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Dgital vs. analog

Der Mensch ist zur Haptik geboren

Nach Jahrzehnten der nahezu vollständigen Digitalisierung des öffentlichen Lebens wächst vielerorts wieder die Sehnsucht nach bewehrten analogen Dingen. Zum Beispiel nach Büchern mit Leinen und Lesebändchen oder nach Schallplatten mit ihrem unverwechselbaren Klang. Die Beiträge des Mai-Titelthemas zeigen, dass dieser Trend keinsfalls nur in den Medien stattfindet, sondern in zahlreichen Bereichen unseres Alltags – bis hin zur Politik.

Franz Greno15.05.2014

Wir befinden uns in einem lebensverändernden Prozess: Statt mit auf Papier gedruckten Büchern, Zeitschriften, Zeitungen oder gar noch handgeschriebenen Briefen müssen wir uns in einer zunehmend digitalisierten Welt zurechtfinden. Extrem beschleunigte Prozesse, größte Datenmengen an Text und Bild lassen sich mit einigen Klicks auf permanent weiterentwickelten Kommunikations-Gerätschaften via gewaltiger Datenspeicher und Kommunikations-Satelliten verbreiten. Die Nutzer von traditionell gedruckten Medien werden dadurch zu einer fast randständigen, vom Aussterben bedrohten Spezies.

Dabei hat die Natur dafür gesorgt, dass sich bereits im zweiten Lebensmonat des Ungeborenen der Tastsinn (= griech. Haptik) manifestiert. Sinnliche Erfahrungen haben Anteil an allen unseren Entscheidungen: Gerüche, Farben, Formen, Temperaturen, Materialien und Ambiente ordnen unser immer noch jedem Computer überlegenes Gehirn und alle damit verbunden Nervenzellen in nachvollziehbaren Wahrnehmungsprozessen. Fühlen und Anfassen gehören unverzichtbar zum realen Leben: die materielle Welt ist reich an lustvollen Dingen, etliche davon auch mit Gebrauchswert. 5000 Jahre alte Keramikgefäße der weltberühmten „Meiyintang Collection Chinesischer Keramik“ geben bis heute Zeugnis davon, wie formvollendete Schönheit und Nützlichkeit im frühen China miteinander korrespondiert haben – zu sehen im anthropologischen Museum Rietberg in Zürich. Es ist nur ein herausragendes Zeugnis großartiger menschlicher Leistungen auf einem langen Weg bis heute.

Seit dem Beginn der Industriellen Revolution in England vor über zweihundert Jahren sehen wir ein Nachdenken von empfindsamen, innovativen und tatkräftigen Menschen über die Produkte des Alltags: William Morris begründete gemeinsam mit Künstlern und Kunsthandwerkern die „Arts and Crafts“-Bewegung, inspiriert von der gemeinsamen Suche nach dem „Echten und Ehrlichen“. In den USA gibt es später das „Good Design“ – in Europa „Wiener Werkstätten“, „Bauhaus“, „Hochschule für Gestaltung Ulm“ und andere Institutionen mit ähnlichem Anliegen: den industriellen Produkten mit gutem Design eine sinnlich wahrnehmbare Qualität zu geben.

EIN KLEINES PARADIES

Vergleichen wir die Wege zum Buch: Wir gehen zu Fuß in eine Buchhandlung unserer Wahl, die Händler sind uns vielleicht bekannt und wir legen Wert auf ihr Urteil. Gute Buchhändler kennen in der Regel die Inhalte der bereitgehaltenen Bücher, und ein Gespräch über Autor und Inhalt, verbunden mit einer Einschätzung, ist meist ein lohnendes Unterfangen. Das Objekt der eignen Begierde darf man in die Hände nehmen, und wenn das Buch mit Subtilität und Kenntnis entstanden ist, kann Jedermann die Qualität von Schrift, Typographie, Druck, Bücherpapier, Einband und – vor allem – den Inhalt prüfen. Und wenn die haptische Qualität mit einer Empfehlung des Buchhändlers einhergeht, werden die eigenen Sinne den Gehirnzellen eine Stimmung und Entscheidung übermitteln: Ich möchte dieses Buch haben und es mitnehmen. Und dann kann ich mit diesem Buch etliche Stunden an einem Ort verbringen, der mir zusagt. Nach der Lektüre bekommt das Buch seinen Platz in der persönlichen Bibliothek. Der Buchhändler wird sich meine Entscheidung merken. Er wird meine Entscheidung über den Kauf dieses Buches für sich behalten und keiner Behörde oder Unternehmung anzeigen. Eine gut sortierte Buchhandlung kann wie ein kleines Bücherparadies auf uns und unser Gemüt wirken: Unzählige Bücher erwarten uns, und sollte ein gewünschtes nicht vorrätig sein, am nächsten Morgen schon kann Ihr Buchhändler das Buch präsentieren und Ihrem Urteil aussetzen. Noch gibt es im deutschen Sprachraum eine vielfältige Struktur kleiner, mittlerer und großer Buchhandlungen, die bislang vor allem durch die Buchpreisbindung gestützt wird. Die Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen zwischen USA und EU werden in der Folge eine Gefährdung bringen. Die Gier innerstädtischer Immobilienspekulation sind ebenso wie der „www-Krake“ Amazon ein weiteres Gefahrenpotential.

Und nun zur schönen neuen Welt, den „E-Books“. Zuerst sollen wir eine Maschine kaufen, günstig produziert in Fernost. Dann per Download via Internet zum nahezu gleichen Preis wie das sinnliche, haptisch wahrnehmbare Buch, liefert uns irgendein Server das Gewünschte auf den Schirm. Wie unsere Augen auf diesen Echtzeitversuch des ganz anderen Lesens über einen längeren Zeitraum reagieren werden, wissen wir nicht. Die Sinnlichkeit und Wahrnehmungsqualität wird abgeschaltet.

DER VERLUST DER PRIVATHEIT

Unsere Entscheidung für den gewählten Buchinhalt und Autor wird im Hintergrund registriert und bis ans Ende aller Datenspeicher zuerst für kommerzielle Zwecke genutzt. Privatheit ist bei diesem Verfahren Fehlanzeige. Datenschutz war früher. Und wenn eine Behörde vor allem aus sicherheits- oder finanztechnischen Fragen Interesse an den Lektürewünschen eines Bürgers entwickeln sollte, wird sich ein biegsamer, juristisch machbarer Weg finden lassen, die lästigen Privatheitswünsche zu eliminieren. Fazit: Wir bekommen den Buchinhalt auf den Bildschirm. Wir bekommen kein anfassbares, haptisches Buch. Der Medienkonzern spart Papier, Druck, Einband, Handels- und Logistikkosten. Die Wertschöpfungskette wird neu entwickelt, der Profitanteil der Medienkonzerne wird ausgebaut. Die Marktstellungs- und globalen Alleinstellungsansprüche sind bereits sichtbar.

Ein anderer Vergleich: Der Informationsgehalt einer E-Mail und eines handgeschriebenen Briefs sind identisch. Die Qualität der Empfindungen und Wahrnehmung muss zweifelsohne jeder für sich selbst abschätzen. Die glatte Oberfläche des Tablets in genormter Schrifttype gegen eine charaktervolle Handschrift, geschrieben mit einem Montblanc und echter Tinte auf sensibles, handgeschöpftes Büttenpapier.

Und vergleichen wir die Momente, bevor uns die Botschaft erreicht: erst der Gang zum Briefkasten. Platz nehmen an einem Vorzugsort im eignen Lebensraum. Die Erwartung und Vorstellung des Brief­inhalts. Unsere Phantasie, unsere Nervenzellen arbeiten. Dann das Öffnen des Kuverts mit unseren Händen – und dann beginnen unsere Augen in Zusammenarbeit mit unseren Nervenzellen den Inhalt des Briefes aufzunehmen. Dies ist ein in vielen Generationen erprobter, intensiver Prozess. Und wo sind wir in unserer extrem schnellen, reichen, modernen Welt angekommen? Der Zeigefinger drückt auf eine ergonomisch geformte Taste aus Plastik oder auf antiseptische Pseudoalphabete hinter unzerbrechlichem Plastikglas. Klick. Öffnen. Klick. Lesen. Klick. Klick. Privatheit gibt es hier nicht mehr. Aus den Nachrichten erfahren wir, dass vor allem staatliche Einrichtungen Kenntnis von Inhalten nehmen, die sie Nichts angehen. Noch freiwillig setzen wir uns solch deformierten Kommunikations-Prozessen aus: Gewaltige Speicher spielen ein Datenpuzzle, über dessen weiteren Fortgang wir keine Illusionen haben sollten. Die haptische Qualität realer Dinge sollte uns nicht vom Nachdenken über die nächsten Schritte gesellschaftlicher Entwicklungen ablenken: Der weitblickende deutsche Soziologe Max Weber kam bereits vor hundert Jahren zu dem Schluss, dass wir in einer Zone von „Rationalismus und Bürokratismus“ Ankommen werden. Ob die neue Produktwelt der 3-D-Drucker oder die flachen E-Book-Reader aus Blech, Plastik und Ersatzglas unseren Sinneswahrnehmungen genügen, können wir noch selbst entscheiden.

Haptik, Sinnlichkeit und Sinn sowie die Ideen von Glück und Empathie beschreibt umfassend Mihály Csíkszentmihályi, emeritierter Professor für Psychologie an der University of Chicago: „Mit jedem einzelnen der menschlichen Sinne lässt sich flow erleben…“ Lesenswert ist in diesem Zusammenhang auch das Vermächtnisartige Buch „Nicht eins und doch“ von Christian Enzensberger: „Faszinierendes Nachdenken was Menschsein heißen kann in sinnlich-berührendem Umgang mit der Natur.“ Erschienen als Band 342 in der Anderen Bibliothek, Berlin 2013.

Franz Greno
Franz Greno ist Buchgestalter und Verleger. Zusammen mit Hans Magnus Enzensberger gründete er die Buchreihe „Die andere Bibliothek“. www.greno.de