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Hallo, Ina! Ich bin's – Ina!

 - Hallo, Ina! Ich bin's – Ina!
Die "Breakfast Queen": Ina Pinkney schloss 2025 ihr Restaurant. Doch Rotary Clubs besucht sie noch immer. © privat

Eine Polio-Überlebende und gefeierte Chicagoer Gastronomin spricht ihrem sechsjährigen Ich Mut zu.

01.10.2023

Meine früheste Erinnerung ist Schmerz. Mein Schmerz.

Wollstreifen aus einer Decke, die mein Vater zu Kriegszeiten auf dem Schwarzmarkt kaufen musste, wurden aus einem Topf mit kochendem Wasser geholt, ausgewrungen und um mein dünnes, schlaffes Bein gewickelt.

Dann folgten trockene Streifen, um die nassen zu bedecken, und schließlich ein Stück Öltuch, das um das ganze Bein gewickelt wurde. Dann das unendliche Warten, bis die Streifen abgekühlt waren, bevor sie ausgepackt und meine zarte rosa Haut mit Kakaobutter massiert wurde.

Mein Vater sagte, ich hätte nicht geweint. Er hat geweint.

Wie es begann

Am Labor Day 1944 war ich 18 Monate alt. Mein Vater hielt seine ausgestreckten Arme über mein Kinderbett, aber ich konnte nicht aufstehen. Ich versuchte es und fiel wieder hin. In dem Moment, als er meine Stirn berührte und das hohe Fieber spürte, wusste mein Vater, dass die Polio-Epidemie, die in New York City grassierte, nach Brooklyn gekommen war.

Mein Vater hob mich hoch und brachte mich zu Dr. Suna, der eine Praxis und eine Wohnung in unserem Haus hatte. Er drückte mich fest an sich, machte eine Lumbalpunktion, eilte in sein Labor und bestätigte die schlimmste Befürchtung aller: Polio.

Wir fuhren mit dem Auto von Dr. Suna zum Krankenhaus. Meine Mutter – schwanger mit meinem Bruder – und mein geliebter Großvater, der an Krebs erkrankt war und bei uns lebte, blieben zu Hause. Als mein Vater und Dr. Suna die Polio-Station sahen, in der die Kinder allein gelassen wurden und die Eltern nur einmal in der Woche für eine Stunde hinter Glaswänden zu Besuch kommen durften, waren sie sich einig, dass ich nach Hause gebracht und dort mit allen bekannten Vorsichtsmaßnahmen gepflegt werden sollte.

Als die grippeähnlichen Symptome und das Fieber abklangen, riefen sie den March of Dimes an, eine Wohltätigkeitsorganisation, die den Fokus auf die Gesundheit von Neugeborenen und Kleinkindern richtete. Sie verpassten mir eine lange Schiene für mein gelähmtes rechtes Bein, und alle beschlossen abzuwarten. Ein paar Monate später verlor ich die Fähigkeit, meinen Fuß nach oben zu bewegen, und die Schiene wurde in einen Gips umgewandelt, um "dem Senkfuß zu helfen". Die ganze Zeit über kämpften meine Eltern und Dr. Suna mit dem Status quo. Nichts konnte getan werden, und sie waren alle untröstlich.

Schwester Kenny und eine neue Methode

Mein Vater las, dass Schwester Elizabeth Kenny in New York City war. Sie war eine australische Krankenschwester, die wegen ihres Militärdienstes Schwester genannt wurde, die zu Hause Polioausbrüche behandelt hatte und feststellte, dass die von ihr verschriebenen "Hot Pack"-Behandlungen hilfreich waren. Sie sagte, die Muskeln seien verkrampft und müssten gedehnt werden, und dass die feuchte Wärme, gefolgt von sanften Übungen, helfen würde. Viele in der amerikanischen Ärzteschaft lehnten sie und ihre neuartigen Vorstellungen von Physiotherapie jedoch ab, ignorierten und schmähten sie.

Mein Vater rief jedes Hotel in New York City an, um sie zu finden, und als er schließlich mit ihrer Assistentin sprach, wurde ihm gesagt, dass die Schwester, um weitere Schwierigkeiten mit den Ärzten zu vermeiden, keinen Patienten außerhalb eines Krankenhauses behandeln könne. Niedergeschlagen legte mein Vater auf. Er setzte sich auf einen Stuhl neben meinem Bettchen und beobachtete mich die ganze Nacht. Am nächsten Tag rief er wieder an und sagte, er würde alles tun, damit die Schwester mich sehen könne. Sie willigte ein.

Mein Vater lieh sich ein Auto, fuhr nach Manhattan und holte eine große Frau mit einem großen Hut ab. Schwester Kenny saß auf dem Vordersitz, ihre Assistentin auf dem Rücksitz. Während der Fahrt zu uns nach Hause erkundigte sich Schwester Kenny nach Einzelheiten über den Beginn meiner Krankheit und was seitdem unternommen worden war. Mein Vater sagte, sie saß schweigend da, mit vorgerecktem Kiefer, als ob sie sich auf einen Kampf vorbereiten wollte.

Als mein Vater am Bordstein vor unserem Wohnhaus parkte, fragte die Schwester, ob der Arzt des Kindes anwesend sei. Als mein Vater dies verneinte, sagte die Schwester: "Ich steige erst aus, wenn er hier ist." Er rannte los, um Dr. Suna zu finden, der dann Schwester Kenny in unsere Wohnung begleitete. Meine Mutter öffnete die Tür und führte sie in die Küche, wo sie den Tisch mit Decken und Handtüchern bedeckt hatte. Ich saß auf dem Tisch, mit dem Rücken zur Wand, das Bein mit dem Gips vor mir. Bevor die Schwester mich begrüßte, bat sie ihre Assistentin um eine Schere. Sie schnitt den Gips ab und schleuderte ihn quer durch die Küche zum Mülleimer. "Das ist kein gebrochenes Bein!", rief sie. "Das ist Kinderlähmung!"

Das war der Beginn der heißen Packungen mit den aus kochendem Wasser gezogenen Wollstreifen. Einmal am Tag, manchmal zweimal. Ich weiß, dass ich nicht geschrien habe, aber ich erinnere mich an den gequälten Klang meiner eigenen gedämpften Stimme. Nach drei Monaten war ich mobil. Mein rechtes Bein war kürzer und mein rechter Fuß zwei Schuhgrößen kleiner, als er vorher war. Ich ging mit einem Gang, der das versuchte auszugleichen, wobei ich mehr auf den Fußballen trat, so dass man nicht wirklich erkennen konnte, wie viel kürzer mein Bein war.

Ich spielte selten mit anderen Kindern, da ich weder rennen, noch hüpfen oder springen konnte. Meistens saß ich mit den Erwachsenen auf dem Sammelplatz unter dem großen Baum vor dem Gebäude. Die Frauen brachten Küchenstühle nach draußen, bildeten einen Kreis und unterhielten sich. Ich wurde eine engagierte Zuhörerin und lernte, wie man sich unter diesem Baum mit Erwachsenen unterhält. Wenn ich etwas sagen wollte, musste es überzeugend sein, damit die Frauen mir Aufmerksamkeit schenkten.

Polio breitet sich aus

Was ich hörte: Kinos und Schwimmbäder wurden geschlossen, um die Ausbreitung von Polio zu verhindern. Eine Behinderung zu haben war ein Schicksal, das schlimmer war als der Tod. Und man ging ins Krankenhaus, um zu sterben. Als ich sechs Jahre alt war, wusste ich schon eine Menge.

Mein Gefühl des Andersseins wurde immer stärker. Ich war unsicher, weil ich verspottet wurde. Die Blicke der Erwachsenen irritierten mich. Und auch mein Körper verwirrte mich. Ich trauerte bereits um den Verlust, ganz zu sein.

Man sagte mir, dass ich ins Krankenhaus müsse. Und ich dachte natürlich, sie würden mich zum Sterben dorthin bringen. Mit sechs Jahren kann man nicht um ein nicht gelebtes Leben trauern, also akzeptierte ich, dass ich sechs Jahre von diesem Leben bekommen hatte, wie auch immer es hätte sein können. Ein Mann, über den kurz zuvor gespeochen wurde, war 49 geworden. Aber ich hatte keine Angst.

Zuspruch von Madeline

Gerettet hat mich das Buch Madeline von Ludwig Bemelmans. Diese Madeline war eine Schülerin, eines von einem Dutzend Mädchen in einem französischen Internat. Sie war furchtlos und ganz anders als alle anderen Mädchen. Während zum Beispiel alle vor dem Tiger im Zoo Angst hatten und sich zurückzogen, ging Madeline direkt zum Käfig.

Madeline ging ins Krankenhaus und kam mit einer Narbe am Bauch wieder heraus. Ich ging ins Krankenhaus und kam mit einer Narbe am Bein wieder heraus. Als ich nach der Operation aufwachte, dachte ich, sie hätten einen Fehler gemacht. Ich war noch am Leben und hatte das seltsame Gefühl, eine zweite Chance zu bekommen. In diesem Moment setzte meine Bewunderung für Madeline ein. Sie war meine Heldin und mein Vorbild. Wie sie würde ich meine eigenen Regeln aufstellen, mir mein eigenes Leben ausdenken und meinen eigenen Weg gehen. War ich immer erfolgreich? Nein. Aber ich habe es versucht, und ich habe eine Menge erreicht.

Wenn ich doch nur meinem sechsjährigen Ich hätte schreiben können, um ihr zu sagen, wie ihr Leben aussehen würde. Das ist, was ich gesagt hätte:

Meine liebe Ina!

Dein Leben hat auf die härteste Art und Weise begonnen: Polio im Alter von 18 Monaten, was zu einer Kindheit führte, in der Du ausgegrenzt, ignoriert, geächtet und schikaniert wurdest. Du wirst deine erste Lektion lernen, wenn du begreifst, dass Du freundlicher bist als die Menschen um Dich herum.

Dein Vater wird derjenige sein, der Dir beibringt, dass Du nur ein einziges Mal mehr aufstehen musst, als Du fällst. Und er wird immer da sein, um ein weiteres Rotes Meer der Unmöglichkeit zu teilen.

Du wirst Bill Pinkney heiraten, der allein um die Welt segeln wird.

Nach 36 Jahren, wenn Du verstanden haben wirst, dass er seine beste Zeit auf dem Meer und Du Deine beste Zeit an Land verbringst, wirst Du Dich scheiden lassen. Ihr werdet beide als bessere Menschen aus der Ehe gehen als zu Beginn – und keiner von Euch wird je vergessen, warum Ihr Euch geliebt habt.

Euer Leben wird sich wie ein Roman lesen und vielen wie ein Traum erscheinen. Du wirst mit Maya Angelou in Greenwich Village abhängen, Mikhail Baryshnikov in den Kulissen eines Theaters in Chicago über die Stirn wischen und mit Fred Astaire auf einer ihm zu Ehren gegebenen Party tanzen. Du wirst Fallschirmspringen, Wildwasserrafting und Tauchen ausprobieren, und Du wirst  in den Alpen und den Rocky Mountains auf Deinem gesunden Bein Ski fahren. Du wirst furchtlos sein, Ina, aber niemals leichtsinnig, und Du wirst Dich immer als den Macher in Deiner Geschichte sehen, niemals als das Opfer.

Du wirst versuchen, Deinen Platz in der amerikanischen Wirtschaft zu finden. Du wirst 21 Jobs haben und in 19 davon gefeuert werden, aber Du wirst aus jedem etwas lernen, das Du später brauchen – und nutzen – wirst.

Du wirst mit 37 Jahren Deinen ersten Kuchen backen und dabei eine seltsame und aufregende Freude empfinden.

Du baust eine Backküche, bringst Dir selbst das Backen bei und gründest 1980 ein Dessert-Catering-Unternehmen, als es so etwas noch gar nicht gab. Du wirst 1991 im Alter von 48 Jahren Dein Restaurant eröffnen und feststellen, dass es eine große Macht ist, unterschätzt zu werden. "Ina's Kitchen" wird die Frühstücks-Landschaft in Chicago für immer verändern.

Du wirst Julia Child und Wolfgang Puck verköstigen und auch Anthony Bourdain wird sehr freundlich zu Dir sein. Berühmtheiten und Politiker werden zu "Ina's" strömen, ebenso wie viele Chicagoer Köche, die vor Deinen Augen groß werden und Chicago zu einer kulinarischen Destination von Weltrang machen werden. Letztendlich wird man Dich als eine Unternehmerin kennen, die ihrer Zeit weit voraus war, nämlich als die Frau, die das Rauchverbot in Chicago durchsetzte, die Green Chicago Restaurant Coalition mitbegründete und ein Erfolgsrezept entwickelte, das Mitgefühl, hohe Ansprüche und schiere Willenskraft miteinander verbindet.

2023, ina pinkney, ina's kitchen, frühstück
© Agate Midway Verlag

Nach einer 33-jährigen Karriere, die Dir viel Glück und Herzschmerz bringen wird, findest Du Deine Ausstiegsstrategie und kannst Dich neuen, aufregenden Möglichkeiten zuwenden, um Dein Wissen und Deine Erfahrung zu nutzen. Du wirst ein Memoiren-/Kochbuch schreiben (Ina's Kitchen: Memories and Recipes from the Breakfast Queen), das Thema eines preisgekrönten Dokumentarfilms sein (Breakfast at Ina's) und eine monatliche Kolumne für die Chicago Tribune schreiben (Breakfast with Ina). Firmen werden Dich zu Konferenzen mitnehmen, um über Frühstück zu sprechen – und Du wirst endlich selbst frühstücken können!

Viele Jahre lang wirst Du mit aller Kraft versuchen, Dich anzupassen, um wie die meisten Polio-Überlebenden als normal durchzugehen. Zumindest bis die Spätfolgen der Kinderlähmung ihren Tribut fordern und Du neue Wege finden musst, um Dich fortzubewegen: zuerst mit einer Schiene, dann mit einem Stock, dann mit einer Gehhilfe und jetzt mit Roller und Rollstuhl. Aber Dein Leben wird immer noch ein Quell der Freude sein.

Was Du am meisten lieben wirst, sind die Beziehungen, die Dich aufrechterhalten, besonders zu den Mitgliedern von Rotary, die Du triffst, wann immer sie Dich einladen, vor Clubs zu sprechen und Deine Geschichte zu erzählen. Du wirst jedes Treffen als eine Ehre betrachten, und Du wirst sie annehmen, weil Du glücklich bist, all das zu teilen, was Du erreicht hast. Und: Du wirst nicht mehr sechs Jahre alt sein und Angst haben, dass Du nicht dazugehörst.


Ina Pinkney – genannt „Breakfast Queen“ spricht regelmäßig vor Rotary Clubs über Polio.