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Buch der Woche

»Eine Art zu leben« – Würde in ihrer Vielfalt

31.10.2013

Philosophie, wie ich sie verstehe, ist der Versuch, begriffliches Licht in wichtige Erfahrungen des menschlichen Lebens zu bringen. Um über diese Erfahrungen nachdenken und sprechen zu können, haben wir Begriffe erfunden, die uns in gewöhnlichen Zusammenhängen als etwas Selbstverständliches zur Verfügung stehen. Doch manchmal geschieht es, daß wir genauer wissen möchten, wovon wir eigentlich reden, weil Wichtiges auf dem Spiel steht, sowohl im Verstehen als auch im Handeln. Wenn wir dann einen Schritt hinter die sprachliche Gewohnheit zurücktreten und uns auf den Begriff konzentrieren, stellen wir verwirrt fest, daß uns gar nicht klar war, was wir da die ganze Zeit gesagt hatten. Der Begriff erscheint uns plötzlich fremd und rätselhaft.

So kann es uns mit dem Begriff der Würde gehen. Die Würde des Menschen – das ist etwas Wichtiges und etwas, was nicht angetastet werden darf. Doch was ist es eigentlich? Was ist es genau ? Wenn wir versuchen, hier Klarheit zu gewinnen, können wir zwei verschiedene gedankliche Wege gehen. Der eine ist der Weg, auf dem wir Würde als eine Eigenschaft von Menschen auffassen – als etwas, was sie kraft der Tatsache besitzen, daß sie Menschen sind. Es gilt dann, die Natur dieser Eigenschaft zu verstehen. Man wird sie nicht als eine natürliche, sinnliche Eigenschaft verstehen wollen. Eher als eine außergewöhnliche Art von Eigenschaft, die den Charakter eines Anrechts hat: des Anrechts, auf eine bestimmte Art und Weise geachtet und behandelt zu werden. Man würde es als ein Anrecht verstehen, das jedem Menschen innewohnt, das er in sich trägt und das man ihm nicht nehmen kann, ganz gleich, was man ihm an schrecklichen Dingen zufügen mag. Es gibt Lesarten dieses Anrechts, die es auf die Beziehung zu Gott als unserem Schöpfer zurückführen und es aus dieser Beziehung verständlich zu machen suchen.

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An der Lebensform der Würde kann man drei Dimensionen unterscheiden. Die eine ist die Art, wie ich von den anderen Menschen behandelt werde. Ich kann von ihnen so behandelt werden, daß meine Würde gewahrt bleibt, und sie können mich so behandeln, daß meine Würde zerstört wird. Hier ist die Würde also etwas, über das andere bestimmen. Um mir diese Dimension zu vergegenwärtigen, habe ich mir die Frage gestellt: Was alles kann man jemandem wegnehmen, wenn man seine Würde zerstören will? Oder auch: Was darf man jemandem auf keinen Fall wegnehmen, wenn man seine Würde schützen will? Auf diese Weise erhält man eine Übersicht über die vielen Facetten der Würde, sofern sie von anderen abhängt, und man kann sich verdeutlichen, wie diese Facetten miteinander verknüpft sind.

Die zweite Dimension betrifft wiederum die anderen Men - schen, mit denen ich zusammenlebe. Doch dieses Mal geht es nicht darum, wie sie mich behandeln. Es geht darum, wie ich sie behandle, und, weiter gefaßt, wie ich zu ihnen stehe: was für eine Einstellung ich zu ihnen habe. Es geht darum, wie sie, von mir aus betrachtet, in meinem Leben vorkommen. Jetzt ist die Würde etwas, über das nicht andere bestimmen, sondern ich selbst. Die leitende Frage lautet: Welche Muster des Tuns und Erlebens den anderen gegenüber führt zu der Erfahrung, daß ich mir meine Würde bewahre, und mit welchem Tun und Erleben verspiele ich sie? In der ersten Dimension liegt die Ver - antwortung für meine Würde bei den anderen: Es ist ihr Tun, das meine Würde bewahrt oder zerstört. In dieser zweiten Dimension liegt die Verantwortung ganz allein bei mir: Ich selbst habe es in der Hand, ob mir ein Leben in Würde gelingt oder nicht.

Auch in der dritten Dimension bin ich selbst es, der über meine Würde entscheidet. Es geht um die Art, wie ich zu mir selbst stehe. Die Frage, die man sich stellen muß, lautet: Welche Art, mich selbst zu sehen, zu bewerten und zu behandeln, gibt mir die Erfahrung der Würde? Und wann habe ich das Gefühl, meine Würde durch die Art und Weise zu verspielen, wie ich mich zu mir selbst verhalte?

Wie behandeln mich die anderen? Wie stehe ich zu den anderen? Wie stehe ich zu mir selbst? Drei Fragen, drei Dimensionen der Erfahrung und drei Dimensionen der Analyse. Sie alle fließen im Begriff der Würde zusammen. Das gibt dem Begriff seine besondere Dichte und sein besonderes Gewicht. Die drei Dimensionen lassen sich gedanklich klar trennen. In der Erfahrung gewahrter, beschädigter oder verspielter Würde greifen sie ineinander. Erfahrungen, in denen unsere Würde auf dem Spiel steht, besitzen oft diese besondere Komplexität: Die Art, wie wir zu uns selbst stehen, prägt unsere Einstellung zu den anderen, und dieser Zusammenhang prägt die Weise und das Ausmaß, in denen die anderen über unsere Würde bestimmen können. Würde ist eine vielschichtige Erfahrung. Die Schichten überlagern sich manchmal und werden als getrennte Schichten unkenntlich. Es ist die Aufgabe einer begrifflichen Vergegenwärtigung, sie als unterschiedliche Erfahrungen sichtbar zu machen.

Den Verlust unserer Würde erleben wir als ein Unglück im Sinne eines Makels. Es ist nicht irgendein Makel, an den wir uns gewöhnen und den wir innerlich auf Distanz halten könnten. Neben dem Makel einer großen, untilgbaren Schuld ist es der zweite Makel, der den Willen in Frage stellen kann, das Leben fortzusetzen. Wir haben etwas an unserem Leben ver - loren, ohne das dieses Leben nicht mehr wert scheint, gelebt zu werden. Der Verlust wirft einen Schatten über das Leben, der es so verdunkelt, daß wir es gar nicht mehr leben, sondern nur noch aushalten könnten. Wir spüren: Damit kann ich nicht weiterleben. Ich wollte herausfinden: Worin besteht dieses hohe Gut der Würde, und was macht den Makel seines Verlusts so bedrohlich?

Das konnte nicht bedeuten, nach einer Definition für den Begriff der Würde zu suchen: nach notwendigen und hinrei - chenden Bedingungen dafür, wann jemand seine Würde wahrt und wann er sie verliert. Das ist es nicht, was wir wissen wollen. Das ist nicht die Genauigkeit und Transparenz, die wir suchen. Was wir im einzelnen verstehen und in der Übersicht erken - nen wollen, ist, wie das Geflecht von Erfahrungen beschaffen ist, das wir mit dem Begriff der Würde verknüpfen. Dabei hat mir eine Frage geholfen, die mir um so dringlicher erschien, je länger ich mit dem Sammeln von Erfahrungen unterwegs war: Warum haben wir die Lebensform der Würde erfunden? Worauf ist sie eine Antwort? Der Gedanke, der sich langsam herausbildete, lautet: Unser Leben als denkende, erlebende und handelnde Wesen ist zerbrechlich und stets gefährdet – von außen wie von innen. Die Lebensform der Würde ist der Versuch, diese Gefährdung in Schach zu halten. Es gilt, unser stets gefährdetes Leben selbstbewußt zu bestehen. Es kommt darauf an, sich von erlittenen Dingen nicht nur fortreißen zu lassen, sondern ihnen mit einer bestimmten Haltung zu begegnen, die lautet: Ich nehme die Herausforderung an.

Quelle: Peter Bieri: Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde . Hanser, München, 2013. 384 Seiten, 24,90 Euro. Der Auszug stammt von den Seiten 12 bis 15. Mehr zum Buch.