Titelthema
Auf Uhlen
Ein gutes Glas Wein ist ein Gespräch mit der Zeit, meint der Schriftsteller Ilija Trojanow. Für uns hat er einen Weinberg an der Mosel durchwandert.
Selten ist ein Weinberg wirklich ein Berg, eine Flanke von sage und schreibe 150 Höhenmetern. Mit mehr als 140 Prozent Steigung! Uhlen genannt, ein grandioser, terrassierter Hang. Wer von oben hinab steigt, klammert sich an mehreren Stellen an die knorrigen Äste seiner Höhenangst. Es gibt keine beeindruckendere Lage an der gesamten Mosel, einem Strom, der sich verspielter durch die deutschen Lande schlängelt als der mythenschwere Rhein. „Terrassenmosel“ heißt dieses Spektakel, und der Mann, der diesen Begriff durchgesetzt hat, ist ein Winzer namens Reinhard Löwenstein. Noch vor zwei Generationen wurde die untere Mosel unter Kennern vernachlässigt, heute gedeihen hier einige der besten Weine Deutschlands, ja der Welt.
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Die Einheimischen nennen die Terrassen „Chöre“. Es ist ein erhabener Anblick. Niemand weiß, wie viele Menschen aus wie vielen Generationen dieses Kunstwerk geschaffen haben. Die Steine der trockengelegten Mauern legen stummes Zeugnis ab, aber es existieren wenige Schriften. Fragt man Reinhard Löwenstein nach dem wichtigsten Buch über die Mosel, nennt er das lateinische Lied eines Reisenden namens Ausonius. „Es spiegeln sich Weinberge dunkel im hellen Fluss, es scheinen zu grünen des Stromes Wellen und die Reben im Wasser zu wachsen. Die Weinberge vor uns bieten ein anderes Schauspiel: Bacchus’ Geschenke ringsum zu bewundern, welch herrlicher Anblick, wo in der Höhe eine Kuppe sich über dem Steilhang dahinzieht – Felsen und sonnig Hänge, geschwungen in Wellen und Mulden steigen empor mit Reben besetzt, von Natur ein Theater.“
Handarbeit durch die Jahreszeiten
Ein Amphitheater, bis zum heutigen Tag. Aus Schiefer, die Mauern aus versteinertem Meeresboden, ein natürliches Art déco, das in festen Händen zerbröckelt. Ebenso bei Schnee und Regen. Weswegen die Mauern brüchig werden und kontinuierlich erneuert werden müssen. Mühsam, langwierig und kostspielig, wie auch der Anbau, Handarbeit durch die Jahreszeiten hindurch.
Im Weingut Heymann-Löwenstein ziehen sich die Mauern 13 Kilometer lang durch die steilen Lagen. Wie Adern durch einen zeitschweren Körper. Eine denkmalgeschützte Kulturlandschaft. Was nicht viel bedeutet. Nach einem 30-jährigen Kampf mit den Behörden steht zwar „Terrassenmosel“ an der Ausfahrt der nahegelegenen Autobahn, aber trotz der pathosgeladenen Narrative der Traditionalisten werden etwa 150 bis 200 Hektar nicht mehr unterhalten, verwildern sichtbar, obwohl sich manche von ihnen seit der Römerzeit in die Moselhänge eingekerbt haben. Landespflege steht zwar im Prospekt, nicht aber im Vordergrund. Es ist teuer, das Wertvolle zu erhalten.
Eigentlich rentiert es sich nicht, hier Wein anzubauen. Diese Steillagen kann man nicht mit einem Traktor bewirtschaften, entsprechend hoch sind die Kosten: je nach Jahrgang über zehn Euro pro Liter – im Vergleich zu einem halben Euro in industrialisierten Flachlagen.
Wieso also die Mühe? Wieso die Kopf- und Rückenschmerzen? Weil Reinhard Löwenstein ein Prophet von „Terroir“ ist und dieses Prinzip just an dieser Biegung des Flusses sein gesamtes enormes Potenzial aufzeigt (ohne alle Geheimnisse zu offenbaren).
Terroir macht einen Wein unverwechselbar
Was ist Terroir? Eines jener Wörter – wie Nachhaltigkeit –, das zur Chiffre geworden ist, weil eine jede und ein jeder es mit der Essenz der eigenen Sehnsüchte und Hoffnungen füllt. Grob gesagt: Der Versuch, die Eigenart der Lage zum Schmecken zu bringen. Die Böden also? Terroir ist mehr als der Boden, sagt der Winzer. Was dann? Am besten die Franzosen fragen. Die müssten es wissen, schließlich haben sie den Begriff ins Leben gerufen, vor knapp 100 Jahren. Und die definieren Terroir als die Summe aus allem örtlich Spezifischen, aus Mikroklima, Topografie, Niederschlagsverteilung, Wasserrückhaltevermögen, Tag- und Nachttemperaturen, Sonnenscheinstunden, nicht zu vergessen die Böden, bien sûr. Laienhaft gesagt: Terroir ist das, was einen Wein unverwechselbar macht.
„Ich finde den Begriff gerade deshalb so wunderbar, weil er nebulös ist“, sagt der Winzer. „Ein Begriff, der sich jeglicher logisch-strukturierter Ableitung entzieht und daher deutlich macht, dass wir uns auf einer anderen Wirklichkeitsebene befinden. Terroir ist für mich ein Begriff aus der Welt der Kultur, das Gegenteil des industriellen Weins als Produkt der Lebensmitteltechnologie.“
Spätestens jetzt sollte erwähnt werden, dass Riesling sich hervorragend für Terroir eignet. Es spiegelt Mikroklima und Böden sensibel und ausdrucksstark wider, es lässt sich auf jede Lage und jeden Winzer, jede Winzerin ein. So sehr, dass man provokant behaupten könnte, die Lage sei wichtiger als die Rebsorte. „Ich mache keinen Riesling“, sagt der Winzer, „ich lasse den Uhlen lebendig werden.“
Sesshaft werden, Wein kontrollieren
Wer Terroir wirklich verstehen will, müsste sich in die Erde hineinbohren, um den Fleckenteppich geologischer Formationen zu erkennen: blauer Schiefer neben schwarzem Schiefer neben rotgelbem Quarzit. Eine unsichtbare Realität, in der sich die Wurzeln der Reben bewegen. Wir Menschen haben nur eine Möglichkeit, sie wahrzunehmen: indem wir die Weine riechen, verkosten, trinken. Was über der Erde gleichförmig erscheint, ist unter dem Erdboden sehr variabel. Die Terroir-Weine berichten von einer Vielfalt, die uns sonst verborgen bliebe.
Im Humus wie auch im Keller gibt es unzählige Mikroben, die integraler Bestandteil von Terroir sind. Damit der Weinberg tatsächlich geschmacklichen Ausdruck findet, müssen diese Mikroben die Gärung mitbestimmen. Das ist einer der Hauptgründe dafür, dass der Winzer vor mehr als drei Jahrzehnten aufhörte, Reinzuchthefen zu verwenden und nur mehr der sogenannten Spontanvergärung vertraute. Eine weitere Tür, durch die die Natur in den Weinkeller gelangen konnte.
Es ist nicht möglich, über Terroir zu reden, ohne die Sehnsucht unseres romantischen Unterbewusstseins zu berücksichtigen, unser latent schlechtes Gewissen wegen der Zurichtung der Umwelt und angesichts unserer essenziellen Entfremdung von der Natur. Kultur bedeutet Manipulation, und Wildwuchs ist per Definition kein Garten, weswegen Reinhard Löwenstein beim Thema Terroir noch einen weiteren Schritt zurückgeht. „Das Konzept, so wie es heute meist gebraucht wird, hat eine stark romantische Dimension: Zurück zur guten Mutter Natur! Das ist ähnlich wie bei der Naturweinbewegung. Ein Reflex auf die Industriegesellschaft. Historisch gesehen ist Wein das geistige Getränk par excellence. Das Getränk der Sesshaftwerdung des Menschen, wie auch der Sprachentwicklung. Manche Wissenschaftler behaupten sogar, der Mensch sei sesshaft geworden, um einen kontrollierten Zugang zur Weinproduktion zu haben. Wein war nie ein Naturprodukt. Sondern ein Kind der Zivilisation, der Kultur.“
Womit sich eine weitere Definition anbietet: Der spirituelle Charakter des Weins wird erst sinnlich wahrnehmbar, wenn der kulturelle Anteil gegenüber dem industriellen überwiegt.
Terroir in diesem Sinn ist auch deswegen attraktiv, weil es den Wein individualisiert, ihm ein Gesicht gibt, den Fokus nicht nur auf eine spektakuläre Lage richtet, sondern auch auf einen kreativ-eigenwilligen Weinmacher. Das entspricht dem Zeitgeist. Dieser Winzer ist eine Legende. Schon 1984 begann er mit der Lagenklassifikation. Damals eine gewaltige Provokation. Die Weine waren süß, und sie stammten von der Mosel. Mehr Angaben brauchte es nicht. Da tauchte ein junger Rebell auf und wählte mit „Schieferterrassen“ einen Namen, der jenseits der Verortung ein Geschmacksversprechen abgab.
Der damalige Zorn über das neue Konzept hatte auch damit zu tun, dass er Natur nicht als unentrinnbares Schicksal, als Bedrohung der eigenen Existenz betrachtete, sondern als komplexes Geschenk der Götter, mit dem respektvoll gespielt werden kann. Es gab heftige Ablehnung in der Weinszene. Üble Nachrede. Misstrauen und diffuse Unterstellungen. Sogar eine Anzeige wegen Subventionsbetrug – das Denunziantentum war nicht ausgestorben. Aber nachdem „Uhlen“ erfolgreich eingeführt war, als Marke und als Mysterium, erzielten alle Lagenweine der Region höhere Preise, und das ließ man sich dann doch gefallen.
Ein goldenes Glas voll Zeit
Es brauchte Geduld und Vertrauen. Die Weine wurden besser, die Vorurteile kleiner. Manch ein Missverständnis konnte ausgeräumt werden. Je mehr Menschen „Uhlen“ probierten – in drei Variationen: Wo blauer Schiefer dominiert, trägt der Wein den Zusatz „Blaufüsser Lay“, beim eisenhaltigen Schiefer „Roth Lay“, beim mit Muschelkalk versetzten Schieferboden „Laubach“ –, desto mehr wurde bestellt. Allmählich lernten die Einheimischen wie auch die ganze Branche, den Querdenker wertzuschätzen. Der trotz seines Erfolges weiterhin jede Routine hinterfragt.
„Was ist echt?“ So lautet die entscheidende Frage. Beim Wein wird viel geflunkert und viel industriell „gemacht“. Mit anderen Worten: Manch ein Mythos wird in den Laboren der industriellen Alchemie zusammengerührt. Wein im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Und der vielbeschworene „Jahrgang“ ist zum einen ein Marketing-Instrument, zum anderen ein Glasperlenspiel.
Terroir sollte nicht normierbar sein, weswegen Reinhard Löwenstein am Ende des Tages eine bezaubernd bescheidene Definition auftischt: „Ein Wein, der den Winzer jedes Jahr überrascht.“ Ein offenes Gespräch mit der Zeit somit, mit 350 Millionen Jahren Erdgeschichte ebenso wie mit den vier Jahreszeiten und dem Klimawandel, mit dem Alter des Winzers, der Erfahrung des Trinkers und der Reife der Flasche. Auf den Punkt gebracht: ein goldenes Glas voll Zeit.
Bestockte Rebfläche nach Rebsorten in Deutschland 2022
Weißwein
24.410 ha Riesling
10.970 ha Müller-Thurgau
8094 ha Grauburgunder
Rotwein
11.512 ha Spätburgunder
6812 ha Dornfelder
2295 ha Portugieser
Quelle: Deutsches Weininstitut
Weinkonsum in ausgewählten Ländern in Mio. Hektolitern 2022
34,3 USA
24,9 Frankreich
22,3 Italien
19,4 Deutschland
12,8 Großbritannien
9,8 Spanien
2,4 Österreich
Quelle: Deutsches Weininstitut
Ilija Trojanow lebte in Nairobi, Paris, München, Mumbai und Kapstadt. Wenn er nicht reist, wohnt er heute in Wien. Seine Romane und Reisereportagen sind gefeierte Bestseller und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt erschien bei S. Fischer „Fans: Von den Höhen und Tiefen sportlicher Leidenschaft“, 272 Seiten, 26 Euro.
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