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Einsatz auf Lesbos

Hilfe für Flüchtlinge

Einsatz auf Lesbos - Hilfe für Flüchtlinge
© Pixabay

Einen eindrucksvollen Eindruck von ihrem Einsatz im Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos vermittelt Dr. Gretel Evers-Lang vom RC Alzenau, die als Zahnärztin im Nachfolgecamp von Moria Flüchtlinge behandelte.

03.05.2021

Januar 2021, Corona- Zeit. Wir alle haben unsere eigenen vier Wände lange genug angeschaut. Als Zahnärztin bin ich in der privilegierten Situation, arbeiten zu dürfen, jeden Tag Menschen zu sehen.  Ich behandle bis zu 35 Patienten am Tag, schütze mich mit FFP2-Maske, habe keine Angst.

Dann eine E-Mail: Doktor Jens Joachim Paarsch, mit dem ich vor fast genau zwei Jahren einen zahnärztlichen Hilfseinsatz mit "Zahnärzte ohne Grenzen"" auf den Kapverden geleistet hatte, fragt, ob ich "Lust auf einen Hilfseinsatz im neuen Geflüchtetenlager auf Lesbos" habe.

Was für eine Frage? Schon im vergangenen Jahr (2020), dem Corona-Jahr, hatte ich bei "Zahnärzte ohne Grenzen" angefragt, was möglich sei. - Nichts.

Auch für die großen NGOs (Non Government Organisationen) ist Moria ein schwer erreichbares Ziel. Nun diese Möglichkeit. Unfassbar.

Eine kleine NGO, bestehend aus einer Truppe von engagierten Briten, die sich bereits seit mehreren Jahren auf der Insel engagieren, hat auch im neuen Geflüchtetenlager bei Kara Tepe, wo die circa 8000 umgesiedelten Geflüchteten nun in Zelten leben, eine Dentalstation errichten können und sucht nach Zahnärzten, die dort behandeln würden.

Covid-19-Impfung für den Einsatz

Quarantäne: Drei Tage, kein Problem, denke ich, die Akkreditierung ist schnell erreicht, zudem: Man erfährt, dass Griechenland einen grünen Impfpass für Europäer voranbringen möchte, um Reisefreiheit für Geimpfte zu gewährleisten.

Dann der Glücksfall: Zahnärzte in Bayern werden in die erste Prioritätskategorie verlegt, was den Zugang zum Impfstoff möglich macht. Ein Traum, ich werde geimpft, bekomme die erste, drei Wochen später die zweite Impfung. Kein Problem denke ich, als es heißt, dass die Quarantäne in Griechenland auf sieben Tage für Ankömmlinge verlängert wird. Es folgen Anfragen meinerseits an die griechische Botschaft in Frankfurt am Main, die deutsche Botschaft in Athen, das Generalkonsulat in Thessaloniki, ein Anruf bei der Europäischen Union in Brüssel, Kontaktaufnahme mit UNHCR in Athen und Herrn Dr. Gerd Müller (Bundesminister für Entwicklung)... Jedoch meine Anfragen bleiben entweder unbeantwortet oder ich erfahre, man wolle sich nicht in ausländische Angelegenheiten einmischen. Von irgendeinem Amt in Griechenland erhalte ich einen Zweizeiler ohne Anrede, der da lautet: Sie müssen sich in siebentägige Quarantäne begeben. Die im Footer angegebene Telefonnummer ist nicht erreichbar.

Es ist Sonntag, der 7. März, mein letzter Kampfeswille weicht Resignation. Die Sonne scheint, alles sieht im Sonnenlicht weiß und bunt aus, ich bin in auf Lesbos angekommen …und in Quarantäne.

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Da, wo früher das Flüchtlingslager Moria war, ist nach dem Brand nur noch eine Wüstenei. © privat

Die Stadt, Mytilene, riecht um die Mittagszeit nach gedünsteten Zwiebeln und gerösteten Fleisch. Der Mini Market um die Ecke meiner bescheidenen, aber diesmal kakerlakenfreien Unterkunft (auf den Kapverden teilte ich mir das Domizil mit der pazifischen Riesenkakerlake) verfügt über ein umfassendes Warenangebot, insbesondere schmackhafte große Tomaten, sowie echten griechischen Schafskäse. Und ja, ich habe im Rahmen meines Einkaufs die Quarantäne-Regel überschritten.

Vermutlich könnten meine Eltern meine rebellische Art bestätigen. Gestern und vorgestern war ich noch zornig, nicht verstehend, warum ich als voll geimpfter Volontär nicht die Erlaubnis bekomme, zu arbeiten, heute… ich finde mich ab.

Warum ich den Einsatz mache

Es gibt wenige Gründe, auch für Griechen, die nicht in Quarantäne sind, ihre Behausungen zu verlassen: Lebensmittel einkaufen, Bankautomat aufsuchen, Menschen die Hilfe brauchen, unterstützen (Alte und Kranke), Hund ausführen, Sport treiben.

Also verkleide ich mich, wie so viele andere, in einen Jogginganzug und laufe durch die engen und steilen Gassen von Mytilene. Wunderbar, Freiheit. Ich begegne niemandem, außer mir selbst. Die Gedanken kreisen. Warum eigentlich bin ich hier? Oh ja, trotz allem, trotz mir auf erlegten Restriktionen, es gibt so viele Menschen auf der Welt, die unzureichend Zugang zu medizinischer Versorgung haben, und wie leicht ist es für mich, diese Zuwendung zu verschenken.

Ja, es ist etwas Organisation vonnöten, schließlich muss ich eine voll ausgelastete Praxis verlassen, und mich vertreten lassen. Zum Glück kann mich mein Ehemann — auch Zahnarzt — vertreten; er unterstützt mich so in meinem Vorhaben. Zudem: Ja, es kostet auch Geld — Reise Unterkunft, Verpflegung, mein Vergnügen. Warum tue ich das? Weil es Spaß macht. Strandurlaub, nichts für mich. Und auch sowieso nicht möglich.

Und dann: Hier wird es anders sein, als bei anderen Hilfseinsätzen, diese Menschen brauchen nicht nur medizinische Zuwendung; ihnen fehlt es an vielem mehr. Ich habe keine Angst, dem zu begegnen. Hier, denke ich, bin ich richtig.

Meine Helfer und Begleiter

Endlich ist die Quarantäne beendet, wir treffen uns im NGO-Haus zur Vorbesprechung, ich lerne Kini kennen, 26, Britin, die im letzten Herbst mit einigen anderen die NGO gegründet hat: C.M.A., crisis management association, eine Gruppe von etwa 50 jungen Menschen, die sich auf die Fahnen geschrieben haben, die Geflüchteten nicht nur medizinisch, sondern auch juristisch zu unterstützen, ihnen beim Weiterkommen zu helfen, sie durch den administrativen Dschungel zu begleiten und ärztliche sowie psychologische Ansprechpartner zu aquirieren.

Mit im "dental team" ist Rebecca, 25, aus Südafrika, die eine Banklehre gemacht hat, aber lieber von einem Flüchtlingscamp zum nächsten reist, mit Halbjahresverträgen (und einem Einkommen, das grade zum Überleben reicht), um sich organisatorisch einzubringen, denn auch Zahlen müssen verwaltet werden.

Und dann ist da Yasmin, die Wunderschöne, 21 Jahre alt, die mir gleichsam als Zahnarzthelferin assistieren wird und vor fünf Monaten aus dem Nordiran geflüchtet ist, weil sie, die sie Abitur gemacht hat, dort nicht studieren darf, mehrfach von der Universität abgelehnt wurde, weil sie eine Frau ist. Ihre Eltern haben ihr Geld gegeben, damit sie den Schlepper bezahlen konnte, und ihren 19 Jahre alten Bruder als Geleitschutz. Was für eine Vorstellung, beide Kinder auf einen solchen Weg ziehen zu lassen. Der Fußmarsch über die Berge in die Türkei war kalt und beschwerlich. (Nicht immer überleben alle. Verstörende Videos dazu kann man auf Instagram sehen.)

Yasmin und ihr Bruder haben es geschafft, zehn Stunden durch den Schnee, in gewöhnlicher, unauffälliger Kleidung und in Halbschuhen. Yasmin konnte sich bei der Ankunft im Lager tagelang nicht bewegen, hatte schwere Rheumaschübe, ihr Bruder musste sie waschen, kämmen, ihr beim Bekleiden helfen, ihre Zähne putzen, so berichtet sie.

Aufgrund ihrer schweren Grunderkrankung ist sie privilegiert, darf in einer von der NGO angemieteten Wohnung in Mytilene wohnen, ebenso wie Hasan, der die zahnärztliche Station leitet, sich um die Dienstpläne kümmert und in engem Austausch mit dem Team der medizinischen Betreuung steht, denn hier werden die "Tickets" für die Zahnbehandlung vergeben.

Hasan, 28, spricht exzellentes Englisch, ist halb Iraner, halb Somalier, über seine Geschichte spricht er nicht viel, außer, dass er vier Jahre lang als Zahnarzthelfer im Iran gearbeitet habe. Sein Traum: in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kanada als psychologischer Mitarbeiter Geflüchteten zu helfen. Hasan ist seit eineinhalb Jahren auf Lesbos und noch nicht als asylberechtigt anerkannt, so wie alle, die noch im Camp sind.

Zusammenarbeit mit anderen Fachleuten

Meinen Kollegen, Jens Joachim Paarsch, kenne ich von unserem gemeinsamen Einsatz für "Zahnärzte ohne Grenzen" auf den Kapverden, wir haben uns seitdem nicht gesehen, werden aber eine sehr gute und ergänzende Zusammenarbeit in den kommenden Tagen haben. Jens ist der unerschrockene Chirurg unter uns beiden, der souverän auch einen matschigen Weisheitszahn aus einem somalischen Stahlkiefer herausoperiert.

Wer in der Runde heute fehlt ist Elyas aus dem Iran, 24 Jahre alt, der ein abgeschlossenes Zahnmedizinstudium hat und ebenfalls als Zahnarzthelfer, wie Yasmin, in der Zahnstation tätig ist.

Er ist schon ein knappes Jahr im Camp, ja, natürlich zuvor in Moria, das im September 2020 abgebrannt ist. Elyas wohnt mit vielen anderen jungen Männern in einem der sehr großen Zelte im Kara-Tepe-Lager, darf das Camp nach 18 Uhr nicht verlassen.

Es gibt ein Briefing, ich erfahre, dass die Menschen, mit denen ich es zu tun haben werde, Schlimmes erlebt haben, traumatisiert sind, Opfer von Gewalt in jeglicher Form. Kinder, so höre ich, seien besonders schwer zu behandeln, müssten bei der zahnmedizinischen Behandlung festgehalten werden. Ich artikuliere, dass ich eine derartige Anwendung von erneuter Gewalt ablehne und lerne, dass sich Menschen zum Teil um drei Uhr nachts anstellen, um ein Behandlungsticket zu erlangen, da diese pro Tag vergeben werden und dies nur begrenzt, somit sei die Erwartungshaltung der Eltern hoch, dass, wenn man sich schon bei vier Grad Kälte stundenlang angestellt habe, auch eine Behandlung zu erfolgen hätte.

Tatsächlich werde ich in der kommenden Woche unter anderem  zahlreiche Kinder behandeln, deren Eltern nachts im Zelt mit den schmerzgequälten Kindern keine Ruhe gefunden haben, dies zum Teil seit Tagen. Keines der Kinder wird geweint haben, jedes wird sich freiwillig behandelt haben lassen. Wie das möglich ist? Ich habe ein wenig "gezaubert", Kinderbehandlung ist viel Suggestion, die Basis ist Vertrauen.

Yasmin hat in meiner Zeit in Kara Tepe durch umsichtiges und liebevolles Zuarbeiten und außergewöhnliche Begabung, mein gesprochenes Wort quasi simultan zu übersetzen, einen großen Anteil am Behandlungserfolg gehabt. Der schönste Moment für mich: als fünf Mitarbeiter von C.M.A., auch aus der medizinischen Abteilung und vom Orga-Team, in meinem Behandlungscontainer standen, weil ich einen vierjährigen Patienten hatte und sie gehört hatten, dass die Kinder trotz Spritze und invasiver Behandlung bei mir nicht weinen, schreien und festgehalten werden müssten. Das wollten sie sehen (und haben sie).

Tickets für eine Behandlung

Am kommenden Morgen werde ich von Rebecca eingewiesen, der Transit durch den Haupteingang ist zunächst etwas holperig, denn ich habe noch keinen Ausweis, die strengen Wachposten lassen mich durch, als Hasan meinen deutschen Kollegen und mich am Camp-Eingang abholt.

Für den heutigen Tag sind 15 Tickets vergeben worden, nicht sehr viel denke ich, erfahre aber, dass meist noch vom medizinischen Team für akut erachtete Schmerzfälle dazukommen.

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Ein Container, ein einfacher Behandlungsstuhl, eine Leuchte, ein paar Medikamente und ein altes Bohrset - fertig ist die Zahnklinik in Kara Tepe. © privat

Die "Zahnklinik" ist in einem Container untergebracht, der aus zwei kleinen Räumen besteht, fließendes Wasser gibt es nicht, aber ein umfangreiches Sortiment an — leider sehr unsortiertem — Material und Instrumentarium sowie — ein echter Lichtblick — ein deutsches Sterilisationsgerät. Dazu zwei Klappstühle und Behandlungsmotoren, die zusammen mit dem benötigten Kompressor in einer Art Koffer untergebracht sind und bei Benutzung einen ohrenbetäubenden Lärm machen. (Nicht umsonst bringt man in Zahnarztpraxen den Kompressor immer im Keller unter.) Ich sortiere das von mir mitgebrachte Material und sichte, was vorhanden ist.

Meine Patienten kommen überwiegend aus Afghanistan, einige aus dem Iran und Somalia. Sie sind höflich, artikulieren sehr genau ihren Bedarf und sind meiner Behandlung gegenüber aufgeschlossen, auch, wenn ihre Erwartungshaltung zuweilen nicht dem Machbaren entspricht.

Das Argument "so würde ich es auch machen, wenn du mein Bruder wärst" oder "auch in Deutschland würde ich keine andere Behandlung durchführen können außer, den Zahn zu ziehen" schafft immer Vertrauen. Im Allgemeinen kann man gute und nachhaltige Zahnmedizin machen, da hochwertiges Material und zuverlässig funktionierende Arbeitseinheiten zur Verfügung stehen. Was anders ist, als bei meinem Einsatz auf den Kapverden: Ich versuche um jeden Preis, jeden Zahn zu erhalten, denn irgendwann, so glaube ich, wird es jeder meiner Patienten geschafft haben, eine Zukunft an einem anderen Ort zu haben, wo ein zunächst provisorisch versorgter, aber erhaltungswürdiger Zahn stabil weiterbehandelt werden kann. Meine Bilanz an gezogenen Zähnen für die Zeit meines Aufenthaltes ist sehr übersichtlich, überwiegend habe ich Wurzelbehandlungen vorgenommen, auch bei Milchzähnen, was meiner Zusatzqualifikation als Kinderzahnärztin geschuldet  ist.

Eine halbe Stunde für jeden Patienten

Der Zustand der Zähne ist sehr divers, die meisten, die zu mir kommen, haben, um es vereinfacht auszudrücken, sehr viele Löcher und sehr viel Angst. Die Tickets werden im Halb-Stunden-Rhythmus vergeben, wir sind angehalten, immer nur einen Zahn zu behandeln. Ich halte mich an die halbe Stunde aber nicht an die ein-Zahn-Vorgabe. Das behandelte Maximum bei einem Patienten in einer Sitzung waren fünf Füllungen, er kam wieder, wie auch andere, damit ich weitermachen konnte.

Mein jüngster Patient war vier Jahre alt, meine älteste Patientin 54, die meisten zwischen 17 und 25. Da kam zum Beispiel Cismaan aus Somalia, Mitte 40, sehr groß, gelbe, blutunterlaufende Augen, der mantraartig wiederholte "j´ai peur, j´ai tellement peur" (ich habe Angst, ich habe furchtbare Angst) und mit Wirkungseintritt der Anästhesie auch für eine Weiterbehandlung (hier hätte ich einen Zahn ziehen müssen) nicht zu gewinnen war. Oder die süße Ayla aus Afghanistan, 17 Jahre alt, die mit ihrer Strick-Beanie-Mütze, dem übergroßen Kaputzenhoodie, einer Löcher-am-Knie-Jeans und weißen Sneakern aussah wie eine "Streat-Style-New York"-Bloggerin, und mich anstrahlt, als ich ihr das sage. Die Kleiderkammer des UNHCR am Camp-Eingang macht's möglich. Oder Marian, auch aus Afghanistan, die schwanger ist und in Begleitung eines etwa 10 Jahre alten Mädchens kommt, aussieht, wie 30 und die Mutter des Mädchens, aber in Wahrheit erst 19 und ihre Schwester ist. Überhaupt, auch Navid, Baran, Farzad, Ali, Dalmar, Hadiya, aus Afghanistan, dem Iran oder Somalia, alle zwischen 17 und 24 Jahren alt, die allermeisten von ihnen sehen zehn Jahre älter aus, als sie sind.

Und ich, die ich selbst Mutter von vier Kindern in dieser Altergruppe bin, denke mir, was für ein Schmerz muss es für die Eltern gewesen sein, diese Söhne und Töchter ziehen zu lassen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Yasmin sagt, sie wäre nicht gekommen, wenn sie gewusst hätte, was sie erwartet. Damit meint sie das würdelose Bitten um Asyl, das ewige Anstehen, für Essen, für Geld, für juristische Beratung, für medizinische Versorgung, für Kleidung,  für einen Coupon für die viel zu wenigen warmen Duschen, den gibt es nur einmal die Woche, für Ausgang aus dem Lager, auch das ist nur einmal in der Woche möglich. Aber, sagt Yasmin, zurück, das geht nicht mehr, auch, wenn sie zu denen gehört, die ihren Eltern berichtet haben, wie es wirklich ist, und nicht, wie andere, vor den bunten Häusern von Mytilene Selfies machen und ihrer Mutter schreiben, dass sie in diesen Häusern wohnen und es ihnen gut geht, damit die Mütter sich zu Hause nicht grämen.

Ihre Mutter hat gesagt, komm zurück, aber Yasmin weiß nun, wie es ist, eine freie selbstbestimmte Frau zu sein, sie möchte Hebamme werden, arbeiten. Im Iran winkt ihr Verheiratung und die Herrschaft eines Ehemannes, keine Aussicht auf Reise- und Entscheidungsfreiheit.

Keine Fotos, bitte!

In der Pause zeigt Rebecca mir das Camp, Fotos sind unter Strafe verboten, Polizei ist am Lager sehr präsent. Das Argument: Nach dem vernichtenden Brand auf dem Moria-Gelände musste das Lager Kara Tepe auf einem ehemaligen Militärgelände innerhalb von wenigen Tagen errichtet werden. Und Militärgelände fotografiert man nicht!

Auf Instagram kann man dennoch Bilder finden, die die Situation auf dem Camp darstellen. Wer diese Bilder gemacht hat, erfährt die griechische Behörde lieber nicht, letzten Monat erst ist ein Geflüchteter, der Bilder gemacht und Reportagen offensiv veröffentlicht hat, aus dem Lager verbannt worden.

Was man in den deutschen Medien liest oder sieht: Ja, es entspricht dem, was ich sehe. Dicht an dicht stehen die weißen Zelte vom Roten Kreuz oder UNHCR, in denen zehn bis 20 Personen, je nach Familiengröße, wohnen. Geschlafen wird auf Matten, Betten gibt es nicht. Was man nicht sieht, sondern wissen muss: Die Zelte sind Sommerzelte, nicht für den kalten Winter, den wir in den vergangenen Monaten hatten, geeignet. Selbst jetzt ist es nachts noch bis zu vier Grad Celsius kalt. Als das Moria-Camp abbrannte, im September, waren keine Winterzelte vorrätig, man nahm, was man bekam.

Warum unterdessen die von der Österreichischen Regierung gestifteten Wohncontainer am Athener Flughafen nicht freigegeben werden, weil Nutzungszertifikate fehlen, kann man nur mit europäischem Bürokratieverständnis akzeptieren.

Auch jetzt brennt es fast jeden Tag. Die seinerzeit aus dem Boden gestampfte Elektrizitätsversorgung gerät durch die zu Hunderten vom UNHCR gegen die Winterkälte ausgegebenen Heizöfchen an ihre Grenzen, es kommt häufig  zu Schwelbränden.

Dank der aus Zeltplanen, einem 20-Liter-Kanister als Reservoir und einer 1,5-Liter-Plastikflasche als Duscheinheit selbstgebauten Waschvorrichtungen steht an vielen Stellen schnell verfügbares Wasser bereit, die Camp-Bewohner, so erfahre ich von Rita, die für das DRK im Camp Hygienemaßnahmen betreut, sind inzwischen so routiniert im Löschen von Bränden, dass der ehemals am Eingang von der Feuerwehr geparkte Löschzug abgezogen wurde.

Covid-19 ist nicht sehr verbreitet

Es ist ein sonniger Tag, ich sehe Menschen, die sauber gekleidet einer Beschäftigung nachgehen. Nur Schuhwerk scheint Mangelware zu sein. Kinder spielen, kleine Gruppen von jungen Männern stehen beisammen und unterhalten sich, hier und da eine Schlange, wo es etwas abzuholen gibt. Das Gelände ist ein wenig staubig, lehmig-sandiger Boden, der sich in den kommenden Tagen, als das Wetter umschlägt, in eine Matschlandschaft verwandelt.

Ein unbewohntes Areal mit größeren Wohncontainern, umgeben von einem hohen Zaun, fällt mir auf. Das ist die Quarantänestation für Covid-19-Infizierte. Seit Beginn des Jahres habe es nur einen einzigen Fall im Camp gegeben. Alle, ausnahmslos alle Bewohner, tragen medizinische Schutzmasken. Wer unsicher ist, kann sich am Camp-Eingang testen lassen. Getestet wird auch, wer neu anlandet, letzte Woche waren es nur 24; im Vergleich zum selben Zeitraum des Vorjahres, als 653 kamen, eine sehr geringe Zahl.

Mich wundert nicht, dass so viele versuchen, die kurze Passage von nur sieben Kilometer über die Meerenge mit dem Boot zu überwinden, die türkischen Berge kann man sehr gut vom Ostufer der Insel sehen. Mich wundert, dass es trotzdem jede Woche einige Boote schaffen, das begehrte europäische Eiland zu erreichen, denn im Hafen von Mytilene liegen drei sehr große graue blankgeputzte Militärschiffe und eines von der Küstenwache, die sich mit Einbruch der Dunkelheit in Bewegung setzen.

In den Straßen von Mytilene findet man kleinere und große Grafittys, teils wie zufällig auf einen Stein gekritzelt, der lose auf der Mülltonne am Hafen liegt, die verlautbaren, was dann passiert. ("stop deportation", "stop pushbacks", you pushback, you murder", "Europa, Festung oder der Ägäische Friedhof”).

Kein Müll im Camp

Das Camp ist sauber, kein Müll ist zu sehen, das Geheimnis: ein Areal mit sehr großen schwarzen Müllsäcken, diese mit Steinen beschwert, da ihr Inhalt leicht vom Wind weggetragen werden könnte. Jeder Bewohner kann sich morgens (wenn er in der Schlange anstand) eine 1,5-Liter-Plastikflasche Trinkwasser holen. Da bei derzeit 7300 Menschen im Camp der unkontrollierte Abfall schnell unübersichtliche Ausmaße annahm, führte man Müllsackausgabestellen ein, an denen man für eine kleine Gratifikation (nicht mehr als zum Beisspiel ein süßer Snack) den gefüllten Sack auch wieder abgeben kann.

An frischen Betonrillen und 1,5 Meter hohen Abgrenzunsgmauern zum Meer hin erkennt man die stetige Überschwemmungsgefahr durch die Meeresbrandung, der so getrotzt werden soll. Noch sehr lebendig sind die Bilder vom Januar mit überschwemmten Zelten.

Jeder hat zu tun, jeder bringt (s)eine Geschichte mit

Wer, wie ich, dachte, die Camp-Bewohner wissen nicht, etwas mit ihrer Zeit anzufangen, irrt. Wer sich dafür entscheidet, an einer Schlange anzustehen, entscheidet sich im selben Moment dafür, auf eine andere Schlange zu verzichten. Essen, warmes Wasser, Ausgang, Geld, Zahnbehandlung — das muss man also wollen. Ich habe auch einen Patienten, Amin, 19, aus Syrien, groß, dunkelblond, grüne Augen, der nur zur Zahnsteinentfernung kommt. Er arbeitet für CMA im medizinischen Team. Tiam und Mahan, die Anfang 20 sind und deren Zähnen man das täglich im Camp ausgegebene süße Frühstücksbrötchen und das Fruchtsaftkonzentrat ansieht, outen sich mit "auf Wiedersehen", wollen mir aber nicht verraten, warum sie schon in Deutschland waren und jetzt – wieder -  im Camp sind.

Jeder hier hat seine Geschichte, keiner ist "nur Geflüchteter", jeder ist Sohn, Schwester, Mutter, Vater, Bruder und die Jüngeren oft einfach nur alleine. Die Sprache der Verständigung ist Englisch. Allein in Afghanistan gibt es zwei Hauptsprachen. Alle eint die Zuversicht, dass es ein "danach wird alles gut" gibt. ("Wenn ich erstmal nicht mehr im Camp bin und mein Asylantrag genehmigt ist...")

Das ist es, was mich am meisten betrübt. Viele von ihnen kamen ohne Dokumente, keine Ausbildungsnachweise, keine Ausweise, keine Identität. Die Schlepper, sagen sie, nehmen ihnen die Ausweisdokumente ab. Europa — Festung! — keine Dokumente, kein Schulabschluss, keine Perspektive auf Weiterbildung... Der Weg der Anerkennung ist mühsam. Da muss man einen langen Atem haben, um die Zuversicht nicht zu verlieren.

Sie sind wie wir

Meine Zeit ist beendet, mein temporärer Arbeitsplatz war laut, die Arbeitshaltung unergonomisch, die Material- und Instrumentenauswahl ungewohnt, die Schwere der Erkrankungen gehäufter, als ich es aus meiner Praxis kenne. Die Menschen aber sind wie wir: Cysman, Ayla, Navid, Baran, Farzad, Ali, Dalmar, Hadiya, jung oder alt, zunächst ängstlich, dann vertrauensvoll und schließlich dankbar, und ich habe das getan, was ich auch zu Hause mache, nämlich meinen Beruf ausgeübt, der der schönste ist, den ich mir vorstellen kann. Jetzt schon vermisse ich Rebecca, Hasan, Elyas und Yasmin, aber wahrscheinlich werden sie, sollte ich wiederkommen, nicht mehr da sein, und das wünsche ich ihnen von Herzen.

Dr.  Gretel Evers-Lang
RC Alzenau