https://rotary.de/kultur/dark-side-of-the-konsens-a-21538.html
Forum

Dark Side of the Konsens

Forum - Dark Side of the Konsens
Die frühen Pink Floyd mit Nick Mason (o. l.), Rick Wright, Syd Barrett und Roger Waters (im Uhrzeigersinn), 1967. © rex features ltd./action press

Das legendäre Pink-Floyd-Album „The Dark Side of the Moon“ wird 50 Jahre alt. Noch immer verkauft es sich zu Zehntausenden weltweit. Warum nur?

Diedrich Diederichsen 01.03.2023

Kulturelle Bereiche, die nicht offiziell anerkannt sind und weder wissenschaftlich noch steuerlich zur Hochkultur gerechnet werden, versuchen auf eigene Weise Strukturen zu erfinden, die ihnen Legitimität verschaffen und Kanonisierung ermöglichen. Preisverleihungen, Hitparaden, Publikumsbefragungen, Bestenlisten und so weiter. Dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu fielen diese Mittel zur Kanonisierung der von ihm „illegitim“ genannten Kultur auf, als er in den 1960er Jahren an seinem Standardwerk Distinction (dt.: Die feinen Unterschiede) arbeitete. Damals bezog er sich auf Jazz, Film und Comics, heute längst anerkannte und ausgiebig beforschte und in staatlich finanzierten Veranstaltungen und Institutionen geförderte kulturelle Formate.

Billy-Regal der Prog-Rock-Platten

Pop-Musik ist im neuen Jahrtausend eigentlich auch schon in diesem Bereich angekommen, aber eben noch nicht so ganz. Deswegen sind Charts und Listen, Jahrestage und Jubiläen, Kritiker- und Publikumsabstimmungen immer noch so wichtig. Und deswegen beschäftigen wir uns hier mit einer eigentlich so rundum uninteressanten Schallplatte wie Dark Side of the Moon von Pink Floyd; denn sie gilt als die zweit- oder drittbestverkaufte Veröffentlichung aller Zeiten – hinter Thriller von Michael Jackson und gleichauf mit oder knapp vor oder knapp hinter Back in Black von AC/DC, da gehen Zählweisen und Statistiken auseinander. Und sie feiert gerade ihr 50-jähriges Veröffentlichungsjubiläum. Denn noch bemerkenswerter als die absolute Verkaufsmenge ist die Kontinuität der Verkaufszahlen: über 900 Wochen in den USA und über 550 Wochen in Großbritannien stand das Album unter den 100 bestverkauften Tonträgern. Sein Publikum waren mithin nie die an Ereignissen, Veränderungen, Entwicklungen interessierten Hipster, sondern ein geruhsames, Grundausstattungen zusammenstellendes Publikum. Das Album ist das Billy-Regal unter den Prog-Rock-Platten. Aber auch diese Analogie ist aus meiner Sicht eigentlich zu viel der Ehre.

Nun wäre es ein in den GeschmacksBattles der Pop-Musik vorhersehbarer Snobismus, dem großen Erfolg prinzipiell zu misstrauen. Tatsächlich gibt es durchaus Werke im Bereich zweistelliger Millionenverkäufe, die ich zu schätzen weiß. Auch unter den ewig wieder geehrten Anführern der Kritikerabstimmungen (Pet Sounds) kann ich mich immer wieder mit einigen der üblichen Verdächtigen einverstanden erklären; die Begeisterung für die mittlere (oder gar die späten) Pink Floyd dagegen habe ich aber komplett nie verstanden. Tatsächlich war ich ein fast glühender Anhänger der frühen, noch von Syd Barrett geprägten Band, die dessen kurze, sarkastisch-pointierten Lieder und einen neuartigen, großflächigen abstrakten Lärm miteinander vereinbaren konnten, immer in der Nähe der Eleganz gewisser Surf-Gitarren-Stücke (The Piper at the Gates of Dawn, 1967). Bei Interstellar Overdrive konnte man eine der allerersten Bands hören, die das lange Rock-Instrumental nicht an einer vom Jazz übernommenen Improvisationslogik ausrichteten, sondern genuin an den Lärmeffekten und der Lautstärke der Rock-Musik orientiert arbeiteten, fast wie ein Vorläufer der Noise-Szene der letzten zwei, drei Jahrzehnte.

Noch übler als Atom Heart Mother

Auch ohne Barrett, der zu schwierig und zu psychotisch geworden sein soll, konnte ich Pink Floyd noch folgen. Nur wurde jetzt auf einfache, gerne pentatonische Tonfolgen gesetzt (etwa Set the Controls for the Heart of the Sun) und psychedelisch-kosmische Atmosphäre eher suggeriert als an einer neuen Verstärker- und Effektgeräte-Musik gearbeitet (A Saucerful of Secrets, 1968). Dennoch funktioniert dies als vieles offen lassender, unbestimmt assoziativer Soundtrack für das Einnehmen halluzinogener Drogen (oder auch für einen Film wie More [1969] von Barbet Schroeder – auch wenn der eher vor Drogen zu warnen schien).

Von Aldous Huxleys berühmten Meskalin protokollen (Die Pforten der Wahrnehmung, 1954) kennen wir genaue Beschreibungen des Phänomens, dass man unter Halluzinogenen einen kitschigeren Geschmack hat als sonst im Leben. Ich würde diese psychedelische Freude an einer bestimmten zärtlichen, das ohnehin überforderte Bewusstsein in Ruhe lassenden Klanglichkeit, deren Professionalisierung, Verfeinerung, aber auch Verödung man heute bei Genres wie Ambient oder auch New Age studieren kann, durchaus auch als eine seinerzeit neue Ästhetik eigenen Ranges gelten lassen, neben ihren Geschwistern wie Minimal Music – nicht nur als ein In-Ruhe-Lassen überforderter Nervenkostüme. Erst nach Umma Gumma (1969), dem ambitionierten Doppelalbum, das sich noch einmal an Klangexperimente wagte, nimmt der Niedergang so richtig Fahrt auf, die 1960er waren vorbei. Die Zeit brachte damals die erste Ausgabe ihres beigelegten Magazins heraus und fragte, wie wohl die Musik der nun beginnenden 70er Jahre klingen würde. Die etwas unsicher mutmaßende Antwort des Zeit-Magazins: ungefähr so wie Pink Floyd. Sie hatten recht und unrecht. Sie klang nicht wie die psychedelisch unbestimmte Musik der damals bekannten frühen Pink Floyd, aber sie kam von Pink Floyd.

1970 hatten wir uns auf Atom Heart Mother gefreut und erst mal versucht, zu mögen, was da kam. Auf der Ebene des Notentextes, der Kompositionen waren das Floyd-Songs wie zuvor, aber nun in Bombastklamotten, vor allem beim Titeltrack. Die psychedelische Zärtlichkeit hatte sich in wagnerisierendes Schwelgen verwandelt – mit denselben Akkorden, aber in Breitwand und orchestralem Zinnober. Auf den beiden folgenden Alben Meddle (1971) und Obscured by Clouds (1972) wurde es nicht unbedingt schlimmer, aber das hier zur Debatte stehende achte Album, das zweitbestverkaufte aller Zeiten, klingt für mich noch einmal deutlich übler als der Schmock-Prog-Rock von Atom Heart Mother. Das beginnt schon bei Kleinigkeiten wie den nervtötend tautologischen Buchstäblichkeiten der Soundeffekte – Geld klimpert, wenn Money ertönt, irres Lachen, wenn es um den „Lunatic“ geht. Neben diesen üblichen Rückgriffen auf scheinbar kühn außermusikalische, „konkrete“ Soundeffekte und um diese herum hat sich nun endgültig ein sentimentales Song-Genre etabliert, das sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit ins ölig Hymnische auflöst. Was dies noch schlimmer macht, ist die Aussöhnung dieses milde sedierten Prog-Rock-Kitsches mit der Easy-Listening-Stimmung eines Mittelklassehotelfahrstuhls.

Bis zur Mauer in den Köpfen

Man kann allerdings hier nicht nur über Musik reden, man muss auch das Weltbild hinzuziehen, das die Themen, Metaphern und Klangbilder generiert. Psychedelische Pop-Musik und sogenannter Prog-Rock, die Stile, denen man die frühen, präbombastischen Pink Floyd zurechnete, sind ein Ergebnis der Spaltung der oppositionellen Kulturen der 1960er Jahre in einen psychedelischen, nach innen orientierten, spirituellen oder psychologischen und einen politischen, sich an der gesellschaftlichen Realität abarbeitenden Flügel – stark vereinfacht gesagt. Verschiedene Diskurse und Subkulturen versuchten im Laufe der 1970er diese Spaltung zu überwinden; insbesondere die Anfänge der Ökologiebewegung wären hier zu nennen. Bei Pink Floyd gibt es das ebenfalls verbreitete und als Zusammenfassung gemeinte Narrativ, dass die „Gesellschaft“, das „System“ eine einzige in sich geschlossene Maschine sei, ein inhumaner und unkontrollierbarer Mechanismus – wenn auch um diese Zeit noch sehr unkonkret und bei Dark Side of the Moon repräsentiert von dem Thema des Wahnsinns, des Lunatic, sicher auch inspiriert von den durchaus ernst zu nehmenden, damals verbreiteten gegenkulturellen Ideen einer Anti-Psychiatrie. Knoten von Ronald D. Laing lag auf vielen WG-Nachttischen.

Doch Macht- und Unterdrückungseffekte, die sich politisch beschreiben ließen, schnurren bei Floyd zu schicksalhaften, Sci-Fi-Klischees zusammen, bis sie dann später in dem überstrapazierten und rundum irreführenden Bild der „Mauer in den Köpfen“ gipfelten. Solche als Horror verkleidete und zur Klage über stereotype Motive totaler Macht geschrumpfte Gesellschaftskritik ist ein paar Generationen später dann auch haargenau das kulturelle Reservoir, aus dem rechte Verschwörungstheorien gebastelt werden. Statt gegen Kapitalismus oder Neoliberalismus geht es dann abstrakt und wolkig gegen „Money“ an und für sich. Auch wenn die Behauptung einer solchen Verbindung etwas überzogen und ungerecht sein mag, besteht da kein Widerspruch zu den Pro-Putin- und von vielen als antisemitisch gelesenen Statements des heutigen Roger Waters.

Wie ein schöner Kinderroman

Auch die für die 1968er-Kultur in ihrer ursprünglichen und einheitlicheren Version so wichtige Kritische Theorie, unter anderem der sogenannten Frankfurter Schule, hatte die (instrumentelle) Rationalität als Prinzip (kapitalistischer) Ausbeutung kritisiert, wenn auch ihrerseits mit argumentativen Mitteln – eine solche Konfrontation falscher instrumenteller Vernunft auf ihrem Niveau wäre dann auch das ästhetische Prinzip von Kritik, wie es punktuell von so unterschiedlichen Praktiken wie Free Jazz oder Glam-Rock, freier Hippie-Improv-Musik oder queeren und afroamerikanischen Subszenen entwickelt wurde, auf performativ-darstellerischer oder musikalischer Ebene. Selbst ein mit Floyds Maschinenangst verwandtes Motiv wie die von Autoren wie William S. Burroughs inspirierte produktive Paranoia totaler Kontrolle, wie sie später als Pink Floyd die sogenannte Industrial Music in den 1980ern entwickelte, konnte immer wieder zu drastischen Einsprüchen gegen das maschinenhafte Interface sogenannter formierter Gesellschaften führen. Bei Pink Floyd hingegen entstanden eher Bausteine jenes Märchens von einer böse verzauberten Welt, das im gleichen Zeitraum auch über Michael-Ende-Romane und deren Verfilmungen die Kinderzimmer des Westens erreichen sollte.

Für meinen Geschmack wurde es mit den nächsten Alben (Wish You Were Here, 1975) aber noch schlimmer. Nach dem Tiefpunkt The Wall (1979), das sich an dem Kitsch von den unverbildeten Kindern wärmte, habe ich dann den Kontakt verloren. Vorübergehend konnte Punk durch eine totale Abgrenzung von den zehn bis zwanzig Jahre Älteren die alte Einheit der Gegenkulturen wiederherstellen; nämlich negativ durch die sarkastische Zurückweisung der psychedelischen wie der politischen Kultur der 60er – nur um kurz darauf einem seitdem expandierenden, ebenso totalen Geschmackspluralismus Platz zu machen, der nun immer seltener mit irgendwelchen (politischen) Positionen verbunden war.


Zum Nachhören

Dark Side of the Moon: https://www.youtube.com/watch?v=ImlFp6QOZRU

Atom Heart Mother: https://www.youtube.com/watch?v=rR0y06jvJhU

Wish You Were Here: https://www.youtube.com/watch?v=hjpF8ukSrvk

The Wall: https://www.youtube.com/watch?v=HrxX9TBj2zY

Diedrich Diederichsen
Diedrich Diederichsen lehrt Theorie und Vermittlung von Gegenwartskunst an der Akademie der bildenden Künste Wien. Seine letzte Veröffentlichung war 2021 Cybernetics of the Poor (Berlin/New York: Sternberg). 2015 erschien Über Pop-Musik, am 16. März erscheint Aesthetics of Pop Music, Polity Press, 140 Seiten, 42,90 Euro.

© picture alliance/associated press/tobias schwarz