https://rotary.de/gesellschaft/denken-auf-sicht-a-22141.html
Forum

Denken auf Sicht

Forum - Denken auf Sicht
© Moloko Print

Es wird schon gut werden: Was wir heute von dem Philosophen Richard Rorty lernen können

Christoph von Wolzogen01.07.2023

Wer schaffen will, muss fröhlich sein, wo Tränen fließen, kann nichts gelingen.“ Bevor Karl Lieffen in dem Film Tadellöser und Wolf dies zitierte, war es nur ein dröger Kalenderspruch, seitdem ist er Kult. Bei Richard Rorty aber ist es Philosophie. Es ist ja auch wahr: Bei Platon heißt philosophieren, sterben lernen; bei Rorty dagegen leben lernen. Was kümmern uns die letzten Dinge, die Apokalypse, wenn wir für den nächsten Tag sorgen müssen. Wir fahren auf Sicht oder „nach uns die Sintflut“, was eben bedeutet, dass es, solange wir leben und handeln, diese Sintflut gerade nicht geben wird.

Mit diesem fröhlichen Pragmatismus hat der Philosoph Richard Rorty Epoche gemacht, und in einer Zeit wie der unseren, die sorgenvoll wie nie in die Zukunft schaut, kann man von ihm nur lernen. Das beginnt schon bei seinem Buch Der Spiegel der Natur, das, würde es heute erscheinen, zur rechten Zeit käme. Dass Rorty so ziemlich alle überkommenen Vorstellungen von Philosophie über den Haufen wirft, ist vielleicht nicht das Entscheidende. Wichtig ist, dass die Bildung den traditionellen Platz der Erkenntnistheorie übernimmt. Was nicht heißt, dass wir weniger wissen sollen, ganz im Gegenteil. Aber der Anfang des Wissens beginnt eben meistens im Nebel, und da ist man mit einem Reinheitsgebot à la Königsberg nicht gut beraten.

Viel mehr als nur Problemlösung

Das Ich hat mit Dingen und Handlungen zu tun, dafür braucht es keine Black Box, genannt Bewusstsein, keinen schwarzen Kasten, aus dem die Seele springt. In der Welt, nur dort, hat es genug zu tun. Und ja, das berühmte In-der-Welt-Sein ist dem Amerikaner hochwillkommen, aber ohne Martin Heidegger, den Zauberer aus Meßkirch, der das schöne Konzept verdorben hat.

Das Ich entwirft keine Drehbücher mehr, nach denen das Handeln geschehen soll, es folgt den Umständen der Situation, dieser Raum ist gekrümmt, er bringt jeden Tag etwas Neues. Der Politikwissenschaftler Carlo Masala nennt diesen Pragmatismus Rortys deshalb Fahren auf Sicht: Man tastet sich entlang einer zeitlichen Krümmung vorwärts, in kleinen Schritten, eben auf Sicht. Die Bestimmung des Denkens ist also nicht Erkenntnis, sondern Bildung.

Das ist keine Wissenschaftsschelte, es ist im Gegenteil ihr Lebendigwerden. Der Pragmatismus Rortys zielt auf einen Frieden zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Das postapokalyptische Wissen, wie es dem Pragmatisten Rorty vorschwebt, ist viel mehr als nur Problemlösung, das auch, aber es umfasst alle Bereiche des menschlichen Lebens. Und warum sollte man nicht ein kluges mit einem gelingenden Leben verbinden können?

„We try our best“

Was Rortys Denken bietet, sind Therapien, die uns von der Suche nach letzten Gründen heilen sollen. Auch von der Angst, der prometheische Mensch könnte von seinen Produkten überflüssig gemacht werden. Für ein solches bildendes oder therapeutisches Denken „ist das Treffen von Tatsachen bloß ein Propädeutikum für das Entdecken neuer und immer interessanterer Möglichkeiten, uns auszudrücken und dadurch ein Stück Welt zu bewältigen“. Vom bildenden im Unterschied zum erkenntnistheoretischen oder technologischen Standpunkt sind also „die unterschiedlichen Möglichkeiten, etwas zu sagen, weit wichtiger als die Aneignung von Wahrheiten“.

In Frankfurt hat Rorty dafür einmal ein Lehrstück geliefert, als er über das Thema „Does academic freedom need presuppositions?“ („Braucht akademische Freiheit Vorbedingungen?“, d. Red.) vortrug. Auf die Frage nach Gründen, die der anwesende Kollege Habermas stellte, antwortete Rorty mit der Formel des Su preme Court: „We try our best“, und hatte die Lacher auf seiner Seite.

Von jeher hat sich die Figur des Auf-SichtFahrens bei der Suche nach Gerechtigkeit und einer guten Politik als ein robustes und erfolgreiches Werkzeug gezeigt. Immerhin hat es auch Weltgeschichte gemacht: Als Napoleon Bonaparte einmal gefragt wurde, warum er in Schlachten so erfolgreich sei, soll er geantwortet haben: „Man begibt sich in die Schlacht, und dann wird man sehen.“


Buchtipp

 

Christoph von Wolzogen

Nach dem Tee in die Mördergrube – Essays zu Helmuth James von Moltke

Moloko Print, 87 Seiten, 15 Euro

 

Christoph von Wolzogen

Prof. Dr. Christoph von Wolzogen ist außerplanmäßiger Professor für Philosophie am Institut für Philosophie der GoetheUniversität Frankfurt am Main. Er ist direkter Nachfahre Wilhelms von Wolzogen, des Empfängers des Schiller-Briefes.

 

denkberatung.de