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Interview über «Post-Polio-Syndrom»

»Viele Patienten trifft die Diagnose wie ein Schock«

Das Post-Polio-Syndrom ist eine Folgeerscheinung von Kinderlähmung und tritt mehrere Jahrzehnte nach der Infektion auf. In Deutschland lwird die Zahl der daran Erkrankten auf höchstens 100.000 geschätzt. Matthias Schütt hat mit dem Neurologen Andreas Christoph Arlt (RC Bad Bramstedt) über die Betroffenen gesprochen.

04.10.2013

Wie groß ist die Gruppe der Patienten mit Polio-Erkrankung bzw. mit Post-Polio-Syndrom in Ihrem Wartezimmer?
Da das Klinikum Bad Bramstedt für die Polio-Behandlung zertifiziert wurde, kommen zu uns immer wieder Patienten, oft von weit her, die unter den Spätfolgen der Kinderlähmung leiden. Insgesamt ist die Gruppe aber überschaubar, denn die Kinderlähmung ist in Deutschland seit den 1960- er Jahren überwunden. Wir haben es mit Patienten zu tun, die sich vor Einführung der Schluckimpfungen mit Polio infiziert haben, also zumeist vor 1960 geboren wurden. Die Zahl der Betroffenen schwankt, ich schätze sie auf höchstens 100.000 in Deutschland. Allerdings benötigen diese Patienten besondere Aufmerksamkeit.

Warum?
Das Post-Polio-Syndrom äußert sich in verschiedenen Symptomen, die erst 30 bis 40 Jahre nach der Polio-Erkrankung auftreten. Dann erleben diese Patienten einen unerklärlichen Leistungsabfall, klagen über Gliederschmerzen, Mattigkeit, auch Atemnot. Wer sich als Arzt mit dem Krankheitsbild Kinderlähmung nicht auskennt, könnte dann zu einem Trainingsprogramm zur Leistungssteigerung neigen. Das ist aber genau falsch. Polio-Patienten müssen sich schonen. Je nach Einzelfall kann man allenfalls an ein moderates Ausdauertraining denken.

Wie stellen Sie fest, ob jemand an Polio leidet oder gelitten hat?
Mit der Elektromyographie messen wir die elektrische Aktivität der Muskulatur. Bei Polio-Patienten zeigen sich typische Veränderungen in ihrer Zusammensetzung. Da wir es mit eher älteren Patienten zu tun haben, könnten die geschilderten Symptome aber auch ganz andere Ursachen haben, bei chronischen Rückenschmerzen etwa ein Bandscheibenvorfall. Die Elektromyographie und weitere neurophysiologische Untersuchungen erlauben aber in den meisten Fällen eine Abgrenzung. Da wir die Post-Polio-Beschwerden nicht heilen können, legen wir großen Wert auf eine umfassende Beratung, wie sich Belastungen anpassen oder reduzieren lassen. Dazu muss man sich den Einzelfall genau ansehen. Viele Patienten trifft die Diagnose „Post-Polio-Syndrom“ wie ein Schock. Manche erhalten den lapidaren Rat „Reichen Sie die Rente ein“.

Ist die ärztliche Kunst hier an einem Endpunkt angelangt?
Das kann man so nicht sagen. Es gibt natürlich Fälle, bei denen es sinnvoll ist, die Belastungen möglichst weitgehend zurückzuführen. Aber das ist keinesfalls die Regel: Viele Betroffene haben ja ihre Berufswahl schon mit Blick auf ihr Handicap gewählt, einen Dachdecker mit Polio-Biografie wird es kaum geben. Wir haben es andererseits mit Menschen zu tun, die besonders leistungsmotiviert sind. Sie haben in jungen Jahren die Infektion erfolgreich überwunden und gezeigt, dass sie mit anderen mithalten können. Deswegen müssen wir behutsam vorgehen, wenn wir Ratschläge zur Lebensführung geben.

Sie haben erwähnt, dass das Klinikum Bad Bramstedt für die Behandlung von Polio-Patienten zertifiziert wurde. Wer hat diese Bewertung vorgenommen?
Das Zertifikat wurde vom Bundesverband Poliomyelitis e.V. ausgestellt, nachdem unsere Klinik nach bestimmten Qualitätsstandards, etwa Struktur- und Prozessqualität, Ausbildungsstand des Personals u.ä. bewertet wurde. Wir gehören damit zu einer kleinen Gruppe von zertifizierten Kliniken in Deutschland.

Die Fragen stellte Matthias Schütt

Dr. med. Andreas Christoph Arlt (RC Bad Bramstedt) ist Ärztlicher Direktor der Rehabilitationsklinik und Leitender Arzt der Klinik für Neurologische Rehabilitation am Klinikum Bad Bramstedt.

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