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Wir dürfen jetzt nicht an einen Elefanten denken
Die Philosophie selbst kann nicht heilen, sie kann aber begrifflich bestimmen, was zum Heilen nottut, und so eine Umkehr im Denken und Handeln bewirken. Gedanken zum Gesundheitsbegriff: mit Hans-Georg Gadamer durch die Coronakrise.
In seiner Sammlung von Vorträgen über die Themen Krankheit, Gesundheit, Medizin, Heilkunst und Hermeneutik, die Hans-Georg Gadamer vor Ärzten gehalten hat, verwandelt sich dieser wunderbare alte Mann endgültig vom Philosophen zum Weisen. Das Buch mit dem Titel „Über die Verborgenheit der Gesundheit“ ist voller Zitate aus der Antike, die Gadamer einer selbstgerechten Gegenwart als hochaktuell vorhält, und voller Anekoten, die ganze theoretische Abhandlungen ersetzen. Eine dieser Anekdoten, die das eigentliche Motto dieser Vorträge bilden, lautet so: Die Geschichte spielt im Dresden des 17. Jahrhunderts.
Ein Alchimist hat seinem Herrscher versprochen, Gold zu machen, und dafür viel Geld als Vorschuss erhalten. Aber es dauert Monate um Monate, bis der Landesherr die Geduld verliert. Er dekretiert: Nächste Woche habe der Mann öffentlich seine Kunst vorzuführen. Der Tag kommt und der Alchimist baut vor dem versammelten Hof eine geheimnisvolle Versuchsanordnung auf. Dann richtet er das Wort an die Zuschauer: „Nur eine Bedingung muss ich an alle Anwesenden stellen. Während des Experiments darf niemand an einen Elefanten denken.“
Wer setzt hier die Regeln?
Während die Menschheit im Augenblick das „stupor mundi“, das Staunen der Welt mit einem vom Tode getriebenen Ernst betreibt, einer Erstarrung mit weit geöffneten Augen, ist es hohe Zeit, mit Gadamer das „Wunder der Selbstvergessenheit“ zu entdecken. Gadamer erinnert uns daran, dass wir diese Kunst des Vergessens täglich-nächtlich ausüben, um nicht dem Tode zu verfallen. Es klingt fast naiv, dieses Vergessen, wie eine Verdrängung oder Flucht. Aber je mehr Einwände gegen dieses Vergessen, sagen wir von einer evidenzbasierten Medizin, kommen, umso deutlicher wird, wie tief greifend Gadamers Begriff der Gesundheit ist.
In einem Artikel war kürzlich zu lesen: „Wenn ich meinen Gesundheitszustand rund um die Uhr beobachten könnte, würde ich nicht nur erfahren, ob ich für andere Leute zum Risiko geworden bin. Ich würde auch erkennen, welche Gewohnheiten sich günstig auf meine Gesundheit auswirken.“ Das klingt auf den ersten Blick überzeugend, aber die Frage ist doch, ob Gesundheit in einem Regelfolgen aufgeht. Wer setzt hier die Regeln, wer verbindet diese Allgemeinheit des Normativen mit dem vor-normativen Vollzug des eigenen Lebens?
Als es noch keine Biometrie gab, witzelte ein Büttenredner: „Wozu selbst leben, die nächste Apotheke ist ja so nah.“ Ist man wirklich der Gesundheit so nah, wenn man an sie so „ausgeworfen“ ist, um ein Wort Hölderlins zu gebrauchen? Gewiss ist man im Schmerz, wie Emmanuel Levinas in eindrücklichen Passagen seines zweiten Hauptwerkes „Jenseits des Seins“ beschrieben hat, absolut auf sich zurückgeworfen, sodass jegliches Können außer Kraft gesetzt ist. Und Rilke, der an Leukämie starb, fasst es in seinem Gedicht „Komm du“ in unüberbietbarer Kürze zusammen: „O Leben, Leben: Draußensein.“
Aber dieses Draußen- oder Ausgeworfensein ist wie das auf sich selbst Zurückgeworfensein ein Extrem. Gesundheit ist dagegen „verborgene Harmonie“, wie Gadamer unter Berufung auf Heraklit sagt. Sie ist ein Maß in sich selbst, das In-sich-Maßhafte, das seiner „Behandlung“ höchst komplexe Probleme stellt, sodass, wenn einem „etwas fehlt“, das Zuwenig leicht „umspringt in das leere Zuviel“ (Rilke).
So erinnert Gadamer in einer höchst lehrreichen Passage seines Titelaufsatzes daran, was aus solchen „Behandlungen“ des ursprünglichen Gleichgewichtszustandes folgen kann: „Gleichgewicht ist wie Gewichtslosigkeit, da sich die Gewichte gegeneinander ausspielen. Störung von Gleichgewicht kann nur durch Gegengewichtung behoben werden. Durch jeden Versuch, eine Störung durch Gegengewichtung auszugleichen, droht jedoch schon ein neuer umgekehrter Gleichgewichtsverlust.“
Ein paradoxes Ideal
Gadamer hat immer betont, dass er als medizinischer Laie, zumal nicht als Patient, wie er ironisch hinzufügte, der fortgeschrittenen medizinischen Wissenschaft keine Regeln geben könne. Aber er gibt zu bedenken, dass es durchaus nicht ausgemacht sei, ob die Medizin eine, womöglich mathematisch gestützte, Naturwissenschaft sei. Sie ist ja auch Heilkunde, und als Semiotik von alters her der Hermeneutik eng verwandt. Und die Philosophie hat sich seit ihren frühesten Tagen mit dem Gleichgewicht, das die Gesundheit des Menschen elementar ausmacht, auseinandergesetzt. So zitiert Gadamer Heraklit: „Mehr als sichtbare gilt die unsichtbare Harmonie.“
Gadamer hat im Alter von 18 Jahren die Spanische Grippe erlebt. Was würde er wohl heute sagen? Natürlich würde er raten, unser fortgeschrittenstes Wissen einzusetzen. Aber er würde uns, die wir, mehr oder weniger panisch, mit weit geöffneten Augen auf Messwerte und exponentielle Kurven schauen, Folgendes zu bedenken geben: „Das Ideal einer vollkommenen Selbst-Gegenwart und Selbstdurchsichtigkeit [...] ist im Grunde ein paradoxes Ideal. Es ist das Weggegebensein an etwas, es sehend, meinend, denkend voraussetzend, um so auf sich selbst zurückkommen zu können.“
Ohne Strapazen und Anstrengungen
So kann die Philosophie selbst zwar nicht heilen, aber sie kann begrifflich bestimmen, was zum Heilen nottut, und so eine Umkehr im Denken und Handeln bewirken, das sich im „Weggeben“ erschöpft. Wie eben beim Begriff und Wert der Gesundheit, der aktuell wie kein anderer auf der Waagschale liegt: „Trotz aller Verborgenheit kommt sie in einer Art Wohlgefühl zutage und mehr noch darin, dass wir vor lauter Wohlbefinden unternehmungsfreudig, erkenntnisoffen und selbstvergessen sind und selbst Strapazen und Anstrengungen kaum spüren – das ist Gesundheit.“
Gesundheit ist mit anderen Worten die Kunst, nicht an Elefanten zu denken.
Buchtipp
Hans-Georg Gadamer,
Über die Verborgenheit der Gesundheit.
Aufsätze und Vorträge
Suhrkamp Verlag,
215 Seiten, 8 Euro
Prof. Dr. Christoph von Wolzogen ist außerplanmäßiger Professor für Philosophie am Institut für Philosophie der GoetheUniversität Frankfurt am Main. Er ist direkter Nachfahre Wilhelms von Wolzogen, des Empfängers des Schiller-Briefes.
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