Titelthema
Zu viele Männer!
Frauen bilden die Hälfte der Gesellschaft und damit die Hälfte der IT-Nutzer. Warum werden sie bei der Entwicklung von KI vernachlässigt?
In der Schweiz wie auch im Rest der westlichen Welt sind die Berufe im Bereich der Digitaltechnik weitestgehend von Männern besetzt. Laut dem Bundesamt für Statistik stagniert der Frauenanteil seit zehn Jahren: 16 Prozent im Jahr 2010, heute 18 Prozent. Auf der Ebene der Abschlüsse ist die Situation ähnlich: Die HES-SO, die Westschweizer Hochschule für angewandte Wissenschaften und Kunst, hat zwar insgesamt 51 Prozent Frauen, aber in der Informatik sind es nur neun Prozent und in Wirtschaftsinformatik 18 Prozent. Auch die EPFL (École polytechnique fédérale de Lausanne) und die ETH in Zürich schneiden nicht besser ab. Dabei ist der Frauenmangel in der Informatik noch jung.
Während Frauen bei der Entwicklung von Maschinen nie eine Rolle spielten, waren sie bei der Erfindung des Programmierens entscheidend. Das erste Computerprogramm wurde Mitte des 19. Jahrhunderts von Ada Lovelace in England auf einer von Charles Babbage konstruierten mechanischen Maschine entwickelt. Im Jahr 1950 wollte Grace Hopper, dass Computer Englisch sprechen und nicht mehr eine schwer zu beherrschende abstrakte Sprache. Sie erfand die Kompilierung, ein Verfahren, das eine wortbasierte Programmiersprache in eine für eine Maschine verständliche Folge von Nullen und Einsen übersetzt. Der amerikanische Computer „Eniac“ wurde während des Zweiten Weltkriegs von Ingenieurteams gebaut und von sechs Mathematikerinnen programmiert, die unterbezahlt und unsichtbar waren. Denn der Grund, warum Frauen programmierten, war, dass Männer sich nicht für die Tätigkeit interessierten. Der Bau von Computern war ein Bereich der Ingenieurwissenschaften, in dem man Anerkennung finden und Karriere machen konnte. Das Programmieren galt lange Zeit als zweitrangige Arbeit, die man mit einem einfachen Mathematikabschluss erreichen konnte. Deshalb hatten paradoxerweise auch Frauen Zugang dazu: Sie waren immer nur die helfenden Hände, die die Berechnungen durchführten. Die Begriffe Hardware und Software sind ursprünglich geschlechtsspezifische Begriffe, die sich an den Personen orientierten, die sich mit ihnen beschäftigten, und an die die noch heute gebräuchlichen Begriffe der „harten“ und „weichen“ Wissenschaften anknüpfen, die ebenfalls geschlechtsspezifisch sind.
1969 machte Margaret Hamilton das Programmieren zu ihrem Beruf, indem sie das Bordsystem des Apollo-Raumfahrtprogramms entwarf, mit dem die Landefähre auf dem Mond gelandet war, obwohl die Astronauten sie falsch bedient hatten. Sie war die erste Person, die den Titel Software-Ingenieurin trug.
Der Umschwung in den 80er Jahren
Wenn ein Beruf in der Gesellschaft an Wert verliert, wird er feminisiert. Die Feminisierung der Lehrberufe (außer an den Universitäten) oder der Medizin (außer in Prestigefächern wie der Chirurgie) sind ein Beispiel dafür. Umgekehrt wird jedes Mal, wenn ein Wissensfeld an Bedeutung gewinnt, dieses maskulinisiert. In den 1950er Jahren wurden Stereotype geschaffen, um die billige Einstellung von Informatikerinnen zu rechtfertigen: Programmieren wurde als guter Beruf für Frauen beschrieben, denn wenn eine Hausfrau ein Abendessen programmieren konnte, konnte sie auch einen Computer programmieren. Ab dem Zeitpunkt, an dem die Computertechnik an Wert gewann, und insbesondere ab dem Zeitpunkt, an dem Software teurer wurde als Hardware, entstanden an den wissenschaftlichen Universitäten Abschlüsse. Und an diesen Universitäten gab es vor allem Männer. Dann tauchten weitere Stereotype auf, um diesen Wandel zu rationalisieren: Programmieren wurde als eine logische Disziplin beschrieben, die Maschinen und Abstraktem nahesteht. Für Frauen erschien sie unnatürlich, da sie angeblich ausschließlich zwischenmenschliche Beziehungen pflegten. Schnell geriet in Vergessenheit, dass Frauen die programmierenden Mathematikerinnen der ersten Stunde waren und dass das in jenen Jahren aufkommende Modell des asozialen Informatikers nur ein Sonderfall ist, der später emblematisch werden sollte.
Ein weiteres Phänomen, das diese Maskulinisierung beschleunigte, war der Einzug des Mikrocomputers in die Haushalte in den 1980er Jahren. Um die Mikrocomputer herum gruppierten sich junge Männer, die dem Stereotyp des Informatikers entsprachen, den man in den Filmen der Populärkultur sieht. Gleichzeitig kam der Mikrocomputer in die Unternehmen und ersetzte die großen Systeme der zentralisierten Informatik. So entstand eine falsche Kontinuität in der Darstellung zwischen dem Computer zu Hause und dem Computer im Unternehmen, obwohl die Praktiken und die Maschinen natürlich sehr unterschiedlich waren. Bei Eltern, Lehrern und Jugendlichen entstand die Vorstellung, dass man als Informatiker die erwachsene Version dieser Jugendlichen wird, die den ganzen Tag programmieren und spielen. Der Anteil der Frauen fiel zwischen 1980 und 1990 deutlich ab und erreichte im Großen und Ganzen das heute bekannte Verhältnis.
Nun lässt sich fragen, warum die mangelnde Geschlechterverteilung in der Informatik ein gesellschaftliches Problem darstellt. Gegenwärtig wird der digitale Wandel zu über 80 Prozent von einer Population weißer Männer aus höheren sozioprofessionellen Kategorien erdacht, konzipiert, gebaut und entwickelt. Diese große Homogenität führt zu zwei großen Problemen. Erstens zu einem Problem des Mangels: In der Schweiz sind die Leistungen von Mädchen und Jungen in den Naturwissenschaften identisch. Auch in vielen Nachbarländern gibt es keine signifikanten Unterschiede mehr zwischen Mädchen und Jungen in Mathematik. In diesen für die Wirtschaft des Landes strategisch wichtigen Berufen herrscht jedoch derzeit ein Mangel. Es ist problematisch, einen Pool an potenziellen Fachkräften aus Gründen, die nichts mit ihrer Kompetenz zu tun haben, links liegen zu lassen. Man kann sogar ohne Risiko behaupten, dass mehr Geschlechtervielfalt in den Studiengängen das allgemeine Niveau in den Schulen anheben würde, weil man damit aufhören würde, kompetente Wissenschaftlerinnen zu entmutigen, die es für sicherer halten, in die Medizin als in die Digitaltechnik zu gehen.
Die Daten werden sexistisch generiert
Die große Homogenität der Entwicklungsteams ist zweitens die Ursache für einen leicht verständlichen Gender Bias (geschlechterbezogener Verzerrungseffekt, d. Red.) in der Technik. Selbst wenn sie nicht aktiv sexistisch sein wollen, neigen Entwickler dazu, zuerst an die Technologie zu denken, die sie betrifft, und stellen sich fälschlicherweise vor, dass sie ein Universal repräsentieren. Als Gesundheits-Apps auf Smartphones erschienen, berücksichtigten sie das Gewicht, den Herzschlag, den Blutdruck, die Anzahl der Schritte pro Tag. Es dauerte jedoch Jahre, bis diese Apps endlich auch den Menstruationszyklus einbezogen. Während etwa die Hälfte der Bevölkerung möglicherweise an einer Überwachung der Menstruation oder der Empfängnisverhütung interessiert ist, war dieses Thema nur für zehn Prozent der Entwickler direkt relevant. Heute ist dieses Versäumnis korrigiert. Aber Sport-Coaching-Apps verwenden immer noch den Stoffwechsel von Männern als Referenzkörper.
Künstliche Intelligenz nährt sich von den Daten der Vergangenheit, um die Daten der Zukunft zu erzeugen. Diese Daten werden jedoch von einer immer noch sexistischen Welt generiert. Die KI wird somit zum Vergrößerungsglas unserer Voreingenommenheit. Heute werden etwa Männerstimmen spontan besser erkannt als Frauenstimmen. Das liegt nicht daran, dass Männerstimmen einfacher zu verstehen sind, sondern daran, dass die KI-Systeme mit einem Stimmenkorpus trainiert werden, der überwiegend aus Männern besteht. Die Lösung scheint einfach: Man muss nur die Trainingsdaten der KI mit einem paritätischen Stimmenkorpus neu ausbalancieren. Algorithmen sind seit Jahrzehnten darauf optimiert, tiefe Stimmen mit geringer Amplitude, also Männerstimmen, gut zu erkennen.
Die digitale Welt braucht einen Mix
Bei den Maßnahmen, die Frauen dazu bewegen sollten, in die Naturwissenschaften und in die Technik zu gehen, wurde viel Wert darauf gelegt, dass Frauen in Bezug auf Karriere und Beschäftigung davon profitieren würden. Dann haben die Vereinigungen von Wissenschaftlerinnen darauf hingewiesen, dass es sich um spannende Berufe handelt. Aber im Grunde ist das alles nicht überzeugend genug, denn es impliziert, dass, wenn es für Frauen besser ist, Wissenschaft zu betreiben, die Wissenschaft ihrerseits durchaus auch ohne sie weitergehen kann. Anhand der vorstehenden Beispiele wird deutlich, dass es nicht so sehr darum geht, der Beschäftigung von Frauen zu Hilfe zu kommen, sondern einem digitalen Wandel, der alle betreffen wird, aber nicht in der Lage sein wird, alle einzubeziehen.
Auch wenn der Mangel an Frauen im digitalen Bereich kein unabwendbares Schicksal ist, sind zwei grundlegende Maßnahmen erforderlich, die jeder Anregung vorausgehen müssen. Einerseits die Bekämpfung jeglicher Form von sexistischer und sexueller Gewalt, insbesondere in Bildungseinrichtungen, in denen Mädchen derzeit noch in der absoluten Minderheit sind. Zudem braucht es Schulungen aller Bildungsakteure sowie aller digitalen Manager, damit sie Gleichstellungsmaßnahmen umsetzen können.
In der Schweiz gibt es verschiedene Organisationen, die sich mit diesen Problemen befassen, etwa die Stiftung Impact IA mit ihrem Programm „My mentor is a woman“, die Schule 42 Lausanne, die das kleine Kunststück vollbringt, 25 Prozent weibliche Studierende zu haben und fest an eine Steigerung glaubt, oder das Projekt Gender/Digital, das jedes Jahr die Konferenz zur digitalen Transformation organisiert.
Künstliche Intelligenz schafft auch Bilder, die oft mit der Realität wenig zu tun haben. Sehen Sie hier, was der Bildergenerator Midjourney uns noch für Bilder zum Thema KI zusammengestellt hat: