrn Licht geworden.“ (Eph 5,8) Viele Menschen haben Angst, in ihr eigenes Inneres zu schauen. Sie fliehen vor der Stille, aus Angst, da könnte ein Vulkan in ihnen hochgehen. Das ist eine pessimistische Sicht ihrer selbst. Man traut sich nicht, der eigenen Wahrheit zu begegnen, weil man meint, alles sei chaotisch und dunkel. Doch die christliche Botschaft sagt: das Licht Christi ist hinabgestiegen in das tiefste Dunkel meiner Seele und hat alles erleuchtet. So brauche ich vor nichts in mir Angst zu haben. Denn alles ist vom Licht Christi durchdrungen und verwandelt. Das gibt uns das Gefühl von Freiheit und Gelassenheit, von Frieden und Vertrauen. Der Epheserbrief sagt, dass wir selbst zum Licht werden, wenn wir alles in uns vom Licht Christi erhellen lassen. Das ist unsere tiefste Berufung, selbst zum Licht zu werden, zu einer brennenden Kerze, die die Dunkelheit aus den Herzen der Menschen vertreibt.
Buchtipp
Anselm Grün, Licht und Stille mit Bildern von Eberhard Münch, Vier-Türme-Verlag, 176 Seiten, 19 Euro
anselm-gruen.de
Dr. theol. Anselm Grün OSB ist Benediktinerpater, Referent zu spirituellen Themen, geistlicher Berater sowie Autor zahlreicher spiritueller Bücher. Er leitet die Benediktinerabtei Münsterschwarzach und ist einer der meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Anselm Grüns Bücher wurden in über dreißig Sprachen übersetzt. Zuletzt erschienen „Versäume nicht dein Leben“ (dtv 2017) und „Staunen - Die Wunder im Alltag entdecken“ (Herder Verlag 2018).
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