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Die späte Karriere

Forum - Die späte Karriere
Zu Lebzeiten Friedrich Hölderlins erschienen seine Gedichte nur vereinzelt in Almanachen. © Artothek

Erst die Nazis, dann die 68er: Hölderlin diente im 20. Jahrhundert als Projektionsfläche für entgegengesetzte Weltbilder. Zum 250. Geburtstag des großen Dichters.

Karl-Heinz Ott01.03.2020

Hölderlin macht erst spät Karriere, lange nach seinem Tod. Als Nietzsche in der Schule einen Aufsatz über ihn schreibt, rät sein Lehrer ihm, sich „an einen gesundern, klareren, deutscheren Dichter“ zu halten. Von Hölderlins „Hyperion“ werden zu seinen Lebzeiten 350 Exemplare gedruckt, in Almanachen erscheinen vereinzelt Gedichte. Hölderlin fühlt sich zum Dichter berufen, muss sich aber als Hauslehrer durchschlagen. Seine Mutter weigert sich, ihm das Erbe des toten Vaters auszubezahlen, solange er nicht Pfarrer wird. Nur deshalb hat sie ihn auf die Lateinschule geschickt und ihn studieren lassen. Die unglückliche Liebe mit Susette Gontard, der Frau eines Frankfurter Bankiers, bringt ihn an den Rand des Wahnsinns. Von einer Reise nach Bordeaux kehrt er völlig verstört zurück. 1806 liefert man ihn in die Tübinger Authenrieth’sche Klinik ein, aus der er ein halbes Jahr später entlassen wird. Die Diagnose: unheilbar. Seine restlichen 36 Jahre verbringt er in einem Turmzimmer mit Blick auf den Neckar, im Haus des Schreinermeisters Zimmer. Dort sorgt man für ihn bis zu seinem Tod.

Zu abstrakt, zu verknotet

1826 bringen seine schwäbischen Dichterkollegen Ludwig Uhland und Gustav Schwab eine Sammlung mit Gedichten von ihm heraus, in denen sich nicht einmal das heutzutage so berühmte „Hälfte des Lebens“ findet. Die Herausgeber glauben darin bereits Züge des Wahnsinns zu erkennen. Überhaupt stört man sich am „gesuchten Dunkel“ seiner Sprache und der „manierierten gräcisierenden Form“. In seinen Elegien entfaltet Hölderlin eine mythische Geschichtsvision, an deren Anfang die herrliche griechische Götterwelt steht; ihr folgt eine lange, immer noch anhaltende Götternacht, in der die Hoffnung keimt, dass die Götter wiederkehren. An dieses triadische Geschichtsschema knüpfen Hölderlins spätere Vereinnahmer an. Die einen erkennen darin den Ruf nach wiederkehrender mythischer Größe, die anderen den Ruf nach einer Gesellschaft der Gerechten und Gleichen. Zu Hölderlins Zeiten sind solche Gedanken für viele zu abstrakt, zumal in ihrer dichterisch verknoteten Form.

Das ändert sich radikal mit Beginn des 20. Jahrhunderts. 1906 stößt Norbert von Hellingrath auf nie veröffentlichte Hölderlin-Manuskripte und macht sich an die erste Werkausgabe. Ein Jahr bevor er vor Verdun fällt, hält er eine Rede mit dem Titel „Hölderlin und die Deutschen“, in der er erklärt, dass nicht Goethe der Dichter der Deutschen ist, sondern Hölderlin. Die Berufung auf den reimseligen Goethe, den jeder auf Anhieb versteht, findet Hellingrath „klein-Leutehaft“. Goethe besitzt für ihn keine Tiefe, ganz anders als Hölderlin. „Ich nenne uns ‚Volk Hölderlins‘“, erklärt Hellingrath, „weil es zutiefst im deutschen Wesen liegt, dass sein innerster Glutkern unendlich weit unter der Schlackenkruste, die seine Oberfläche ist, nur in einem geheimen Deutschland zutage tritt.“ Stefan George erkennt in Höl- derlin seinen Vorgänger, seinen Herold, seinen Ahnen.

Deutschnationaler Dichterheiland?

Auch wenn Hellingraths Rede von deutschnationalen Tönen lebt, befeuert sie keineswegs germanische Größenfantasien. Hölderlin ist nicht für die Masse gemacht, es können sich ihm nur Geister nähern, die Dichtung als Gottesdienst zelebrieren. Die deutsche Heeresführung hindert das allerdings nicht, Hölderlin in Riesenauflagen zu drucken, und zwar für den Tornister, als geistige Nahrung für die Soldaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Schließlich finden sich bei ihm Verse, die einen martialischen Patriotismus predigen, zumindest auf den ersten Blick. Das Gedicht „Der Tod fürs Vaterland“ endet mit den Versen: „Und zähle nicht die Toten! Dir ist, / Liebes! nicht Einer zu viel gefallen.“

Man blendet aus, dass Hölderlin damit die Französische Revolution feiert und Napoleon, der die deutschen Kleinstaaten zerschlägt und die Fürstenwillkür abschafft. Bis 1945 kürt man ihn jedoch zum deutschnationalen Dichterheiland. Heidegger entdeckt in ihm den Künder eines neuen Heidentums, mit dem unsere christlich geprägte Aufklärung überwunden werden soll. Für den Nazi-Philosophen Alfred Baeumler ist er der Sänger eines verschütteten deutschen Wesens, das endlich wiederaufersteht. Der SS-Germanist Kurt Hancke erkennt in ihm den Wegweiser in ein Reich, das stolz den Namen Germania tragen wird. Mit Hölderlin finden die Deutschen zu ihrer Größe zurück, im Kampf gegen die verrottete westliche Zivilisation und den Bolschewismus. Nach dem Zusammenbruch lesen wir bei Wolfgang Borchert von jenen „Hölderlinhelden, für die kein Tag zu hell und keine Schlacht schlimm genug war“. „Hörst du Hölderlin noch?“, heißt es bei ihm, „kennst du ihn wieder, blutberauscht, kostümiert und Arm in Arm mit Baldur von Schirach?“

Zwanzig Jahre später ist davon keine Rede mehr. Hölderlin steht plötzlich links. Seit ’68 sieht man in ihm nur noch den Jakobiner, den Revolutionär, den Linken. Manche stilisieren ihn sogar zum frühen Marxisten, allen voran Georg Lukács und Peter Weiss. Der französische Literaturwissenschaftler Pierre Bertaux erregt Aufsehen mit seiner These, Hölderlin sei nicht verrückt gewesen, er habe seinen Wahnsinn nur gespielt, aus Angst vor politischer Verfolgung. Zwar sprechen alle Dokumente aus der Turmzeit dagegen, doch Bertaux’ These kommt politisch gelegen, in jeder Hinsicht. Die damals aufkommende antipsychiatrische Bewegung stellt alle tradierten Normalitätsvorstellungen infrage; im wahnsinnigen Hölderlin erkennt sie nicht mehr den Wahnsinnigen, sondern den Gesunden der dafür büßen musste, dass er sich nicht angepasst hat, während in Wirklichkeit jene krank sind, die sich ans kranke gesellschaftliche Getriebe anpassen.

Lesen, einfach nur lesen

Hölderlin dient im 20. Jahrhundert als riesige Projektionsfläche für vollkommen entgegengesetzte Weltbilder. Alle beziehen sich auf seine geschichtsmythischen Visionen, die sie mal revolutionär vereinnahmen, mal nationalistisch. Dass man in Dichtung vieles hineinlesen kann und vieles aus ihr herauslesen, spricht nicht gegen sie, im Gegenteil. Was dabei meist auf der Strecke bleibt, ist die Dichtung selbst. Wer aus ihr weltanschauliche Glaubensartikel herauspresst, verwechselt sie mit Predigten, Manifesten, Agitprop. Nachdem Hölderlin von den Nazis auf groteske Weise vereinnahmt worden war, aber auch die 68er so manches an ihm ausblenden mussten, um ihn sich gefügig zu machen, ist es wieder ruhiger geworden um ihn. Vielleicht liegt das auch daran, dass man die vielen ideologischen Schlachten satthatte, um die keiner herumkam im Zusammenhang mit Hölderlin. Was auch sein Gutes hat. Endlich kann man ihn wieder lesen, befreit von allerlei Ballast.


Buchtipp

Karl-Heinz Ott,

Hölderlins Geister, Carl Hanser Verlag, 240 Seiten, 22 Euro

hanser-literaturverlage.de

Karl-Heinz Ott

Karl-Heinz Ott war von 1993 bis 1995 Chefdramaturg der Oper am Theater Basel. Seit 1996 ist er freischaffender Schriftsteller und wurde für sein Werk mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Förderpreis des Friedrich-Hölderlin-Preises.

 

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