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Der Untote
Vor 500. Jahren starb Leonardo da Vinci, dessen Person und Werk die Menschen bis heute fasziniert
Wahrscheinlich darf man in Leonardo da Vinci den gepflegtesten Mann des 15. Jahrhunderts sehen. Jedenfalls achtete er auf Hygiene, auf die Sauberkeit seiner Kleidung, wusch sich regelmäßig und die Hände sogar mit Rosenwasser, hasste Gestank und Schmutz und wühlte dennoch in schaurig dunkler Nacht, die nur von Öllämpchen erhellt wurde, inmitten von Ausdünstungen in den Innereien, den Gedärmen, den Organen von Leichen, die er zuvor enthäutet hatte und von Sektion zu Sektion immer besser auszuweiden verstand, um seine anatomischen Studien voranzutreiben. Ohne moderne Desinfektionsmittel und Gummihandschuhe begab er sich damit in beträchtliche Gefahr.
Perfekte Bewegungen
Die Sektionen vermittelten ihm jedoch Kenntnisse über das Zusammenspiel von Knochen, Muskeln und Sehnen, die er benötigte, um einen Menschen perfekt in Bewegung zu malen. In seinen Bildern ging es Leonardo darum, Geschichten zu erzählen, die er durch konzentrierte Bewegungen der Figuren ausdrückte. Die berühmte „Felsengrottenmadonna“ mit dem erstaunlichen Fingerballett, die er in Mailand im Auftrag einer Laienbruderschaft malte, stellt, was bisher übersehen wurde, ein eindeutiges politisches Statement in der unversöhnlichen Auseinandersetzung dieser Zeit dar, dem Streit der Franziskaner und der Dominikaner um die Frage von Mariens Sündhaftigkeit, die in einem heute kaum verständlichen Maße das Volk erregte und sogar Volksaufläufe provozierte. Mit der „Felsengrottenmadonna“ reüssierte Leonardo in Mailand, was ihm schließlich nicht nur den Auftrag für das größte Reiterstandbild dieser Zeit einbrachte, sondern auch den Auftrag für das „Abendmahl“.
Hatte noch der berühmte Kunsttheoretiker Leon Battista Alberti die Funktion des Historienbildes darin gesehen, dass es bedeutende geschichtliche Ereignisse zur moralischen Belehrung des Betrachters, zur Stärkung der Tugenden darstellte und das Historienbild selbst mit der antiken Rede verglichen, so ging es Leonardo darum, den Rezipienten mit einer Geschichte zu konfrontieren, die ihn ergreift und bewegt. Zum wichtigen Element der Erzählung wurde ihm die Bewegung, weil die Dynamik von Körper, Mimik und Gestik Gefühle, Motivationen und Handlungen auszudrücken vermag. So wie der Punkt zur Geraden wird, wenn man ihn bewegt, entwickelt sich aus dem Punkt für Leonardo die Zeit, so entspringt aus der festgehaltenen Bewegung die Geschichte. Petrus im „Abendmahl“ hat das Messer schon ergriffen, er braucht es nur noch hochzuheben, um es auf den Verräter niedergehen zu lassen, wenn er nur wüsste, wer Jesus verraten hat.
Studium von Mensch und Natur
In dem berühmten Fresko im Kloster Santa Maria Delle Grazie in Mailand malte Leonardo weder die Einsetzung der Eucharistie, noch codierte er die Phantastereien des 18. Jahrhunderts über die Blutlinie, nach der sich Jesu Blut in Maria Magdalenas Nachkommen erhalten haben soll. Vielmehr greift er eines der ewigen und wichtigsten Themen menschlicher Existenz auf: den Verrat, vor dem sich die Menschen fürchten und dem sie dennoch frönen. Durch die Weiterentwicklung der Zentralperspektive und durch die Komposition der Körper und Gesten versuchte Leonardo ein Gefühl der Bewegung zu erreichen, das an einen Film denken lässt. Bewegte Bilder vermochte er noch nicht zu schaffen, aber Bilder, die die Bewegungen der gemalten Personen assoziieren.
Den menschlichen Körper in einer extremen gestischen Dynamik festzuhalten – wobei die Bewegung zur Kommunikation wird – setzt die Kenntnis des Zusammenspiels von Knochen, Sehnen und Muskeln voraus. Gleichzeitig wird Leonardo die Malerei zum Mittel der Erkenntnis, zu einer Sache des Geistes. Seine medizinischen Zeichnungen sind Kunstwerke und wissenschaftliche Abbildungen in einem, für die er en passant Maßstäbe setzte. Der eifrige Erfinder von Kriegsgerät und Waffen verabscheute zugleich den Krieg und lebte, weil er das Töten von Tieren ablehnte, als Vegetarier. Er liebte die großen Auftritte in der Öffentlichkeit inmitten einer Schar junger Männer, die keinen Zweifel an seiner sexuellen Präferenz zuließen, und floh doch in die Einsamkeit der Natur. Stundenlang vermochte der Ungeduldige in der Beobachtung des Vogelflugs, einer Wolke oder von Wasserstrudeln und Wellen zu verharren.
Der Maler, Forscher, Baumeister, Philosoph war besessen davon, alles über die Natur, das Wasser, die Steine, den Flug der Vögel, über den Menschen zu erfahren und alles zu bauen und alles zu konstruieren. Mechanik, Optik, Anatomie, Geologie, Hydraulik, Mathematik, kaum ein Gebiet, das ihn nicht in seinen Bann zog. Darüber hinaus liebte ihn die Hofgesellschaft als geistreichen Unterhalter, als Regisseur und Ausstatter von Theaterstücken und festlichen Umzügen. Auch wenn alles leicht bei ihm wirkt, überließ er nichts dem Zufall selbst die Auftritte bei Hofe bereitete der passionierte Perfektionist minutiös vor.
An der Verherrlichung von Lorenzo de Medici nach der Pazzi-Verschwörung 1478, in der Lorenzos Bruder Giuliano getötet wurde und ihm selbst nur durch glückliche Fügung die Rettung gelang, wollte sich Leonardo freilich nicht beteiligen, doch um in die Dienste des bereits von den Zeitgenossen als Monstrum verabscheuten Papstsohnes Cesare Borgia zu treten, hatte er sich sehr bemüht. Leonardos Leben steckt auf den ersten Blick voller kaum vermittelbarer Widersprüche. Es bedeutet ein Abenteuer, seinen Spuren zu folgen.
Der Zeit voraus
In manchem war Leonardo seiner Zeit voraus, wenn ihn die engen Grenzen der scholastischen Wissenschaft nicht mehr hinderten, die Welt experimentell auf völlig neue Art zu erforschen, und er hierin bereits mit seinen Mitteln unternahm, was ein Jahrhundert später erst Kepler und Galilei mit der Gründung der modernen Naturwissenschaft gelingen sollte.
Den Fallschirm, den Leonardo konstruierte, probierte ein Kunstspringer im Jahr 2000 mit dem Ergebnis aus, dass er funktionierte. Die Verwendung einiger seiner Kriegsmaschinen hätte einen anderen Stand des Militärwesens erfordert, der sich erst im 18. Jahrhundert herausbildete. Immer wieder kämpfte Leonardo mit dem Problem des Antriebes und, was sehr heutig ist, mit der Frage der Energie. Was treibt das konstruierte Gefährt an, was erhebt den ersonnenen Flugapparat in die Lüfte, was bewegt den Menschen, was das Wasser, was die Welt? Dieses Interesse an der Wirklichkeit, diese Universalität, die notwendiger denn je ist, macht ihn noch heute modern. Leonardo mahnt uns, dass wir eine neue Universalität, eine neue Kompetenz für unsere Welt benötigen, weniger Vertrauen und noch weniger Vertrauensseligkeit, sondern weit mehr Kritikfähigkeit, ein Denken in Widersprüchen und Alternativen, eigenständige und respektlose Geister.
Vinci, Florenz, Mailand, vor allem Mailand, kurze Aufenthalte in Venedig und in Mantua, dann wieder Florenz, Imola, Mailand, Rom und schließlich Amboise heißen im großen und ganzen die Stationen in Leonardos Lebens, doch am wohlsten dürfte er sich im Mailand des Lodovico Sforza gefühlt haben. Mit Rom jedoch fremdelte er und im heimischen Florenz, der kalten Bürgerstadt, wurde er nie heimisch. Florenz war der Ort, von dem er zeitlebens floh. Um seinen zahlreichen Interessen so bedingungslos nachzugehen, wie er es tat, benötigte er einen großzügigen Mäzen, einen Fürsten, der ihn alimentierte.
Im Gegensatz zum eigenbrötlerischen Michelangelo war Leonardo ein Genie der Freundschaft – doch verband sich Freundschaft für ihn oft auch mit der Absicht, von der Bildung des anderen zu profitieren, denkt man etwa an die enge Beziehung zu dem Mathematiker Luca Pacioli. Denn weil Leonardo keine Universität besucht hatte, konnte er seine Wissenschaft letztlich nur mit Hilfe und durch die Anregung von Freunden aus sich selbst heraus erschaffen.
Tod und Nachruhm
Als der Künstler am 2. Mai 1519 im französischen Amboise starb, war er bereits eine Legende, vielleicht sogar ein Mythos. Jedenfalls hatte Leonardo wie kaum ein Zweiter in seinem Tun stets die Nachwelt im Blick gehabt. Nur zu gut wusste er, wie schnell das Leben vergeht, sah er die Zeit mit Ovid als „Verzehrerin aller Dinge“. Dauer verlieh nur das Gedächtnis kommender Geschlechter.
„Wenn ich glauben werde, das Leben zu lernen, dann werde ich das Sterben lernen“, schrieb Leonardo einmal. Der Künstler hat vor allem vermocht, sein Leben und sein Werk zur Legende zu machen, die man mit jedem Versuch, ihn zu verstehen, vergrößert und erweitert. So ist Leonardo der große Untote der europäischen Kunst- und Kulturgeschichte, der Wiedergänger, dem immer von Neuem zu begegnen, man schließlich nicht umhinkommt. Dass er nicht nur seine Welt, sondern auch die Nachwelt gewonnen hat, ist vielleicht seine größte Leistung.
Klaus-Rüdiger Mai
Buchtipp
Klaus-Rüdiger Mai , Leonardos Geheimnis. Die Biographie eines Universalgenies, Evangelische Verlagsanstalt 2019, 432 Seiten, 25,- Euro