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Eine kleine Winterreise

Titelthema - Eine kleine Winterreise
Semmering: „20-Schilling-Blick“ auf die Semmeringbahn mit dem Kalte-Rinne-Viadukt, der Polleroswand und der Rax © Volker Preusser/Imago

Seit 100 Jahren verbinden die ÖBB die Metropolen Österreichs mit ihrem Hinterland. Im Railjet von Ost nach West lässt sich das Land jenseits von Sissi und Knödeln neu entdecken.

Ilija Trojanow01.02.2024

Wer Österreich lieben lernen möchte, der muss nur in den Railjet 533 einsteigen, Abfahrt in Wien um 8.24 Uhr, mit dem Ziel Lienz in Osttirol, keine sechs Stunden entfernt. Anderswo würde man eine landschaftlich derart spektakuläre Fahrt durch vier Bundesländer langfristig vorab buchen, würde sich sorgfältig vorbereiten, wie auf eine Mission oder ein Abenteuer.


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In heimischen Gefilden steigt man einfach ein, nimmt Platz und bestellt im Bordrestaurant einen Verlängerten, immer noch staunend, wie gemütlich es im Hauptbahnhof zuging. Obwohl Wien knapp zwei Millionen Einwohner hat, von den Touristen, die täglich die lebenswerteste Stadt der Welt aufsuchen und oft noch Ausflüge ins restliche Austria anhängen, nicht zu reden.

Wie jede Metropole zeigt Wien stadtauswärts zunächst seine Eingeweide: Lagerhallen, Depots, Fabrikanlagen, Trabantensiedlungen. In Meidling (12. Bezirk) stößt ein hässlicher Bahnhof auf ein besonders schönes Wappen, als wollte es einfallsreich vielfältig ein halbes Märchenbuch illustrieren (unbedingt im Internet anschauen). Es dauert eine halbe Stunde, bis wir die ausufernde Stadt verlassen haben und die sonnige Natur erreichen. Zeit genug, sich mit unseren unbekannten Reisegefährten vertraut zu machen: drei junge Chinesinnen ohne nachvollziehbare Fremdsprachenkenntnisse und lange auf der Suche nach einem ihnen genehmen Sitzplatz; zwei eifrig tippende Computeristas; ein lesbisches Paar mit amerikanischem Zungenschlag sowie eine ganze Kompanie leutseliger Studierender, die mit uns das Abteil geentert hat. Skifreude und Ungeduld liegen in der Luft. Alle stecken schon pisten- und loipenfertig im Schneeneopren. Es dauert, bis Rucksäcke und unhandliche Skitaschen untergebracht sind, manche Verstauaktionen haben Slapstickqualität. Zu wenig Unterbringungsmöglichkeiten, zu viel Gepäck. Bei einem Grüppchen Mittdreißiger lässt das robuste Schuhwerk auf steile Anstiege schließen, die am langen Wochenende erobert werden wollen. Der Gang hingegen gehört zwischenzeitlich einigen Kindern, die aufgedreht hin und her rennen.

Bier statt klarer Worte

Der Zugbegleiter ist das fleischgewordene Positivklischee – mit Wiener Schmäh kontrolliert er Papierausdrucke und QR-Codes, stets den sprichwörtlich flotten Spruch auf den Lippen. Seine Anwesenheit scheint die Stimmung im Abteil noch zu heben. Die beiden Computeristas unterhalten sich ausgiebig über einen schwierigen Kunden, jene Art von Gespräch, das keine Zeugen wünscht und keine Mitwirkung ermöglicht, während draußen – kurz vor Wiener Neustadt, das paradoxerweise in Niederösterreich liegt – die ersten schneebedeckten Berge des Naturparks Hohe Wand zu sehen sind, eines beliebten Tagesausflugsziels für Wanderer, Familien und Kletterfexe. Allerdings steigt heute niemand aus, um das bewaldete Karstplateau zu besteigen. Zwei der Jungurlauber kommentieren eifrig und mit vielen englischen Worten angereichert eine Folge von Drag Race Germany, jeweils einen Earbud im Ohr; getrunken wird – it’s dry January – alkoholfreies Bier. Ihre detailreiche Unterhaltung schwelgt für einen Uneingeweihten im Unverständlichen. In Gloggnitz kommen wir an mehreren Industriebetrieben vorbei; das Gebäude eines weltbekannten Chocolatierunternehmens ruft uns unser Neujahrsversprechen in Erinnerung, das sich in der ersten Januarwoche noch tapfer und ungebrochen aufrecht hält.

Gemächlich ruckeln wir bergan

Ein erster Höhepunkt auf dieser Strecke heißt Semmering, für jeden Wiener ein Name mit Wohlgeschmack, denn seit kaiserlichen Zeiten fließt das Leitungswasser der Hauptstadt aus dieser Gegend – aus den Gebieten Schneeberg, Rax, Schneealpe und Hochschwab – über zwei Hochquellenleitungen in die besiedelte Ebene hinab, im freien Gefälle ohne eine einzige Pumpe bis nach Wien, eine Glanzleistung Habsburger Ingenieurskunst. Die erste Wiener Hochquellenleitung, auch KaiserFranz-Josef-Hochquellenleitung genannt, wurde 1873 in Betrieb genommen. Täglich 400.000 Kubikmeter frisches, köstliches Quellwasser, ein Lebenselixier für die Hauptstadt, weswegen das Trinknass unter Verfassungsschutz gestellt ist. Wer in Wien abgefülltes stilles Mineralwasser im Supermarkt kauft, der benötigt entweder Geschichtsunterricht oder Gaumenschulung.

Unbemerkt befinden wir uns mittlerweile in der Steiermark und denken an den Käferbohnensalat, den uns Freunde in Pöllau servierten – Österreich ist auch immer kulinarisch grundiert. Manche Stereotype erfreuen Auge und Magen. Allmählich hügelt es sich links und rechts der Strecke ein. Bevor wir’s uns versehen, sind wir schon in den Bergen, und die Berge sind um uns herum. Das Murtal, das wir durchruckeln, ist eng, mit teilweise steil aufragenden Anklängen an die Via Mala. Selbst ein Schnellzug wie der Railjet fährt in diesem Tal lediglich 50 Stundenkilometer und mit jedem dieser langsamen Kilometer tiefer in die Vergangenheit hinein, als das Reisen mit dem Zug noch eine ausgewogenere Mischung aus Rasanz und Entspannung war. Wie oft scannen wir inzwischen im Alltag die Fahrpläne nach der schnellstmöglichen Verbindung, und wie selten suchen wir eine langsamere Möglichkeit, um von A nach B zu gelangen. Der Charme des Zugreisens von einst, als der Ausblick aus dem Fenster auf die sich verändernde Landschaft Unterhaltung genug war, hat sich in ein notwendiges Beförderungsübel verwandelt. Wehmütig fallen einem beim Sinnieren Geschichten aus Urgroßmuttermund ein, als einst in edlen Bahnhofshallen noble Restaurants zu finden waren, die heute hauben- und sterneverdächtig wären, hätten sie sich nicht seit Langem in Fastfood-Filialen verwandelt. Wie die Familie zu besonderen Anlässen dort einkehrte und die Ururgroßmutter durch bezirzende Hartnäckigkeit dem Koch nach jahrelangem Ringen endlich das Rezept für original Königsberger Klopse abrang.

Der Frühnebel weicht den umsichtigen Sonnenstrahlen. Draußen ist es windstill, so sehr, dass der Rauch aus dem Kamin eines der alten Steinhäuser schnurgerade in die Luft steigt. In großen Abständen stehen diese Wohngebäude nah an den Gleisen, wie ungerührte Zeugen des sich wandelnden Reisens. Jedes der abgehenden Täler wirkt wie ein Versprechen mit ungewissem Ausgang. Der Zug schaukelt sich durchs angeharschte Graugrün, eher Frühlingsanmutung als Januarwetter, alles still, alles gedämpft.

Aus dem Zug heraus wirken die wenigen Städte wie ein unvollständiges Puzzle, hier ein Kirchturm, da ein breites Dach, dort eine elegante, blaue Brücke. Dazwischen sind dioramaklein ein paar Fußgänger verteilt, wie übriggebliebenes Silvesterkonfetti. Im Kopf bleibt das Phantombild einer flüchtigen Begegnung. Derweil erzählt der junge Mann gegenüber, er habe lange Zeit Scheu gehabt, sich einem Intelligenztest zu unterziehen. „Der Druck, du verstehst, wenn sie mich als hochbegabt eingestuft hätten.“ Danach greift er nach seinem Exemplar von The Selfish Gene (Das egoistische Gen) und vertieft sich in die Evolutionslehre des Richard Dawkins.

Allmählich rückt uns das Weiß entgegen

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Am Stau vorbei: Die beginnende Massenmotorisierung kam bereits 1956 in der Bahnwerbung an © Wienbibliothek im Rathaus

Ab Bruck an der Mur gibt es etwa alle 15 Minuten eine Siedlung, einen Bahnhof, einen Halt, was für viel Abwechslung und eine wohltuende Choreografie von Beschleunigung und Abbremsen sorgt. Bislang strahlte die Sonne über einer Zwei-KlassenLandschaft. Oben Schnee, unten sattes Grün. Doch allmählich rückt uns das Weiß entgegen. Wie frisch beschneit breitet sich die Fleckerldecke der Landschaft aus, da eine Wiese, dort ein Acker, Hecken und Bäume im kargen Winterg’wand, der Schnee apert sanft aus, selbst an den Straßen, über die vereinzelt feiertagsmüde Autos fahren, kein grauer Matsch, allüberall nur Schattierungen von Weiß. Schließlich schweben wir durch 20 Zentimeter weiße Pracht, und romantisch liegt ein Noagerl Nebel im hoch gelegenen Taleinschnitt. Manchmal blitzt beim Schunkeln durch winzige Ortschaften da und dort ein kleiner Prunkbau in Kaisergelb auf, wie um uns daran zu erinnern, dass wir in Österreich sind. Und immer wieder Tunnel, durch die der Railjet gerade noch so durchzupassen scheint.

Beim Namen des nächsten Orts, Judenburg, zücken wir sofort Wikipedia. Die erste urkundliche Erwähnung erfolgte schon 1074, damals waren jüdische Kaufleute entscheidend im transalpinen Handel tätig und gründeten entsprechende Posten, einen davon an dieser Stelle. Der Name hat sich gehalten, trotz Antisemitismus und Holocaust. Der „Judenburger Gulden“ war übrigens laut Enzyklopädie die erste und lange Zeit wichtigste Goldmünze Österreichs. Was sagte angeblich einst der Geheimrat aus Weimar? Reisen bildet.

Ein Spaziergang durch den gesamten Zug offenbart, dass kaum jemand diese Landschaft und Kulturtopografie genießt. Wer nicht schläft, starrt auf einen kleinen oder großen Bildschirm, einige sind in ein Buch vertieft. In der Familienzone (es gibt auch eine Ruhe- und eine Fahrradzone) gucken drei Knirpse Kinderkino, sind für eine Viertelstunde vom Zeichentrickgeschehen gebannt. Die entspannte Mutter blickt auf ein plapperndes Kind in ihrem Handy. Dabei sind nicht wenige der Reisenden, wie unschwer an ihrem Gepäck zu erkennen, auf dem Weg in den Urlaub. Vielleicht werden sie die Natur genießen, wenn sie an ihrem Ziel angekommen sind. Sie erinnern an Menschen, die mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock fahren, wo sie im Fitnessstudio auf einer Maschine Treppen steigen.

Örtchen reiht sich an Örtchen. Postkartenidylle mit Solarpaneelen auf den Dächern. Mal breit, mal schmal schlängelt sich die Mur durchs Gelände, macht Bögen, denen die Eisenbahnschienen nicht folgen. Immer wieder fahren wir an ordentlich gestapelten Baumstämmen vorbei – allüberall Holzwirtschaft, ganz wie es sich für eine Nadelwaldgegend gehört. Allmählich wird es draußen kälter, auf dem gefrorenen Furtnerteich liegt Seeschnee. Das sonore Rattern des Zuges dringt durch den Sitz. Dann ein kleines Wehr, man hört die Mur förmlich murmeln und glucksen. Auf einem abgeernteten Feld picken sich Krähenvögel ihr Mittagessen – ein Bild, das sich sogleich selbst infrage stellt, weil wir in letzter Zeit der anthropomorphischen Perspektive zunehmend misstrauen.

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Hohe Berge, tiefe Täler und traumhafte Städte: Ilija Trojanows kleine Bahnreise durch Österreich anlässlich 100 Jahren ÖBB © Illustration: Martin Haake

In Friesach verlassen wir die Steiermark und fahren in Kärnten ein; die Gruppe junger Urlauber verlässt den Zug. Sie blicken erst aus dem Fenster, als der Zugchef den nahenden Halt ansagt. „Der Weg ist das Ziel“ ist wohl ein Kalenderspruch aus einem weit zurückliegenden Jahr.

Wer kurz die Augen schließt, wird eine Überraschung erleben, denn auf einmal liegt das enge Tal hinter uns, Felder statt Wälder, keine schroffen Felsen mehr, sondern wunderschöne Ausblicke auf gestaffelte Hügelketten. Das Gebirge wirkt eher wie eine diplomatische Botschaft: keine Extreme bei dem sanft ansteigenden, ziemlich ebenmäßigen Zirbitzkogel, dem höchsten Gipfel der Seetaler Alpen, stolze 2396 Meter hoch. Der Wolkenhaube über dem Gipfel haftet fast zu viel des Versöhnlichen an. In einem schmalen Nebental werden zwei Handvoll hingewürfelte Häuser aus leicht erhabener Position von einem Kirchlein mit mehrfach gezwiebeltem Turm bewacht.

Am Nordufer des Wörthersees entlang

Immer wieder sehen wir einen versteinerten Ausdruck von Geschichte auf einem der Hügel. In dieser Region herrscht kein Mangel an Trutzigem, in unregelmäßigen Abständen erheben sich aus dem dunstigen Tannenwald Burgen in unterschiedlichen Stadien des Erhalts und des Verfalls. Hinter den breiten Fenstern des Zuges ragt die Burg Taggenbrunn – einst Festung, heute Festspielstätte – aus dem Nebel, als würden unsichtbare Kobolde sie auf den Schultern gen Himmel hieven. Und bald darauf reckt sich die Burg Hochosterwitz als besonders beeindruckendes Exemplar in den inzwischen wieder blauen Himmel. In St. Veit an der Glan hingegen steht eine modern anmutende Zeremonienhalle der Bestattung in der Nähe des Bahnhofs, der örtliche Friedhof beginnt hinter den Gleisen. Memento mori.

Irgendwann lässt Nebeldunst vor blauen Hügelketten den Wörthersee erahnen. Der Blick auf den berühmten See öffnet sich wie ein Postkartenleporello. Mit einem Ausruf des Entzückens erfreuen wir uns am sonnenglitzernden Wasser. Ein einsames Flaumwölkchen hängt im Panorama. Zum Glück fährt der Zug die Nordseite des Sees entlang, was spektakuläre Ausblicke erlaubt, bedächtig genug, um zu genießen, schnell genug, um die touristische Zersiedelung rund ums Gewässer nicht erfassen zu können. Der größte See Kärntens ist höchst beliebt bei Urlaubern aller Couleur und aus vielen Ländern. Legendär sind mittlerweile die Jahrestreffen der Biker, die sich vom Faaker See bis hierher ausgebreitet haben. Im Spätsommer promenieren röhrend im Zeitlupentempo Motorradfahrer stolz auf ihrer blinkenden Pracht die Seepromenade entlang, lassen ihr Gefährt am Veldener Corso stehen und breiten sich schwarzledern in den Restaurationsbetrieben aus. Heute jedoch und vom Zug aus ruht still der See.

Als wir Villach erreichen, keine 20 Kilometer von Slowenien und Italien entfernt, haben wir den Eindruck, im Süden angekommen zu sein, in einem metaphysischen Süden, der sich aus Sonne und Wohlbefinden zusammensetzt und unzähligen Orten im südlichen Alpenraum den Werbespruch ermöglicht: „Hier beginnt der Süden.“ Aufgebrochen waren wir erst vor wenigen Stunden in Wien, gerade einmal 50 Kilometer von der Slowakei entfernt – wir fühlen uns an alte kakanische Zeiten erinnert. Woran auch ein Artikel eines Historikers über die österreichische Eisenbahngeschichte im Railaxed-Magazin der ÖBB schuld ist. Erbarmungslos versetzt der Mann unserem Bild von einer Fahrt mit einem Dampflokomotivenzug einen Realismusdämpfer. Kein Komfort – Holzkastenwagen, Fallrohr-WCs –, von mangelnder Sicherheit ganz zu schweigen: Zwischen den Waggons gab es zugigluftige Wackelübergänge auf offenen Plattformen. Unsere romantischen Vorstellungen wurden wohl zu sehr von schwärmerischen Berichten einer Reise mit dem Orient-Express genährt.

Wir wechseln die Richtung. Während es bis hierher überwiegend nach Süden ging, nehmen wir nun Geschwindigkeit gen Westen auf. Lange Zeit geht es entlang der Drau (im Slawischen Drawa), einem wichtigen Nebenfluss der Donau, der von Südtirol nach Osttirol durch Kärnten hindurch nach Slowenien und Kroatien fließt. Flüsse haben seit je Grenzen missachtet. Die Drau ist gletschergrün und breit, weil sie in Lienz die Isel – den letzten naturbelassenen Fluss der Alpen – aufgenommen und dadurch viermal mehr Wasser gewonnen hat.

Mehr Tempo, weniger Intimität

Durch ganz Kärnten und Osttirol hindurch spielt ein Bub mit seinem Vater Uno, sodass sich Sätze wie „Ich wünsche mir die Farbe Grün“ und „Richtungswechsel“ stärker ins Ohr brennen als die sonnenbeschienenen Gipfel ins geistige Auge. Im vergleichsweise breiten Drautal beschleunigt der Zug bedauerlicherweise. Ab einer gewissen Geschwindigkeit geht die Intimität verloren, statt Landschaft nur mehr Tapete, jenseits des Fensters ein sich rasant verändernder Bildschirmschoner, schön, aber kaum zu erfassen.

Spittal liegt zwar an der Drau, wie das Städtchen offiziell auch heißt, aber für die Österreichischen Bundesbahnen ist ein anderes, unweit gelegenes Gewässer entscheidend: Der Halt trägt den Namen Spittal-Millstättersee. Manchmal muss der Geografie ein klein wenig nachgeholfen werden, wenn es der Touristik dient. Spittal war bereits im Mittelalter ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt, nur warteten damals nicht Skifans, Snowboarder und Bergfexe am Gleis, sondern Pilger am Marktplatz, unterwegs in frommer Mission nach Italien. Sosehr sich diese Gruppen äußerlich unterscheiden mögen, eines haben sie gemeinsam: Sie sind ihrem Alltag in eine besondere Auszeit entflohen.

Schon seit einigen Halten steigen erheblich mehr Menschen aus als zu. Die wenigen Neulinge sind mehr mit Vespern als mit Staunen beschäftigt – welches belegte Brot zuerst oder doch die Banane lieber als Vorspeise und nicht als Nachtisch? Im Bordrestaurant setzt sich die Bedienung hin und löffelt die letzte übrig gebliebene herzhafte Gulaschsuppe aus. Drei Portionen Tiroler Gröstl hingegen warten noch auf Abnehmer.

In der letzten Stunde unserer Fahrt, kurz vor Osttirol und den Lienzer Dolomiten, ist die Natur ein weiteres Mal Trumpf. Beraureifte Bäume – wie von einem verliebten Kalligrafen skizziert – hüben und drüben der Drau, an deren gletschergrüner Farbe wir uns kaum sattsehen können, bilden eine weitere Postkartenidylle von einer fragilen, fast schmerzhaften Schönheit. Gelegentlich, wenn sich ein Seitental öffnet, ist auf den ersten kurzsichtigen Blick nicht klar, ob am Ende ein beschneiter Berg liegt oder eine gebirgige Wolke tief am Himmel hängt.

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ÖBB-Plakat: Wie im Sessel auf Schienen durchs Land reisen – so warben die ÖBB in den 1930er Jahren © Wienbibliothek im Rathaus

Die Gegend um Lienz herum ist wie eine Zusammenfassung unserer gesamten Reise: Erhabene Berge und sanfte Almwiesen, stille Seen und stürzende Bäche, schroffe Felsen und verwunschene Schluchten, das Wilde gezähmt und eine Zivilisation, die ausapert, etwa dort, wo ein Schneehang seine fragwürdige Existenz den Schneekanonen verdankt, eine größere Abfahrt in unmittelbarer Nähe hingegen ins Grün führt, auf halbem Hang. Doch nicht einmal auf dem Kunstschnee schwingen und wedeln Skifahrer talwärts, alle Lifte stehen still, zumindest an diesem Nachmittag. Ganz als besänne sich der Mittelpunkt Osttirols auf seine Fremdenverkehrsanfänge, als man das Stadtvolk Ende des 19. Jahrhunderts mit Aussicht auf Bergwanderungen und Gipfelbesteigungen herlockte und von jägerteeseliger Brettlgaudi noch keine Rede war. Von der schönen Innenstadt aus sieht man die ewigen Gipfel und vom bergauf gelegenen Hotel ein Nebeneinander von Vergangenheit und Zukunft: Tourismus, Klimaschutz und ein unendlich klarer Sonnentag im Winter.

Winzige Bahnhöfe, vergessene Aufbrüche

Auf der Rückreise am nächsten Tag bringt uns die S-Bahn zu unserem Umstieg Spittal-Millstättersee, eine komfortable S-Bahn, die in Deutschland in einer höheren Kategorie rangieren würde, der des Regio-Express. Was allerdings keine Auswirkungen auf die gemütliche Geschwindigkeit hat, die uns in aller Ruhe erneut die gletschergrüne Drau, die beraureiften Bäume und die sprichwörtlichen, aber imaginären Milchkannen bewundern lässt. Wie die Zeiten derzeit so sind, stranden wir an unserem Umsteigebahnhof und warten, wie weiland die Pilger, dass es weitergeht. In unserem Fall auf eine erfolgreiche Zugreparatur. Wobei wir uns von der frohgemuten Zen-Entspannung, die die Wallfahrer erfüllte, einige Gelassenheitsscheiben abschneiden könnten. Nach mehrfachen Halbumrundungen des winterlich kalten Bahnhofs und einer kleinen Ewigkeit geht es weiter nach Salzburg.

Bald nach Spittal rücken die Berghänge dem angejahrten deutschen Eurocity auf die Waggons, die Berghänge sind zum Greifen nah. Rechter Hand führt eine schmale Brücke – so überwachsen, dass die Natur sie fast zurückerobert hat – zu einem Tor, dessen geheimnisvolles Dahinter Rätsel aufgibt. Bald umfängt uns Nebel, erst dunstig, dann diesig, schließlich dicht. Zu erkennen wenig mehr als Schemen, Anregungen für die Fantasie. Wie ein Weiser einst schrieb: Wer das Außen kaum sieht, muss innerlich genauer schauen. Die winzigen Bahnhöfe, seit Langem vom Austro-Takt vernachlässigt, wirken wie vergessene Aufbrüche. Irgendwann geht es bergab in die schneelose Breite, und der Nebel reißt auf, sodass wir uns mit Panoramasuchspielen beschäftigen können: In Bad Gastein – wo ist der Wasserfall? In Bischofshofen – wo ist die Sprungschanze? Bald schon erreichen wir Salzburg. Der Bahnhof ist hypermodern, ästhetisch mit der Aussegnungshalle in St. Veit verwandt. Der Charme des Reisens liegt hinter uns. Der letzte Abschnitt nach Wien, auf der stämmigsten Stammstrecke des Landes, ist ein nachmittäglicher Flug in die einbrechende Dämmerung, grau wegen des schwindenden Lichts, grau wegen der schnellen Geschwindigkeit, bunt allein hinter geschlossenen Augen.


Buchtipp

 

Alfred Klein-Wisenberg, Matthias Flödl

Einsteigen, bitte! Eine Reise durch die Geschichte der ÖBB

Molden Verlag,

208 Seiten, 40 Euro

 

 

 


Gebratene Wildfang-Reinanke

2024, titelthema, öbb, reinake
Gebratene Wildfang-Reinanke © Irina Thalhammer

Zutaten:

Tomaten-Dashi:
600 g reife Tomaten (klein geschnitten),
1 Bund Basilikumblätter und 8 Shisoblätter (klein geschnitten),
1 Kombublatt,
1 Myogaknospe,
2 Scheiben Ingwer,
1 EL natives Olivenöl,
1 EL helles Sesamöl,
20 ml Tomatenessig,
Salz und brauner Zucker

Beilagen:
4 Romanobohnen (in Stücke geschnitten),
4 EL geschälte Edamame,
12–16 Kirschtomaten,
10 ml helles Sesamöl,
20 ml Olivenöl, Salz

Reinanke:
4 Reinankenfilets mit Haut, entgrätet,
Olivenöl und Salz

Zubereitung:
Kombublatt, Myoga und Ingwer in einen Topf legen. Die Tomaten, Basilikum und Shisoblätter in einem Becher mixen und die Masse auf einem Passiertuch verteilen. Dieses in ein Sieb legen und über den Topf hängen, sodass die Flüssigkeit langsam in den Topf tropft. Nach 2 Stunden das Passiertuch gut ausdrücken. Danach den Topf auf 80 °C erhitzen und rund 30 Minuten bei sehr niedriger Temperatur ziehen lassen. Abseihen und mit Olivenöl, Sesamöl, Essig, Salz und Zucker abschmecken. Die Bohnen und Edamame in 100 ml Tomaten-Dashi bei geringer Hitze gar kochen, mit Salz und Sesamöl verfeinern. Die Tomaten mit Olivenöl und Salz vermengen und bei etwa 50 °C auf einem Blech im Backofen trocknen (etwa 2 Stunden). Olivenöl in einer Teflonpfanne temperieren. Die Filets mit der Hautseite nach unten in die Pfanne legen. Nach kurzer Zeit herausnehmen (die Fleischseite soll noch roh sein) und mit der Haut nach oben auf ein Blech legen. Nach 2 Minuten die Haut abziehen. Die Hautstücke in der Pfanne bei geringer Hitze knusprig braten. Die Filets vor dem Servieren noch einmal fertigbraten, mit den Beilagen anrichten, mit dem restlichen TomatenDashi übergießen und die Hautstücke darauflegen.

 

Joji Hattori, RC Wien-Albertina, ist Komponist, Dirigent und Spitzengastronom.

In Wien führt er das japanische Restaurant Shiki.

 

 

 

 


Kärntner Reindling

Zutaten:
Dampfl:
110 g Mehl
100 g Milch
15 g Germ (Hefe)
Etwa 30 Minuten bei Zimmertemperatur rasten lassen.

Teig:
250 g Mehl
60 g flüssige Butter
75 g Staubzucker
70 g Milch
2 Eier
Salz
Rum

Zubereitung: Die Gugelhupfform (Backform) mit flüssiger Butter gut ausstreichen. Nicht mit Butter sparen. Den Teig mit dem Dampfl verkneten, auf circa 5 mm ausrollen, mit Butter bestreichen und mit Zimt-Zucker bestreuen. Mit Rosinen und gehackten gerösteten Haselnüssen bestreuen. Den Teig zu einer Rolle einrollen und in die Gugelhupfform legen. Den Teig mit Butter bestreichen und mit einer Gabel stupfen. Etwa eine Stunde bei Zimmertemperatur ruhen lassen, anschließend bei 170 Grad etwa 50 bis 60 Minuten backen, aus dem Ofen nehmen und vorsichtig stürzen. Wenn die Backform gut mit Butter bestrichen wurde, löst sich der Reindling gut aus der Backform.

2024, titelthema, öbb, katharina rainer-valtiner
Katharina Rainer-Valtiner © Privat

 

Katharina Rainer-Valtiner, RC Villach-Park, leitet die Konditorei und das Restaurant Rainer in Villach.

 

 

 

  


Schwarzbeernockn

Zutaten:

Dampfl:
400 g frische Schwarzbeeren
100 g griffiges Mehl
50 ml Milch
2 EL Butter
Kristallzucker
Staubzucker

Zubereitung:
Schwarzbeeren mit Mehl und Milch kräftig verrühren. Dabei ungefähr die Hälfte der Beeren zerquetschen, damit der Saft austritt. In einer Pfanne einen Esslöffel Butter aufschäumen lassen und kleine Nocken der Schwarzbeermasse darin anbraten. Nach etwa drei Minuten mit Kristallzucker bestreuen, nochmals Butter zugeben und wenden. Abermals mit Kristallzucker bestreuen und wieder drei Minuten braten lassen. Mit Staubzucker bestreut servieren. Dazu passt etwas gesüßter Sauerrahm, Vanilleeis oder einfach ein Glas kalte Milch.

 

2024, titelthema, öbb, andreas döllerer
Andreas Döllerer © Jörg Lehmann 

 

 Andreas Döllerer, RC Golling-Tennengau, leitet Döllerers Wirtshaus in Golling nahe Salzburg.

 

 

 

 

 

Ilija Trojanow

Ilija Trojanow lebte in Nairobi, Paris, München, Mumbai und Kapstadt. Wenn er nicht reist, lebt er heute in Wien. Seine Romane und Reisereportagen sind gefeierte Bestseller und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt erschien bei S. Fischer der Roman „Tausend und ein Morgen“.