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Buch der Woche

Diagnose Krebs - »Am Anfang steht die Angst«

Am 4. Februar ist Weltkrebstag – ein guter Anlass um sich näher mit dem Angst-Thema Krebs zu befassen, Aufklärung zu leisten und gleichzeitig den Betroffenen Mut zuzusprechen. Wer die gefürchtete Diagnose gestellt bekommt, muss lebenswichtige Entscheidungen treffen. Der Rotarier und in Frankfurt praktizierende Arzt, Professor für Urologie, Krebsspezialist und Autor Wolf-D. Beecken zeigt in seinem Buch, dass es darum geht, nicht die Angst überhandnehmen zu lassen, sondern „sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“. Unser Buch der Woche.

31.01.2014

Am Anfang steht die Angst

Zu Beginn jeder Auseinandersetzung mit Krebs steht meistens der vom Arzt ausgesprochene Krebsverdacht. In dieser Sekunde beginnt für den Betroffenen eine schlimme Zeit der Ungewissheit, die sich gelegentlich lange hinziehen kann – so lange, bis der Verdacht ausgeräumt oder bestätigt wird. Diese Ungewissheit ist für die meisten Menschen schwer zu ertragen – genauso aber ist auch die Gewissheit, an Krebs erkrankt zu sein, mit großer Angst verbunden, handelt es sich doch um eine Krankheit mit nicht selten tödlichem Verlauf. Wie soll man sich nun verhalten? Bewusst entscheiden kann man das kaum, denn es sind zuallererst häufig reflexartige und emotionale Verhaltensweisen, mit denen wir auf die Diagnose Krebs reagieren.

Die Evolution hat uns nämlich so geprägt, dass wir auf Gefahr und Angst mit einer Fluchtreaktion antworten. Diese wird von unserer Vernunft nicht hinterfragt und kann in gewissen Situationen auch ganz sinnvoll sein. Wenn wir vom Säbelzahntiger gejagt werden, bleibt nicht viel Zeit zum Nachdenken: „Rennen!“ lautet die Devise. Langes Überlegen, in welche Richtung in dieser Situation am besten zu rennen sei, würde das Risiko vergrößern; die automatische, instinktive Fluchtreaktion setzt sofort ein und befiehlt unseren Beinen, ihr Bestes zu geben. Dabei kann es natürlich vorkommen, dass man in eine Sackgasse läuft und trotz neuem Geschwindigkeitsrekord als Frühstück des Säbelzahntigers endet; hätte man jedoch wertvolle Zeit und Energie mit dem Austüfteln der optimalen Fluchtroute vergeudet, wäre die Wahrscheinlichkeit des Gefressen-Werdens ungleich größer – daher der evolutionäre Vorteil beim unüberlegten Davonrennen.

Auch wenn eine schwerwiegende Diagnose kein Säbelzahntiger ist, passiert es doch sehr häufig, dass insbesondere bei Krebserkrankungen so etwas wie „mentale Kurzschlüsse“ auftreten. Rationale, der Situation angemessene Reaktionen sind geradezu die Ausnahme und meistens das Ergebnis einer bewussten geistigen Anstrengung.

Ein Beispiel für einen Fluchtversuch: Unlängst hatte ich einen Patienten, den ich wegen eines Prostatakarzinoms in meiner Praxis ausführlich beriet. Nach langem Gespräch kamen wir gemeinsam zu dem Ergebnis, dass eine Bestrahlungstherapie der Prostata in seinem Fall die beste Therapiemaßnahme sei. Ich hatte ausreichende Daten zur Verfügung und insgesamt ein gutes Gefühl, dass wir seine Tumorerkrankung in den Griff bekommen würden.

Nach sieben Monaten kam ein Anruf vom Hausarzt des Patienten: Dieser stecke in Schwierigkeiten und benötige sofortige Hilfe, traue sich jedoch nicht, zu mir zu kommen. Bei mir läuteten alle Alarmglocken. Ich bat den Hausarzt, den Patienten davon zu überzeugen, dass er dringend bei mir vorstellig werden müsse. Eine Woche später saß Letzterer mir tatsächlich gegenüber. Was war geschehen? Nach unserer gemeinsamen Entscheidung war er guten Mutes gewesen und wollte die empfohlene Strahlungstherapie der Prostata auf jeden Fall durchführen lassen. Nachdem er aber mit einem Bekannten über sein Vorhaben gesprochen hatte und dieser ihm empfahl, sich nach der tollen, „sanften“ Behandlungsmethode zu erkundigen, von der eine entfernte Bekannte dieses Bekannten gehört hatte und die ihn von den „schlimmen Nebenwirkungen“ verschonen würde, kam er vom ursprünglich gewählten Weg ab. Er landete bei einem Behandlungsinstitut, wo sein Prostatakarzinom zwar ohne Nebenwirkungen, dafür aber mit einer nicht komplett evaluierten – also wissenschaftlich überprüften – Methode behandelt wurde.

Ich erfuhr nun, dass er zwar keinerlei Komplikationen oder Nebenwirkungen durch die Therapie zu beklagen hätte, seine private Krankenversicherung eine vollständige Übernahme der Behandlungskosten jedoch ablehnte. Der Patient saß plötzlich auf 7.000 Euro Kosten. Viel schlimmer war jedoch, dass der Verlauf des PSA-Wertes (ein Tumormarker für das Prostatakarzinom, den ich in Kapitel 4 beschreiben werde) ein Weiterbestehen und Wachsen des Prostatakarzinoms anzeigte – die Behandlung des Tumors hatte sich als unzureichend erwiesen. Der Patient saß vor mir wie ein Häufchen Elend, von Angst und vernichtenden Selbstvorwürfen geplagt – dabei handelte es sich keinesfalls um einen einfältigen Menschen, ganz im Gegenteil: Er ist ein hochgebildeter Akademiker. Er hatte sich in seinem persönlichen Netzwerk schlau gemacht – war das falsch gewesen? Sich zu informieren ist meiner festen Überzeugung nach prinzipiell richtig – man muss nur sehr genau auf die Qualität der Information achten.

Wie sieht es mit dem Internet als Informationsquelle aus? Im Kontext Krebs ist es nicht immer der beste Berater. Es bietet zwar jede Menge korrekter Informationen zu Krebserkrankungen und -therapien; Betroffene tendieren jedoch ohne den Beistand eines erfahrenen Arztes oder profunden Kenners der Materie eher dazu, nach einer Behandlungsmethode zu fahnden, die sanft, unkompliziert und nebenwirkungsfrei zu sein verspricht. Ich sage immer: Dr. Google ist ein mäßiger Arzt. Was aber nicht heißen soll, dass es von der Hand zu weisen ist, wenn Betroffene das Internet oder andere Informationsquellen (Bücher, Fachzeitschriften, wissenschaftliche TV-Sendungen etc.) durchforsten, um sich im Krankheitsfall auf das Gespräch mit dem Arzt8 vorzubereiten. Das kann die Kommunikation zwischen Patient und Arzt beträchtlich verbessern – und diese ist, wie wir gleich sehen werden, von allergrößter Wichtigkeit.

Mit Ärzten reden: Kommunikation rund um Krebs

Kommunikation ist ein weit gefasster Begriff, der in viele Aspekte unseres täglichen Lebens hineinwirkt. Nicht umsonst gibt es ganze Wissenschaftszweige, die sich mit dem Thema Kommunikation befassen (Kommunikationstechnik, Kommunikationswissenschaften, Kommunikationsverhalten etc.). Ich werde mich im Folgenden aber nur auf den Austausch von Information zwischen den von Krebs Betroffenen und ihren Beratern und Behandlern beziehen und diese Auswahl noch einmal einschränken, indem ich hier vor allem auf den mündlichen Aspekt fokussiere.

Die Kommunikation zwischen Menschen ist schon an und für sich nicht immer frei von Missverständnissen; in einer Extremsituationen jedoch, wie sie bei schwerwiegenden Erkrankungen gegeben ist, potenzieren sich die Probleme. Vom Moment der Diagnosestellung an leidet ein Betroffener häufig unter starken Angstgefühlen, die sich zu regelrechten Panikattacken steigern können, und empfindet sich nicht selten als Fremdkörper in einer Welt von Gesunden. Trotz dieses deprimierenden Gefühls wünscht er sich in seiner schwierigen Lage wahrscheinlich besonders viel Kontakt zu Angehörigen und Freunden – ein Widerspruch, der durchaus Kommunikationsprobleme herbeiführen kann. Dafür, wie ein Betroffener in dieser Situation anzusprechen und zu behandeln ist, gibt es leider kein Patentrezept – weder für den Arzt noch für Angehörige, Freunde oder Bekannte. Jeder Betroffene braucht aber Unterstützung und Zuspruch. In vielen Fällen ist deshalb eine frühzeitige psychoonkologische Begleitung sinnvoll.

Neben der Kommunikation im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis spielt die Kommunikation und gute Verständigung zwischen Arzt und Betroffenem eine essentielle Rolle. Arzt und Patient gehen im Falle einer derart schweren Erkrankung wie Krebs eine längerfristige und sehr enge Beziehung ein. Noch ein Umstand ist hier zu erwähnen: Die Spezialisierung in der Medizin ist der Grund dafür, dass eine Krebserkrankung oft nicht nur von einem Arzt diagnostiziert und behandelt wird. Das bedeutet, dass der Betroffene auf den Rat und die Hilfe von gleich mehreren Medizinern, die er in den meisten Fällen auch noch zum ersten Mal in seinem Leben sieht, angewiesen ist. Mit allen sollte er wirklich gut kommunizieren können.

Das Anamnesegespräch stellt die Grundlage der Diagnosefindung dar und darf in seiner Bedeutung keinesfalls unterschätzt werden. Hier möchte ich einen weiteren wichtigen Aspekt der Kommunikation hervorheben: Kein Arzt erwartet von seinen Patienten, dass sie zu allem Ja und Amen sagen. Besser wäre ihre Mitarbeit. Sie bedeutet mehr als die gewissenhafte Einnahme der vom Arzt verordneten Medikamente, was in der Medizin als Compliance (Therapietreue) bezeichnet wird. Sicherlich ist die Compliance des Patienten wichtig – ohne Medikamente keine Wirkung. Da es aber bei einer Krebserkrankung keinesfalls die Regel ist, dass gleich bei der ersten Medikamentengabe die richtige und im individuellen Fall beste Therapie gefunden wird, ist der Arzt auf Signale und Rückmeldungen über das aktuelle Patientenbefinden, über Verbesserungen oder Verschlechterungen durch die verabreichte Therapie und über eventuelle neue Befunde angewiesen. Es ist deshalb von großem Vorteil für den Betroffenen, wenn er die beobachteten und erlebten Veränderungen so objektiv wie möglich beschreiben kann.

Für eine gelungene und zielführende Kommunikation ist allerdings nicht der Betroffenene allein verantwortlich. Auch der Arzt muss sich in seinem Kommunikationsverhalten auf den jeweiligen Patienten einstellen. Ärzte beherrschen normalerweise durch die im Laufe der Jahre gesammelten Erfahrungen die Gesprächsführung mit ihren Patienten gut – dennoch ließe sich diese ganz sicherlich durch eine spezielle Aus- und Weiterbildung verbessern.

Allerdings gibt es einen weiteren Aspekt, der eine effektive Kommunikation behindert – und zwar: Ein Arzt muss jeden Tag viele Patienten behandeln und sich innerhalb weniger Minuten auf den nächsten Befund, eine neue Situation und eine andere Kommunikationsstrategie einstellen – der eine Gesprächspartner ist temperamentvoll und kann sich gut ausdrücken, der andere ist verschlossen oder unsicher etc. Schafft der Arzt das, ist schon viel gewonnen – vor allem, wenn der Betroffene sich als informierter, ambitionierter und ehrlicher Gesprächspartner erweist. Eine schlechte Compliance hinsichtlich der Medikamenteneinnahme zu haben, diese jedoch nicht zu kommunizieren – sei es aus Angst, falsch verstandenem Respekt oder sonstigen Gründen –, ist die schlechteste Konstellation. Ein Betroffener hat quasi immer einen Grund für eine schlechte Compliance, sollte darüber aber unbedingt mit seinem Arzt sprechen. Es gilt dann, gemeinsam einen Weg zu finden, der für beide akzeptabel ist. Das heißt: Der Betroffene muss von seinem Arzt ganz genau darüber informiert werden, welche Vor- oder Nachteile die Abkehr von der ursprünglich verordneten Medikation oder Therapie für ihn hat. Dann sollte der Arzt eine alternative Therapie vorschlagen und alle damit verbundenen Vor- und Nachteile aufzeigen. Erst mit diesem Wissen kann der Betroffene eine rationale Entscheidung darüber treffen, ob er die zur Non-Compliance (Therapieuntreue) führenden Gründe überwinden oder eine veränderte Therapie aufnehmen möchte.

In der Regel sind die Hausärzte10 die primären Ansprechpartner für Menschen, die über eine Veränderung an ihrem Körper oder bezüglich ihres Wohlbefindens (also über einen Befund oder ein Symptom) besorgt sind. Auch bei der Erstdiagnose von Krebserkrankungen spielen Hausärzte eine große Rolle. Mit ihrer Ausbildung sind sie durchaus dazu befähigt, die oft unspezifischen ersten Symptome einer Krebserkrankung als solche zu erkennen. Für die weitere Abklärung auffälliger Befunde ziehen die Hausärzte meistens entsprechende Spezialisten – wie z. B. Fachärzte für Urologie, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Gynäkologie etc. – hinzu. Manchmal kennen sich Hausärzte aber auch mit einigen speziellen Tumorerkrankungen sehr gut aus; dann können sie die diagnostische Abklärung übernehmen. Wichtig ist in dieser Situation weniger die fachärztliche Ausrichtung des Arztes als die Tatsache, dass er die Befähigung und Erfahrung für die Erstellung der Diagnose besitzt. Ob es sich dabei um den speziell orientierten Allgemeinmediziner oder einen spezialisierten Facharzt handelt, ist unerheblich.

Auch ein Facharzt für Urologie muss sich nicht unbedingt besonders gut mit dem onkologischen Teil seines Faches auskennen. Schon ein kleines Fach wie die Urologie – um nur ein Beispiel zu nennen – ist heutzutage so umfangreich, dass es unter den Urologen bereits zahlreiche Subspezialisten gibt. Vielleicht interessiert sich der örtliche Urologe viel mehr für Kinderurologie oder Neurourologie und behandelt zwar auch uroonkologische Patienten, aber eben nicht mit demselben Enthusiasmus und demselben fundierten Wissen wie eventuell der Urologe aus dem Nachbarort, dessen Spezialgebiet die Uroonkologie ist. Bei der heutigen Komplexität der Medizin und dem rasanten Wissenszuwachs in all ihren Bereichen kann man sogar noch weiter gehen und sagen, dass ein Urologe, dessen Hauptinteresse dem Prostatakarzinom gilt, noch lange kein Spezialist für das Blasenkarzinom sein muss, obwohl beide Erkrankungen demselben Fachgebiet angehören.

Man darf hier generalisieren: Onkologen kennen sich mit manchen Krebserkrankungen besser aus als mit anderen. Und zwar nicht, weil der Arzt oder seine Ausbildung zu wünschen übrig lassen, sondern wegen der Menge an medizinischer Information. Wichtig ist lediglich, dass der für die jeweilige Tumorerkrankung geeignete Arzt gefunden wird. Hier einige Richtlinien:

Der behandelnde Arzt sollte sich auf jeden Fall mit dem den Patienten betreffenden Bereich sehr gut auskennen und entsprechend viel Untersuchungs- und Behandlungserfahrung aufweisen, um der aufwendigen Diagnostik und Therapie gewachsen zu sein. Dabei ist „viel Erfahrung“ natürlich eine relative Bezeichnung. Ein Anhaltspunkt wäre etwa, dass ein Chirurg eine schwierige Operation erst dann wirklich beherrscht, wenn er sie seit mehreren Jahren regelmäßig durchführt und dabei mehr als 150 solcher Operationen pro Jahr leistet. Diese Information kann und sollte der Betroffene einfach bei seinem Arzt erfragen.

In der Frühphase der Abklärung eines Symptoms gibt es praktisch keinen fataleren Fehler, als die Diagnostik nicht konsequent durchzuführen – das heißt z. B., Symptome zu bagatellisieren. Jedes Symptom muss bis zum Beweis des Gegenteils für den Arzt das Symptom einer Maximalerkrankung sein – also des Schlimmstmöglichen. Kann er den Verdacht dann durch die vorgenommene Diagnostik ausschließen, ist es gut. Die ärztliche Kunst besteht hier darin, den Befund einerseits nicht zu bagatellisieren, andererseits aber auch keine übertriebene Abklärung mit aufwendigen und beeinträchtigenden Untersuchungen zu veranlassen. Die Aufgabe des Arztes ist es, die richtige Balance zu finden, und das ist nicht immer einfach.

Zum Autor: Wolf-D. Beecken (geb. 1964 in Hamburg) ist Arzt, Professor für Urologie, Krebsspezialist, Berater und Autor. Er studierte an den Universitäten Hamburg, San Francisco (UCSF) und Zürich und absolvierte seine Facharztausbildung zum Urologen an den Universitätskliniken Marburg/Lahn, Hamburg und Frankfurt am Main. Von 1997 – 2000 war er Research Fellow an der Harvard Medical School. Er ist Partner des UroGate Urologennetzwerks, das 2013 mit dem Preis „Aktive Männergesundheitspraxis 2013“ ausgezeichnet wurde. Derzeit bekleidet er einen Lehrauftrag für das Fach Urologie an der J.W. Goethe Universität in Frankfurt am Main und publiziert zu urologischen und onkologischen Themen.
Beecken ist Rotarier siet 2006 und Mitglied im Rotary Club Frankfurt am Main. Er ist seit 1995 verheiratet und lebt mit seiner Frau und seinen Kindern bei Frankfurt am Main.

Quelle: Wolf-D. Beecken: Das kleine Buch vom Krebs. Scoventa, Bad Vilbel 2013. Carl Hanser V erlag, München 2013. 250 Seiten, 1995 Euro. Der Auszug stammt von den Seiten 29 bis 45.
 
Anm. d. Red.: Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurde bei dieser Lesprobe auf die Angabe der Fußnoten verzichtet.