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Rückwärts zum Erfolg

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In der Bekämpfung der Coronapandemie von den Japanern zu lernen heißt, den Blick zurück zu wagen, denn zumeist findet sich dort die Quelle der Infektion. © kazuki wakasugi/picture alliance/associated press

Deutschland warnt Menschen, die sich womöglich bei Coronainfizierten angesteckt haben. Japan macht es andersherum und sucht die Quelle der Infektion. Mit großem Erfolg. Ist „Backward Tracing“ die bessere Strategie?

Eva Wolfangel01.01.2021

Eine Videokonferenz mit Hitoshi Oshitani vom japanischen Unterausschuss für die Kontrolle neuartiger Coronavirus-Krankheiten habe ihm die Augen geöffnet, sagt der US-Spezialist für Infektionskrankheiten KJ Seung. Ihm sei klar geworden, wieso das, was bislang in den USA gemacht werde, um die Kontakte von Covid-19-Patienten zu finden und zu isolieren, so wenig Erfolg hatte, erklärt Seung. Als Mitglied der gemeinnützigen Organisation „Partners In Health“ hilft er, das Kontaktnachverfolgungsprogramm in Massachusetts, USA, umzusetzen.

Die Quelle der Ansteckung finden

Während die meisten Staaten Kontaktpersonen warnen, also Menschen, an die Infizierte das Virus möglicherweise weitergegeben haben, macht Japan es genau andersherum. Und das mit großem Erfolg, wie Seung zugeben muss. Er setzt diese Methode seither auch im US-Bundesstaat Massachusetts um. „Mit retrospektiver Kontaktnachverfolgung können wir Cluster viel gezielter finden; wir können mehr Fälle identifizieren und auf viel effizientere Weise.“

Hinter der Strategie steckt die Erkenntnis, dass vor allem „Superspreader“ die Pandemie vorantreiben. Rein statistisch gesehen ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass derjenige, der den Infizierten angesteckt hat, das Virus auch an eine Reihe anderer Personen weitergegeben hat. Um ihn herum bildet sich ein so genannter Cluster, eine Gruppe Infizierter. „Wir versuchen, die Quelle der Infektion zu finden, denn da muss irgendwo ein Cluster sein“, erklärt Oshitani.

Im Juni schätzten Forscherinnen und Forscher der London School of Hygiene and Tropical Medicine, dass etwa 80 Prozent der Übertragungen von rund zehn Prozent der Infizierten ausgehen. „Mit der klassischen, nach vorne gerichteten Methode muss man viel mehr bestätigte Fälle identifizieren, um ein Cluster zu finden.“ Ist hingegen einer aus dem Pool der zehn Prozent gefunden, werden dessen Kontakte wieder klassisch, nach vorne gerichtet verfolgt – schließlich hat er wahrscheinlich weitere angesteckt.

Bei der „retrospektiven Kontaktnachverfolgung“ sucht man deswegen jene Kontakte, die ein Patient hatte, bevor er infiziert war. So versucht man, die Quelle seiner Ansteckung zu finden. Diese Vorgehensweise beruht auf der Erkenntnis, dass die meisten Covid-19-Infizierten niemanden anstecken, während nur wenige das Virus an andere weitergeben. Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber ihre Bedeutung für die Bekämpfung der Pandemie sei von den Verantwortlichen in Europa und den USA bisher unterschätzt worden, erklärt die Techniksoziologin Zeynep Tufekci: „Länder, die diese Charakteristik des Virus übersehen, riskieren das Schlechteste aus zwei Welten: harte Restriktionen, die noch dazu kaum helfen, die Verbreitung des Virus zu stoppen.“

Dabei sei die Theorie einfach zu erklären, sagt Tufekci in einem Webinar des Berkman Klein Center for Internet and Society der Harvard University, zu dem auch KJ Seung und sein japanischer Kollege Hitoshi Oshitani, der als einer der Pioniere hinter dem japanischen Ansatz gilt, eingeladen sind. Dieser Ansatz, der sich unter anderem mittels retrospektiven „contact tracing“ auf die Entdeckung von Clustern konzentriert, hat Japan relativ niedrige Zahlen beschert – ohne ausgefeilte Überwachungstechnologie, ohne einen strikten Lockdown, trotz weniger Tests und trotz einer dicht zusammenlebenden Bevölkerung.

Auf den k-Wert kommt es an

Die Öffentlichkeit diskutiert meist den R-Wert, der besagt, wie viele Menschen ein Infizierter durchschnittlich ansteckt. Doch sehr viel entscheidender für die Frage, wie die Pandemie bekämpft werden kann, ist ein anderer Wert: k drückt aus, wie gleichmäßig weitere Ansteckungen auf die ursprünglichen Infizierten verteilt sind. Je kleiner dieser Wert, umso ungleicher ist die Weitergabe verteilt – umso weniger Menschen verursachen also die Mehrheit der Infektionen.

In der Studie vom Juni kam die Arbeitsgruppe auf der Basis chinesischer Daten zu einem k-Wert von 0,1 – bei dem ungefähr zehn Prozent der Infizierten 80 Prozent der weiteren Ansteckungen auslösen. Sie rät, sich bei der Bekämpfung der Pandemie auf diese Superspreader zu konzentrieren. Sars und Mers hatten übrigens ähnlich niedrige k-Werte, was auch erklärt, wieso einige asiatische Nationen besser auf diese Art der Verbreitung vorbereitet sind. Demgegenüber wies die Grippepandemie von 1918 beispielsweise einen k-Wert von rund 1 auf – sie verbreitete sich also deutlich gleichmäßiger.

Noch ist unklar, welche Eigenschaften einen Menschen in die eine oder andere Gruppe befördern. Unter anderem wird darüber spekuliert, dass eine feuchte Aussprache einer der Faktoren sein könnte. Ein niedriger k-Wert könne jedenfalls Grund zur Hoffnung sein, betont Zeynep Tufekci: Schließlich finden die meisten Infektionsketten von selbst ein Ende.

Diese Erkenntnis zeigt aber auch, dass die westliche Praxis der Kontaktnachverfolgung wenig effizient ist und eigentlich fast immer die falschen Fälle findet: Denn wenn 80 oder gar 90 Prozent der Infizierten das Virus quasi nicht weitergeben, kann man sich sparen, deren Kontakte aufzuspüren und zu isolieren. Sie werden mit großer Wahrscheinlichkeit nicht infiziert sein. Und wenn sie es sind, geben sie das Virus wiederum mit relativ großer Wahrscheinlichkeit nicht weiter.

Findet man einen, findet man viele

Nur: Wie lässt sich herausfinden, ob eine infizierte Person zu diesen 90 Prozent gehört oder zu jenen zehn Prozent, die andere anstecken? Nicht, indem man die Kontakte das Infizierten verfolgt, die er möglicherweise infiziert hat, sondern indem man versucht herauszufinden, wer ihn infiziert hat. Denn diese Person ist nachweislich im Pool der zehn Prozent, die das Virus weitergeben.

In der retrospektiven Kontaktnachverfolgung werden also die Aktivitäten des Infizierten bis zu 14 Tage vor seiner Ansteckung rekonstruiert. „In den meisten Fällen findet sich die Quelle der Infektion in den fünf bis sieben Tagen vor Symptombeginn“, erklärt Oshitani, „in vielen Fällen sind es sogar nur drei bis fünf Tage.“ Das Ziel sei, diese Quelle zu finden und zu sehen, ob sie das Virus an andere weitergegeben hat. Ist die Methode nicht viel aufwendiger als das hiesige, in die Zukunft gerichtete Tracing? Das kommt ganz drauf an. „Der Hauptunterschied ist, dass man weiter in die Vergangenheit schaut“, erklärt Akira Endo von der London School of Hygiene and Tropical Medicine. Das kann auf den ersten Blick aufwendiger wirken. Wenn es aber andererseits dazu führt, dass Cluster schneller entdeckt werden, spart es an diesem Ende wieder Tracing-Arbeit: Denn wenn ein Cluster schnell entdeckt und die Ausbreitung gestoppt ist, müssen künftig weniger Kontakte jener Betroffenen nachverfolgt werden. Endo hat das mit Kolleginnen und Kollegen mathematisch modelliert. Die Studie geht davon aus, dass die Kontaktnachverfolgung zwei- bis dreimal effektiver sein kann, wenn sie auf die japanische Weise mit der retrospektiven Variante kombiniert wird.

„Wir haben gezeigt, dass diese Kombination einen großen Unterschied bei der Verhinderung weiterer Übertragungen machen kann, wenn sie schnell und in großem Maßstab umgesetzt wird“, erklärt Endo. Allerdings müsste der Prozess gut organisiert und koordiniert sein: Eines der größten Probleme der Rückverfolgung sind die Verzögerungen – und wenn die identifizierten Kontakte eines nachweislich ansteckenden Kontakts bereits weitere angesteckt haben, besteht die Gefahr, diese Infektionsketten nie wieder einzuholen. 

Da zwischen zwei „Generationen“ Infizierter durchschnittlich vier bis sechs Tage liegen, muss die Rückverfolgung von Kontakten in einem ähnlichen Zeitrahmen geschehen – sonst zieht die Infektionskette weiter. Zudem lasse sich die Methode gut verbinden mit einer anderen Erkenntnis, sagt Hitoshi Oshitani im Webinar: nämlich mit jener, laut der das Virus vor allem in geschlossenen Räumen, Orten mit vielen Menschen sowie in engem Kontakt übertragen wird. Wenn die Kapazitäten der Kontaktnachverfolger ausgeschöpft sind, sei es sinnvoll, zunächst lediglich diese Events im Leben eines Infizierten etwa fünf bis sieben Tage vor Beginn von dessen Symptomen zu identifizieren. Die Wahrscheinlichkeit ist am größten, dass er sich bei einer solchen Gelegenheit angesteckt hat. Zudem können dann Cluster zügig identifiziert werden, also Gelegenheiten, bei denen sich möglicherweise viele Menschen auf einmal infiziert haben.

Eva Wolfangel

Eva Wolfangel ist Journalistin, Speakerin und Moderatorin. 2019/20 war sie als Knight Science Journalism Fellow am MIT und in Harvard, USA. 2018 wurde sie als European Science Writer of the Year ausgezeichnet. Sie schreibt und spricht über Wissenschaft, Informatik, Digitalisierung, Bildung, Hirnforschung und Technikethik.

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