NATO: Gipfeltreffen in Warschau
Zurück im Verteidigungsmodus
Beim Gipfeltreffen in Warschau wird sich die NATO an Gegebenheiten anpassen müssen, die noch vor drei Jahren kaum abzusehen waren
Künftige Historiker dürften in der Rückschau das Jahr 2014 als einen Wendepunkt in der internationalen Sicherheitspolitik herausstellen, der mit Blick auf die Folgen für die transatlantische Sicherheitspolitik mit dem 11. September 2001 vergleichbar ist. Natürlich war „Nine-Eleven“ dramatischer und hat sich als Jahrhundertereignis in das strategische Denken gerade der USA und ihrer Verbündeten eingebrannt.
Der Veränderungsdruck allerdings, der sich aus Russlands aggressiver Politik in Osteuropa und dem Zerfall des Nahen und Mittleren Ostens für die Nordatlantische Allianz ergibt, ist vermutlich ebenso groß. Die Mitgliedsstaaten der NATO sehen sich heute wieder in die „Artikel-5-Welt“ zurückversetzt, in der statt der Idee vom „Gemeinsamen Haus Europa“ das Primat der Abschreckung und Verteidigung (gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrages) gegenüber Russland dominiert. Gleichzeitig werden sie mit Gefährdungen durch islamistischen Terror und gewaltige Flüchtlingsströme konfrontiert, gegen die ein Verteidigungsbündnis wie die NATO nur bedingt gewappnet ist. Sicherheitspolitik 2016 sieht folglich grundlegend anders aus, als etwa 2013 allgemein angenommen wurde.
Im Juli 2016 treffen sich in die Staats- und Regierungschefs der NATO in Warschau, um über das weitere sicherheitspolitische Vorgehen zu beraten. Solche NATO-Gipfel sind stets so etwas wie der Taktgeber für die Anpassung der Allianz an neue Gegebenheiten. Sie finden deutlich seltener statt als die Gipfeltreffen der EU und haben meist drei Funktionen. NATO-Gipfel reagieren oft auf grundlegende politische Ereignisse, wie etwa den Fall der Berliner Mauer, der Aufnahme neuer Mitglieder oder – wie derzeit – auf eine völlig veränderte Situation in Ost und Süd. Zudem geben sie der politischen Führung der Allianz die Gelegenheit, Konsens über politische und militärische Richtungsentscheidungen zu finden. Außerdem fördert ein Gipfel auch die Entscheidungsprozesse auf der Arbeitsebene der NATO, weil ein anstehendes Treffen der „Chefs“ immer mit greifbaren Ergebnissen enden muss.
Rückkehr der Abschreckung
Der Warschauer Gipfel ist das zweite Spitzentreffen des Atlantischen Bündnisses nach der Zeitenwende, die Russland mit der Annexion der Krim und der gewaltsamen Veränderung der Grenzen in Europa eingeleitet hatte. Folglich wird sich ein wesentlicher Teil des Gipfels mit der Frage befassen, wie glaubhafte Abschreckung und Verteidigung angesichts einer offensichtlichen Bedrohung in Osteuropa wiederhergestellt werden können. Grundlegende Entscheidungen hatte die NATO dazu schon im September 2014 auf dem Gipfel in Wales getroffen und sich auf ein ganzes Maßnahmenbündel, den sogenannten „Readiness Action Plan“, geeinigt.
In den vergangenen beiden Jahren ist aber deutlich geworden, wie groß die Fähigkeitslücken bei der Mehrzahl der NATO-Mitglieder zwischenzeitlich geworden sind, wenn es um eine glaubwürdige Übernahme der Bündnisverpflichtungen gegenüber den Mitgliedsländern in Osteuropa geht. Jüngste Übungen haben gezeigt, dass die NATO-Streitkräfte mit dem von Russland in seinen sogenannten „Snap Exercises“ gezeigten raschen Streitkräfteaufwuchs nach wie vor nicht mithalten können. Die USA zeigen hier Führung und haben von sich aus bereits mit deutlichen militärischen Verstärkungen reagiert. Auch Deutschland bringt – zur Überraschung mancher Alliierter – die Bundeswehr als einen tragenden Pfeiler der Verteidigung Osteuropas ein. Ziel muss es sein, möglichst viele NATO-Mitglieder in Osteuropa militärisch präsent zu halten, um ein Signal der Stärke und Geschlossenheit zu senden.
Herausforderungen im Süden
Das zweite große Thema wird die Lage südlich der NATO-Grenzen sein. Der Zerfall des Nahen und Mittleren Ostens und das Aufkommen des Islamischen Staats (IS) bedeuten eine neue Dimension der Gefahr nicht nur für die südlichen NATO-Staaten. Von den gewaltigen Flüchtlingsströmen und der terroristischen Bedrohung ist ganz Europa betroffen. Kein Wunder, dass Bündnismitglieder wie Italien, Frankreich oder Spanien darauf drängen, nicht alle militärischen Verbesserungen auf Osteuropa zu beziehen, sondern auch die „Südflanke“ im Blick zu behalten. Problematisch ist aber, dass sich islamistischer Terrorismus, Migration und Staatszerfall kaum mit dem herkömmlichen verteidigungspolitischen Instrumentarium bewältigen lassen. Hier kann die NATO bestenfalls Unterstützungsleistungen anbieten. Allerdings hat die Allianz gezeigt, dass sie mit ihren jüngsten maritimen Aktivitäten in der Ägäis in der Flüchtlingskrise sehr wohl eine Rolle spielen kann, indem sie hilft, die Schleuserkriminalität einzuschränken.
Zu beiden Spannungsräumen – Ost und Süd – wird die NATO eine Vielzahl militärischer und politischer Entscheidungen treffen, um den neuen Herausforderungen begegnen zu können. Über diese Einzelentscheidungen hinaus werden von dem Warschauer Gipfel aber drei wesentliche Botschaften ausgehen. Zunächst wird deutlich werden, dass die USA ihre Bündnisverpflichtungen gegenüber Europa ernst nehmen und mit konkreten militärischen Maßnahmen glaubhaft unterfüttern. Das schien vor wenigen Jahren, als Washington die Hinwendung nach Asien – den sogenannten „Pivot to Asia“ – verkündete, noch keinesfalls sicher. Zweitens wird offensichtlich, dass auch die europäischen Bündnispartner die Zeichen der Zeit erkannt haben und mehr Ressourcen für Sicherheit und Verteidigung bereitstellen. Das wird den schon traditionellen Streit darüber, ob alle Mitglieder sich ausreichend an den Lasten gemeinsamer Sicherheitsvorsorge beteiligen, nicht beenden.
Zumindest ist aber der jahrelange Abwärtstrend bei den Verteidigungshaushalten gestoppt. Drittens wird die NATO das Signal vermitteln, dass Verteidigung gegen Russland und Zusammenarbeit mit Russland keine Gegensätze sein müssen. Je eher Moskau zu den Grundpfeilern europäischer Sicherheit – Unverletzlichkeit der Grenzen, territoriale Souveränität, freie Bündniswahl – zurückkehrt, desto eher bieten sich Möglichkeiten der Kooperation zu beiderseitigem Nutzen.
Gipfelentscheidungen spiegeln aber häufig nur sicherheitspolitische Momenttaufnahmen wieder. Beschlossen wird, was sich entweder als besonders dringlich erweist oder was derzeit im Kreis der 28 Mitglieder durchsetzbar ist. Längerfristige oder politisch heikle Fragen werden deshalb oft auf spätere Treffen auf Spitzenebene vertagt, wenn eine größere Klarheit herrscht oder wenn die politischen Rahmenbedingungen eine Diskussion möglich machen.
Eine neue Nuklearstrategie
Derzeit sind es zwei Fragen, die bereits jetzt eine Rolle spielen, die aber dennoch erst nach dem Gipfel erörtert werden dürften. Die eine ist die nach der langfristigen Strategie gegenüber Russland. Die aktuellen Schritte zur Verbesserung westlicher Verteidigungsfähigkeit sind richtig und wichtig, beantworten aber noch nicht die Frage, wie die Beziehungen mit Moskau langfristig gestaltet werden sollen. Wenn es – wovon auszugehen ist – bei einem konflikthaften Verhältnis zum Putin-Regime bleibt, so muss dieses Verhältnis administriert, das heißt in verlässliche Bahnen und Verfahren gelenkt werden, um plötzliche Eskalation oder Kurzschlusshandlungen auf beiden Seiten zu vermeiden. Wie so etwas aussehen kann, ist im Bündnis umstritten.
Ein weiteres Langfrist-Thema, an das man sich derzeit aufgrund politischer Sensibilitäten in den meisten NATO-Mitgliedstaaten noch nicht heranwagt, ist die Frage nach der künftigen Rolle nuklearer Abschreckung. Kernwaffen waren stets ein Faktor der internationalen Sicherheitspolitik, allerdings basierte die NATO-Nuklearstrategie bislang auf der Annahme, dass Russland sich als Partner versteht, der seine Kernwaffen nicht gegen die NATO instrumentiert.
Auch dies hat sich seit 2014 grundlegend geändert. Russland sieht die Partnerschaft mit der NATO als beendet an und nutzt seine Kernwaffen nicht nur als Ausweis seines Weltmachtanspruchs, sondern zunehmend auch als Drohpotenzial gegenüber NATO-Staaten. Man lässt nukleare Trägerflugzeuge entlang der NATO-Grenzen patrouillieren und droht Nuklearschläge gegenüber Polen oder Dänemark an. Nun besteht keinerlei Notwendigkeit, von Seiten der NATO mit gleicher Münze zu antworten und etwa über neue Kernwaffen oder neue Stationierungsorte zu sinnieren. Sehr wohl muss im Kreis der 28 aber ein politischer Konsens über die Grundfrage „Wie schreckt man wen und womit ab?“ gefunden werden.
Allein mit diesen beiden Themen dürfte der nächste NATO-Gipfel in spätestens zwei Jahren schon einen Teil seiner Agenda gefüllt haben. Fügt man noch die aktuellen Entwicklungen im asiatisch-pazifischen Raum hinzu, in dem ein militärisch ausgreifendes China zu Krisen und Konflikten führen kann, die ebenfalls die Sicherheit der NATO insgesamt betreffen, so ist die Zukunft der NATO als zentrale transatlantische Sicherheitsallianz unbestritten.
Weitere Informationen zur NATO und zum Gipfeltreffen in Warschau unter www.nato.int
Karl-Heinz Kamp ist seit 2015 Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.
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