Buch der Woche
»Eine Geschichte der Oper«
Eine einbändige Geschichte der Oper zu schreiben, die seit ihren Anfängen vor 400 Jahren die Menschen bis heute fasziniert, erfordert Mut. Schließlich muss sie einige der großen Meister berücksichtigen.
Die Oper ist ein Theaterstück, bei dem die meisten Figuren (oder alle) die meiste (oder die ganze) Zeit singen. In diesem sehr off enkundigen Sinn ist die Oper kein realistisches Genre, und tatsächlich galt sie über weite Strecken ihrer vierhundertjährigen Geschichte hinweg vielen Leuten als exotisch und seltsam. Dazu kommt, dass es fast immer absurd teuer ist, eine Oper auf die Bühne zu bringen bzw. eine ihrer Aufführungen zu besuchen. Zu keiner Zeit in der Geschichte der Oper hat es eine Gesellschaft fertiggebracht, die horrenden Kosten für Opernproduktionen ohne weiteres aufzubringen. Warum aber lieben dann so viele Menschen die Oper so abgöttisch? Warum widmen sie ihr Leben der Aufgabe, Opern auf die Bühne zu bringen, über Opern zu schreiben, Opernaufführungen zu besuchen? Warum unternehmen manche Opernfans halbe Weltreisen, um eine neue Produktion zu sehen oder die Stimme ihres Lieblingssängers oder ihrer Lieblingssängerin zu hören, und geben immense Summen für dieses flüchtige Privileg aus? Und weshalb ist die Oper das einzige klassische Musikgenre, dem es noch gelingt, neues Publikum in nennenswerter Größenordnung anzuziehen, und dies trotz der Tatsache, dass der Nachschub an neuen Werken, der einst ihr Lebenselixier war, in den letzten hundert Jahren fast zum Erliegen gekommen ist?
Diese Fragen beziehen sich auf die Oper, wie sie sich heute darstellt – auf das Bild, das sie seit Anfang des 21. Jahrhunderts bietet. Wir werden in den Kapiteln dieses Buches eine Menge über die Geschichte der Oper erzählen, über die Entwicklung, die sie in den vier Jahrhunderten ihres Daseins genommen hat; ein Schwerpunkt unseres Interesses liegt aber auch auf der Gegenwart, auf der Wirkung, die Opernaufführungen auf Zuschauer in aller Welt nach wie vor ausüben. Unser Ziel ist es, ein klares Bild von einer Kunstform zu gewinnen, deren populärste und langlebigste Werke fast allesamt in einer fernen europäischen Vergangenheit entstanden und somit Produkte einer Kultur sind, mit der unsere heutige Kultur nicht mehr allzu viel gemein hat, die aber auf viele von uns nach wie vor eine spürbare Faszination ausübt und Bedeutung für unser Leben besitzt. Opern können uns verändern: physisch, emotional, geistig. Wir wollen erkunden, warum das so ist.
Text und Musik
Immer wieder wird gesagt, bei der Oper finde, da sie im Grunde genommen gesungenes Theater sei, ein Kampf zwischen Text und Musik statt. Ganze Opern sind über diesen vermeintlichen Kampf geschrieben worden. Eine der berühmtesten aus dieser Rubrik ist (zumindest den Geschichtsbüchern zufolge) Antonio Salieris kleine komische Oper Prima la musica, poi le parole (»Erst die Musik, dann die Worte«), die ihre Premiere 1786 im opulenten Ambiente der Wiener Orangerie feierte, eines Luxus-Gewächshauses mit Wintergarten im Park des Schlosses Schönbrunn. Ein Dichter und ein Komponist erhalten den Auftrag, innerhalb von vier Tagen eine Oper zu schreiben. Der Dichter findet es unwürdig, auf eine bereits fertige Musik einen Text machen zu müssen und beklagt sich darüber; der Komponist entgegnet, die Bedenken des Dichters seien banal – auf die Texte achte sowieso kein Mensch. Die Grundpositionen, die diesen Streit definieren, sind in der Geschichte der Oper immer wieder eingenommen, die Frontlinien immer wieder abgesteckt worden. Richard Strauss’ Capriccio, uraufgeführt an der Münchner Staatsoper in einem der dunkelsten Jahre der deutschen Geschichte, 1942, behandelt das gleiche Thema aus einer verständlicherweise etwas pessimistischeren Warte.
Auf den ersten Blick mag uns diese Attitüde einer fortbestehenden Rivalität zwischen Text und Musik seltsam erscheinen: Um die Geschichte zu erzählen, braucht man schließlich den Text, und die Musik ist es, die dieser Geschichte eine ergänzende Wirkung und Aura verleiht. Gewiss ist es kaum verwunderlich, dass Librettisten und Komponisten hin und wieder Meinungsverschiedenheiten haben (und Tatsache ist, dass das relative Ansehen ihres jeweiligen Metiers im Verlauf der Jahrhunderte erheblichen Schwankungen unterworfen war). Andererseits sind sie aufeinander angewiesen, und das war nie anders. Wir brauchen allerdings nur ein bisschen nachzubohren, dann wird sichtbar, weshalb der Antagonismus zwischen Text und Musik oft so ausgeprägt und emotional so aufgeladen ist. Ein Libretto umfasst mindestens zwei separate Arbeitsfelder. Beim ersten geht es um das narrative Element, im Wesentlichen um die Handlung und die handelnden Figuren, im anderen um die Umsetzung der narrativen Idee in Texte, in (fast immer poetische) Wörter und Sätze. Während der erstgenannte Bereich über die Lebensdauer einer Oper hinweg in der Regel beständig bleibt, werden im zweiten häufig weitreichende Veränderungen vorgenommen. Versdichtungen für die Oper, wie sie im Libretto festgeschrieben werden, genießen nur selten den gleichen exquisiten Nimbus wie literarische Werke, deren Integrität auf allen Ebenen respektiert wird. Das fängt schon mit der fortwährenden hitzigen Diskussion darüber an, ob Opern in andere Sprachen übersetzt werden sollen, so dass die Menschen in einem anderen Land sie in ihrer Muttersprache erleben können. Diejenigen, die für Übersetzungen plädieren, vertreten implizit den Standpunkt, der erste Arbeitsbereich des Librettos, der die Handlung und die Figuren festlegt, sei wichtiger als der zweite, der die Handlung in konkrete Texte gießt. Zu einer zusätzlichen Verunklarung der Debatte trägt ein weiterer Umstand bei, auf den der Komponist in Salieris Komödie ziemlich brutal hinweist: Ein Text, der vertont wird, verliert dadurch einen nicht geringen Teil seiner semantischen Stringenz – ein Verlust an Bedeutung, der bei der Oper extreme Formen annehmen kann.
Gründe für diesen Bedeutungsverlust gibt es viele. Der musikalische Rahmen – das Orchester mit seinen potentiell lautstarken Instrumenten wie auch die Art der Musik, die gespielt wird – kann die menschliche Singstimme begleiten, aber auch überwältigen. Komponisten können Text als eine Art Bindemittel einsetzen: Beim Koloraturgesang kann es leicht vorkommen, dass kaskadierende vokale Verzierungen das textliche Element auf einen bloßen Vokal reduzieren und der Stimme des Sängers oder der Sängerin damit die Rolle eines Musikinstruments zuweisen. Darüber hinaus kann die Stimme selbst, namentlich so wie sie in der Oper in Erscheinung tritt, auf ihre ganz eigene Weise zur Auslöschung des semantischen Gehalts beitragen. Die Anforderungen, die Opernarien an die menschliche Stimme in Bezug auf Lautstärke und Stimmumfang stellen, sind so, dass der Aspekt der Verständlichkeit manchmal zurückstehen muss. Der Text wird undeutlich, ganz gleich, in welcher Sprache gesungen wird. Selbst in Sprachen, die uns wohlvertraut sind, kann es ein frustrierendes Erlebnis sein, einer Oper zu lauschen: Mag sein, dass einzelne Wörter oder Satzbruchteile – «la vendetta», «das Schwert», «j’ai peur», «I am bad» – kurz über die Schwelle der Verständlichkeit treten, während das, was folgt, wieder von der musikalischen Dröhnung überspült und verschluckt wird. Opernliebhaber mögen lange Passagen eines Librettos auswendig kennen, so dass sie Textteile, die im akustischen Tohuwabohu untergehen, aus dem Gedächtnis ergänzen können. Das heißt aber nicht unbedingt, dass sie den von ihnen memorierten Text tatsächlich verstehen; etwas Ähnliches gilt für Opernsänger, die manchmal ihre Partien nur phonetisch lernen und vielleicht nur eine ungefähre Ahnung davon haben, was sie gerade singen.
Manche Sänger und Sängerinnen artikulieren Text wesentlich deutlicher als andere – aus dem deutschen Sprachraum wäre Franz Mazura als Vorbild zu nennen, aus dem italienischen Giuseppe di Stefano. Doch die Gegenbeispiele – Sänger und Sängerinnen, die berüchtigt waren oder sind für ihre nuschelige Aussprache, sind vermutlich zahlreicher vertreten; selbst Stars wie Joan Sutherland können dieser Kategorie angehören. (Dass wir als Beispiele für deutliches Artikulieren zwei Männer und für das Gegenteil eine Frau nennen, die für ihren kunstvollen Koloraturgesang bekannt ist, ist kein Zufall: Je höher die gesungenen Töne und je artistischer die vokalen Verzierungen sind, desto geringer ist die Chance auf Verständlichkeit.) Manchen Opernbesuchern macht es nichts aus, wenn Texte unverständlich bleiben, andere wollen jedoch unbedingt das Gefühl haben, dass der Text einer Arie mit Bedacht, Leidenschaft und Überzeugung artikuliert wird, selbst wenn sie nicht immer erkennen oder verstehen, was sie hören. Die letztgenannte Position vertritt mit Vehemenz der Historiker Paul Robinson, der wie folgt argumentiert: Es mag häufig vorkommen, dass der Wortlaut des Librettos wenig Einfluss auf den Genuss hat, den eine Oper dem Publikum bereiten kann, aber andererseits steht fest, dass drei Stunden Oper, in denen die Figuren nur «la, la, la, la» sängen, unerträglich wären. Anders ausgedrückt: Es ist von großer Wichtigkeit, dass in die Musik einer Oper Texte mit Bedeutung eingebettet sind, selbst wenn der Zuhörer nicht immer in der Lage ist, die Texte in dem Moment, da sie gesungen werden, zu erkennen und zu verstehen.
Die Debatte über die Rolle des Textes beim Erleben einer Oper hat in jüngster Zeit eine weitere, ganz und gar zeitgenössische Wendung genommen, und zwar in Form einer endlosen Diskussion über den Nutzen von Texteinblendungen. Wenn ein Opernhaus ein Werk in der Originalsprache präsentiert, sollte es dem Publikum übersetzte Texte Text und anbieten (sei es auf einem Display über der Bühne oder auf Bildschirmen an der Rückenlehne des Vordersitzes), so dass es die Chance hat, alles mitzulesen? Manche begrüßen diese Möglichkeit als eindeutigen Fortschritt, der uns Zuhörern den zweiten Arbeitsbereich des Librettos zu- rückgibt, in dem es um Wortlaut und Bedeutung geht. Andere sprechen sich leidenschaftlich dagegen aus mit dem Argument, eine zu aufmerksame Beschäftigung mit dem semantischen Aspekt des Textes würde die Konzentration auf die wichtigsten Facetten des Erlebnisses Oper beeinträchtigen. Wie der britische Kritiker Rodney Milnes es ausdrückte: «Man geht in die Oper, um zuzuhören und zuzuschauen, nicht um zu lesen.» Bevor es Texteinblendungen gab, wurde von einem Opern-Neuling oft erwartet, dass er Hausaufgaben machte: Sich vorab kundig zu machen, sowohl über die Handlung als auch über den Wortlaut der Texte, galt als notwendige Vorbereitung auf den Genuss des Opern- erlebnisses. («Man liest vorher», schreibt Milnes.) Betrachtet man die Sache historisch, so repräsentiert Milnes freilich eine doch ziemlich neuzeitliche Haltung. Tatsache ist zum einen, dass das Mitlesen des Librettos während der Vorstellung vom 17. bis zum 19. Jahrhundert in vielen Opernhäusern der Normalfall war. Samuel Sharp beklagte 1767 in seinen Reisenotizen aus Neapel den Mangel an Kerzen im Zuschauerraum: «So dunkel es in den Logen ist, es wäre noch dunkler, wenn nicht dieje- nigen, die darin sitzen, auf eigene Kosten ein paar Kerzen aufgestellt hätten, ohne die es unmöglich wäre, die Oper mitzulesen.» Das galt erst recht bei der Aufführung fremdsprachiger Werke: Als im London des 18. Jahrhunderts Händels italienische Opern gegeben wurden, erschienen für die Aufführung zweisprachige Ausgaben des Librettos. Das Mitlesen des Librettos war zum anderen nur eine von mehreren dem Opernbesucher zu Gebote stehenden Aktivitäten – er konnte während der Vorstellung auch Karten oder Schach spielen, dinieren, plaudern, die anderen Besucher begaff en oder in den sogenannten loges grillées («ver- gitterten Logen») womöglich auch Dinge tun, über die man als Gentleman nicht sprach. Eine ungeteilte Aufmerksamkeit für das, was auf der Bühne passierte – die Sichtweise hinter der Mahnung «Man geht in die O per, um zuzuhören und zuzuschauen» –, entsprach also nicht der historischen Norm; über weite Strecken der Operngeschichte hinweg richtete sich die Aufmerksamkeit derjenigen, die eine Aufführung besuchten, eben nicht ausschließlich auf das Bühnengeschehen – und erst recht nicht auf Schriften, die damit etwas zu tun hatten, wie etwa ein Büch- ein mit einer Übersetzung des Librettos.
Die Debatte darüber, wie wichtig es ist, die Handlung und die Texte einer Oper zu verstehen, kann sogar ethische Untertöne zum Klingen bringen. Die Vorstellung, der ästhetische Genuss hänge davon ab (oder lasse sich dadurch steigern), dass man sich vorher möglichst viel Wissen aneignet, taucht in der Rezeptionsgeschichte der Oper immer wieder auf. Als Carl Maria von Webers Der Freischütz erstmals auf Französisch auf- geführt wurde (im Paris der frühen 1840er Jahre), verfasste Richard Wagner, weil er den unwissenden Parisern nicht zutraute, sich an diesem Werk erfreuen zu können, einen gelehrsamen Aufsatz, in dem er ihnen die Hintergründe, die Handlung und die kulturelle Bedeutung dieser Oper erläuterte. Die Tatsache, dass das Pariser Publikum die Oper in französischer Sprache hören würde, bot in den Augen Wagners also keine Gewähr dafür, dass es den Text – und damit die Handlung und damit wiederum die Bedeutung des Werks – verstehen würde und das ganze gebührend genießen konnte. Eingeblendete Texte scheinen die Art Mühen der Vorbereitung, die Wagner den Pariser Opernfans verschrieb, überflüssig zu machen; sie verschaff en den Besuchern durch die Verständlichkeit der Worte einen leichten Zugang zu der erzählten Geschichte und damit so etwas wie einen unmittelbaren kulturellen Anschluss, ein Gefühl des Dazugehörens.
Andererseits ist das Verstehen bestimmter Textstellen vielleicht kein so elementarer Bestandteil des Erlebnisses Oper, wie wir vermuten mögen. Gegner der Texteinblendung behaupten, ein solches Textverstehen könnte sogar die Wahrnehmung der Oper verzerren und wäre damit kontraproduktiv gegenüber der idealen Mission der Oper, den Zauber der Musik und des Gesangs zu entfalten. Sie mögen ein Stück weit Recht haben; doch auch ihre Meinung findet keine durchgängige Bestätigung in der Geschichte der Oper. Wir werden im Folgenden sehr viel über die Phänomene des Versinkens und der Ablenkung schreiben, doch wird dabei bald deutlich werden, dass im geschichtlichen Maßstab das Theaterpublikum diese Erfahrungen zu unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedliche Art und Weise gemacht hat. Von bestimmten Facetten der Oper nehmen wir heute wie selbstverständlich – und unkritisch – an, dass sie unsere Seele gefangen nehmen (womit gewöhnlich die musikalischen Komponenten gemeint sind), während andere unserer Meinung nach Ernüchterung oder Unaufmerksamkeit erzeugen (etwa unpoetische Texte oder eine mangelhafte Darbietung). So ist es vielleicht zu erklären, dass in unterschiedlichen geschichtlichen Zeiten die Idee von der Oper als (um mit Wagner zu sprechen) Gesamtkunstwerk – als ein multimediales Erlebnis (Text, Musik, Bühnenbild), eine simultane Erfahrung verschiedener Formen künstlerischen Ausdrucks – so hoch gehandelt wurde.
Wir können den Blick für dieses Thema weiter schärfen, indem wir uns einige Beispiele real erfolgter Angriff e auf die integrale Verbindung von Text und Musik vornehmen. Wir sprechen dabei nicht über Opernauff ührungen in anderen Sprachen als der des Originals, auch wenn man daran plastisch aufzeigen könnte, dass der Wortlaut des originalsprachlichen Librettos oft wenig Wertschätzung genießt. Es gibt wohlbekannte Fälle, in denen für eine Arie ein völlig neuer Text zur vorhandenen Musik geschrieben wurde und die betreffende Nummer in ihrer neuen Fassung unverschämt großen Erfolg hatte. Das beweist, dass zumindest manche Opernmusik offen für mehr als einen Inhalt ist, dass etwa eine für eine Arie über (sagen wir mal) den Verlust eines geliebten Menschen geschriebene Musik, die die geschilderte Gefühlslage denkbar vollkommen zum Ausdruck und den Text nach allen Regeln der Kunst zur Geltung bringt, mit einem Text über ein ganz anderes Thema ebenso gut funktionieren kann. Berühmte Beispiele hierfür finden sich in den Opern Rossinis, das bemerkenswerteste vielleicht in seiner Umarbeitung der italienischen Fassung von Mosè in Egitto (1818) für die Pariser Bühne als Moïse et Pharaon (1827). In Mosè singt Elcia (Sopran) die cabaletta «Tor ment i! a ff anni! e smanie!» über die Qualen, die ihr verwundetes Herz martern. In der französischen Fassung findet sich die Arie (mit einigen Modifi zierungen) wieder, wird aber von einer anderen Figur gesungen, die darin voller Freude eine glückliche Wendung der Geschichte besingt. Die Eröffnungszeile lautet nunmehr: «Qu’entends-je! Ô douce ivresse!» («Was höre ich! O süßer Taumel!») Wer sich versucht fühlen sollte zu glauben, ein solcher Tausch sei nur in der italienischen Oper und nur in einem bestimmten Stadium ihrer Entwicklung möglich gewesen, ist aufgefordert, zu erklären, wie eine Musik, die Wagner 1856/7 entwarf und die im dritten Akt von Siegfried landete, vom Komponisten mit dem Vermerk «dritter Akt. Oder Tristan » versehen werden konnte, was zeigt, dass Wagner glaubte, diese Musik passe ebenso gut in die eine wie in die andere Oper. Eine komplette textliche Runderneuerung einer Arie unter Beibehaltung der Musik ist aber noch keineswegs der extremste Fall. Im frühen 19. Jahrhundert durchlebte das Libretto von Mozarts Singspiel Die Zauberfl öte (1791) eine Phase, in der es ganz unpopulär war – man fand es albern, ja lächerlich. Die Musik hingegen hielt dem Zeitgeschmack stand, zumal um diese Zeit die Kanonisierung Mozarts bereits begonnen hatte. Die Lösung des vermeintlichen Problems bestand darin, der Musik ein vollständig neues Libretto überzustülpen – neue Handlung, andere Figuren, neue Texte. Anton Wilhelm Florentin von Zuccalmaglio (1803– 1869), ein literarischer Tausendsassa, dessen Lebenswerk mehrere Bände Lyrik und Volksliedersammlungen einschloss, schrieb neue Libretti für mehrere Opern Mozarts. 1834 arbeitete er Die Zauberflöte um in Der Kederich . («Kederich» ist der Name eines Felsvorsprungs hoch über dem Rhein.) Schauplatz der umgeschneiderten Oper ist nunmehr der Fluss, zu den handelnden Figuren gehören Wassernixen, die Rede ist von einem «Nibelungenlied», und der Protagonist ist Rudhelm (der verwandelte Tamino), ein aus dem Heiligen Land zurückgekehrter Kreuzfahrer. Aus dem Sprecher (dem Priester, der im ersten Akt der Zauberflöte Tam ino die Welt erklärt) ist «Sibo, Herr zu Lorch» geworden, und Pamina heißt jetzt «Garlina» und ist die Tochter Sibos und nicht mehr die der Königin der Nacht. Die Königin wird zu «Lore von Lurlei», einer in weißen Schleiern umhergeisternden Sylphe. Im Großen und Ganzen funktioniert dieses alternative Libretto ziemlich gut. Soll man diejenigen, die sich diese neue Oper ausdachten oder sie sich mit Genuss anschauten, verurteilen, oder könnte es sein, dass sie etwas uns inzwischen Abhandengekommenes über die Wirkungsweise von Opern wussten?
Diese Frage ist vor allem deshalb interessant, weil sie uns wieder in eine mittlerweile fast 200 Jahre zurückliegende historische Epoche führt, deren Denken in Sachen Kultur nach wie vor Über raschungen für u ns birgt. Wir müssen uns fragen, weshalb wir über Der Kederich ungläubig den Kopf schütteln, weshalb unsere Verlustängste und unser Kulturpessimismus die Darbietung einer Oper zu einem fast sakralen Vorgang gemacht haben, behütet von Vorschriften, die unsere Ehrfurcht vor dem Werk bezeugen, eine Ehrfurcht, die in fast allen Fällen den Werken in der Zeit ihrer Entstehung nicht zuteilwurde. Das Nachdenken darüber könnte uns ermutigen, radikale Fragen zu stellen über die hypothetische Verschmelzung (oder perfekte Übereinstimmung) zwischen den Komponenten der Oper auch im Falle kanonisierter Meisterwerke, womit wir wieder beim Thema Gesamtkunstwerk angelangt wären. Eine mögliche Antwort auf diese Fragen könnte der Vorschlag sein, bei historisch fundierten Aufführungen alter Opern weitaus größere schöpferische Freiheiten gegenüber dem «offi ziellen» Libretto – einen sehr viel weniger ehr- fürchtigen Umgang mit ihm – zu gestatten, als wir dies heute erleben. Fast alle Opernkomponisten des 18. Jahrhunderts schrieben «Austauscher», nicht nur für ihre eigenen Opern, sondern auch für die anderer Komponisten. Wenn ein Werk mit neuen Sängern und Sängerinnen wieder aufgeführt wurde, war es für die Komponisten selbstverständlich, einige der alten Arien zu streichen und dafür neue zu schreiben, die den gesanglichen Möglichkeiten der neuen Darsteller besser entsprachen. Wer würde so etwas heute wagen? Es ist tabu, selbst bei Opern, in deren Entstehungszeit es routinemäßig praktiziert wurde (was auch und gerade für die Opern Mozarts gilt).
Die musikalische Seite der Oper im engeren Sinn ist ebenfalls in einer Weise zerspalten, auf die wir im Verlauf dieses Buches häufig zu sprechen kommen werden. Auf der einen Seite gibt es das, was wir die «Musik des Komponisten» nennen könnten, nämlich das, was in der Partitur steht, ein Dokument, das wir auf dieser Seite abdrucken könnten und das vor allen Dingen als Grundlage einer Auff ührung für Gesang mit Klavierbegleitung in unserem Wohnzimmer dienen könnte. Vor der Ära der Tonaufzeichnung waren solche Darbietungen im Wohnzimmer oder Salon die gängigste Gelegenheit, Opernmusik außerhalb des Opernhauses zu genießen. Diese Partitur, die Musik des Komponisten, ist eine ganz, ganz wichtige Blaupause – verkörpert aber nicht das, was die meisten Menschen unter einer Oper verstehen und an ihr lieben. Sie liefert uns allenfalls eine Vorahnung vom Erlebnis Oper oder eine Erinnerung daran. Um dieses Erlebnis Wirklichkeit werden zu lassen, bedarf es vieler weiterer Zutaten – des Klangs eines Orchesters, des Anblicks einer Bühne usw. Ein noch bedeutenderes fehlendes Element ist die menschliche Stimme, die besondere, unvergleichliche Qualität unserer Stimmbänder, unseres Kehlkopfs mit der darüber gespannten Membran, die Luft in musikalische Schwingungen zu versetzen. Die Stimme ist ein sehr viel schwierigeres Thema als die «Musik des Komponisten», auch weil man die Stimme nicht als Zeichenfolge auf Papier abbilden kann. Das darf uns aber nicht abschrecken. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass die menschliche Stimme fast immer im Mittelpunkt des Erlebnisses Oper gestanden hat und steht. Weil das so ist, werden wir in diesem Buch, auch wenn wir häufi g genug, wie es sich für Historiker geziemt, über die «Musik des Komponisten» reden, nie die Tatsache aus den Augen verlieren, dass Stimmen als Träger der Musik zu Recht für die meisten von uns ein, wenn nicht das Wesenselement des Erlebnisses Oper sind.
Ein Beispiel mag hier weiterhelfen. Am Ende des dritten Aktes von Verd is Il trovatore (1853) kommen in Manricos cabaletta «Di quella pira» am Ende mehrere hohe Cs vor, obwohl sie eigentlich nicht zum Rest der Partie passen und obwohl man seit langem weiß, dass sie nicht auf den Komponisten zurückgehen. In keiner Partitur aus der Zeit der Erstaufführung von Il trovatore fi ndet sich eine Spur davon. Trotz dieser Tatsache sind diese hohen Cs die berühmtesten Glanzpunkte der Oper. Als der Dirigent Riccardo Muti, der dafür bekannt ist, dass er absolut werktreu arbeitet, die Saison 2000/2001 in der Mailänder Scala mit Il trovatore eröffnete, wies er den Tenor an, die ungehörigen hohen Cs auf keinen Fall zu singen. Der Tenor fügte sich zitternd. Die loggionisti , Opernfans, die sich in den oberen Rängen des Saals einnisten und alle Aufnahmen der Oper auswendig kennen, schäumten vor Wut und fluteten die Bühne mit lauten «Vergogna»-(«Schande»-)Rufen. Weshalb war so viel Leidenschaft im Spiel? Ein schalkhafter Kritiker hatte zuvor versucht, das hohe C zu verteidigen: Wenn es nicht von Verdi stammte, dann solle man, schlug er vor, darin am besten ein Geschenk des italienischen Volkes an Verdi sehen. Es wäre einfach, dies als Sentimentalität abzutun oder gar als bewusste Missachtung der Absichten des Komponisten. Andererseits kann uns die Formulierung des Kritikers auch etwas Grundlegendes über das Erlebnis Oper verraten, nämlich dass Opernfans offenbar das Bewusstsein entwickeln können, dass sie ein Anrecht auf bestimmte Töne haben – oder vielmehr auf bestimmte extreme stimmliche Leistungen, die diese Töne erfordern.
Die emotionale Resonanz, die der Operngesang beim Zuhörer auslöst, ist eine Erfahrung, die sich schwer in Worte fassen lässt, die aber gerade deshalb eine unheimliche Wucht entfalten und ein Gefühl der Hingabe erzeugen kann, das Anderen (und vor allem denen, denen die Oper nichts bedeutet) irrational erscheinen muss. Es ist wichtig, diese extreme Hingabe nicht aus dem Auge zu verlieren, weil sonst die Geschichte der Oper und ihre spezielle Art, Menschen zu berühren, unerklärlich erscheinen mag. Zu bedenken ist auch, dass denen, die in den Bann solcher vom Gesang geweckter Emotionen geraten, wichtige andere Aspekte des Erlebnisses Oper womöglich wenig bedeuten. Sie kümmern sich vielleicht nicht darum, die Handlung zu verstehen, ja sie verstehen vielleicht nicht einmal die Texte (zumal in extremen gesanglichen Momenten, in denen, wie weiter oben ausgeführt, die Worte fast immer verschwinden, als würden sie von der Musik verschlungen). Doch die Macht der menschlichen Stimme hält sie gefangen.
Auf eindrucksvolle Weise ausgelotet wird diese irrationale Hingabe an den Gesang in einem 1981 gedrehten französischen Film von Jean- Jacques Beineix, der den schlichten Titel Diva trägt. Der Film ist eine eigenartige Mixtur aus Komödie und Thriller – in manchen Kreisen ist er vor allem wegen eines spektakulären Motorrad-Wettrennens berühmt. Eine Sequenz kurz nach Beginn des Films zeigt, wie der junge Pariser Postkurier Jules das Konzert einer bekannten amerikanischen Opern- sängerin besucht, deren Einzigartigkeit darin besteht, dass sie sich wei- gert, Aufnahmen zu machen. Jules ist von ihrer Stimme so bewegt und fasziniert, dass er ein Aufnahmegerät in den Konzertsaal schmuggelt. Die Sopranistin betritt die Bühne, und sobald sie zu singen beginnt, versinkt Jules in eine glückselige Trance und bekommt nicht mehr mit, was er tut. Die Stimme überrollt ihn. Das Interessante aus unserer Warte ist, wie der Film mit dem Akt des Singens umgeht. Wir hören eine Arie aus einer italienischen Oper des späten 19. Jahrhunderts («Ebben? ne andrò lontana» aus Alfredo Catalanis La Wally, 1892). Natürlich hat die Arie einen Text, aber wir bekommen ihn nicht per Untertitel angezeigt und wissen daher nicht, was gesungen wird. Die Vermutung liegt nahe, dass Jules unsere Unwissenheit teilt – dass es ihn vielleicht sogar ebenso wenig kümmert wie uns. Was der Film zeigt, ist keine Opernauff ührung: Die Arie ist aus dem Kontext der Handlung herausgerissen, wird von einer nicht kostümierten, nicht schauspielernden Sopranistin gesungen. Nichts von alledem scheint wichtig zu sein. Was Jules in den Bann schlägt, ist der reine Gesang, separiert von jedem erzählenden Gehalt und vielleicht sogar von Sprache. Das ist natürlich ein Extremfall, am äußersten Ende des Spektrums angesiedelt; die Sequenz kann uns jedoch als Mahnung daran dienen, wie dieses enorm machtvolle Teilelement der Oper funktionieren kann und was der Gesang nicht sein und nicht tun muss, um dennoch seine betäubende Wirkung zu tun.
Von einer betäubenden Wirkung sprechen wir durchaus mit Bedacht. Typischerweise wird die Heldin einer Oper mit einer hohen Sopran- stimme besetzt. In vielen Fällen muss die Sängerin sich gegen ein Orches- ter mit bis zu 100 Mitgliedern durchsetzen, darunter (spätestens ab dem 19. Jahrhundert) viele Instrumente, die im Verlauf einer stetigen tech- nischen Weiterentwicklung immer leistungsfähiger im Hinblick auf ihre Lautstärke geworden sind – nicht zuletzt sei hier auf die Phalanx teils ganz neu entwickelter Blechblasinstrumente mit aggressiver Tonqualität verwiesen. Manchmal werden für die Sänger Mikrofone installiert und ihre Stimmen diskret verstärkt, doch gilt dies fast durchweg als schimpf- lich, als eine Krücke, die ein Opernsänger von Format niemals benutzen würde. Es kann also sein, dass unsere Sängerin ihre Stimme ohne Hilfsmittel in alle Winkel eines womöglich über 3000 Personen fassenden Auditoriums schicken muss – also in einen höhlenartigen Raum, dessen rückwärtige Emporen womöglich 40 Meter von der Bühne entfernt sind. In der Metropolitan Opera in New York beträgt die Entfernung von der Bühne bis zu den am weitesten entfernten Plätzen sogar rund 45 Meter, eine Distanz, die ein Experte für Theaterakustik als «atemberaubend» bezeichnet hat.
Gewiss ist es so, dass das Orchester seit dem 19. Jahrhundert in einem abgesenkten Bereich vor (und teilweise unter) der Bühne sitzt, eine Posi- tion, die seine Lautstärke ein wenig dämpft. Andererseits hat die Einrich- tung dieses Orchestergrabens (und die ökonomische Notwendigkeit, in modernen Theatern mehr und mehr Sitze unterzubringen) dazu geführt, dass der Abstand zwischen der Bühnenrampe und der ersten Sitzreihe größer ist als in früheren Zeiten, in denen es häufi g eine ins Auditorium hineinragende Vorbühne gab. Die Sänger müssen daher den Saal aus einem tendenziell nach hinten gerückten Bühnenraum heraus beschallen, wobei Vorhänge, die die Bühne einrahmen, als Schallschlucker wirken. Was Sänger unter diesen Umständen leisten, grenzt, je nach Größe des Auditoriums, mitunter an ein Wunder.
Als in New York 1883 die Metropolitan Opera ihr neues Domizil eröff nete, nutzte der Architekturkritiker der New York Times die Gelegen- heit, um von dem «riesigen Auditorium» zu schwärmen und seine Größe mit der anderer Opernhäuser in aller Welt zu vergleichen; damit hinter- ließ er eine Momentaufnahme von den Ausmaßen des neuen Opernhau- ses in Relation zu seinen größten europäischen Pendants im späten 19. Jahrhundert. 8 Nach den Angaben der Times maß der Zuschauerraum in der Londoner Oper Covent Garden 24 auf 19 Meter (Tiefe auf Breite), in der «neuen» Pariser Opéra (die damals im Palais Garnier an der Place de l’Opéra residierte) 27 auf 20 Meter. Für die Met von 1883 wurden 29 auf 27 Meter angegeben, für das Nationaltheater in München (1943 zerstört und in den frühen 1960er Jahren wiederaufgebaut) 21 auf 18 Meter; in der Wiener Oper maß (und misst) der Zuschauerraum 25 auf 20 Meter. Aus dem Rahmen fiel die Met von 1883 auch mit der Höhe ihres Zu- schauerraums: Mit 25 Metern war er viereinhalb bis sechs Meter höher als der aller vorgenannten Häuser und wurde nur vom Teatro San Carlo in Neapel übertroffen, einer berüchtigten «Scheune». Diese Höhe sorgte für eine größere Platzkapazität, vergrößerte aber auch die Distanz von der Bühne zu den Plätzen auf den höchstgelegenen Emporen. Diese betrug in Covent Garden rund 30, in der Met von 1883 rund 38 Meter. Covent Garden hat knapp über 2000 Plätze, die Met von 1883 hatte rund 3000. Diese Größenunterschiede haben natürlich akustische Konsequenzen, gleich, wie der Innenraum gestaltet ist. Sie wirken sich darüber hinaus auch auf die Art und Weise aus, wie die Besucher die Aufführung wahrnehmen: als nah und überwältigend oder als fern und von einer vielleicht magischen Distanz geprägt.
Die neue Metropolitan Opera, die 1966 eingeweiht wurde, ist noch größer, hat allerdings mit rund 3800 Plätzen eine geringere Kapazität als die Lyric Opera in Chicago, die 4300 Zuschauer fasst. Trotzdem kann es auch in solchen Häusern off enbar extrem laut werden, selbst in weiter Entfernung von der Bühne. Im Dezember 2006 präsentierte die Met eine Reihe von Sondervorstellungen einer ins Englische übertragenen und ge- kürzten Fassung von Mozarts Die Zauberfl öte speziell für junge Leute. Als Anthony Tommasini, Musikkritiker der New York Times , einige der jungen Zuhörer nach einer der Auff ührungen befragte, bekam er von meh- reren zu hören, der Gesang sei unangenehm laut gewesen. Erstaunt über eine solche Beschwerde aus dem Mund von Leuten, die an den Sound aus massiven Lautsprechertürmen und voll aufgedrehten Kopf hörern ge- wöhnt waren, kam er zu dem Schluss, bei der wahrgenommenen Lautstärke handle es sich nicht um Dezibel im physikalischen Sinn, sondern um menschliche Dezibel: Lautstärke ohne technische «Krücken», hochgerechnet auf die Vorstellung, wie laut das aus nächster Nähe gewesen wäre. Die Physiologie, die hinter dieser erstaunlichen Produktion menschlicher Lautstärke steckt, ist einer näheren Betrachtung wert. Die Sänger setzen ihr Zwerchfell ein, um Luft in ihre Lungen zu pumpen und diese dann hinauszupressen, wobei die im Kehlkopf erzeugten Laute in verschiedene Resonanzkammern im Schädel getrieben werden. Gleichzeitig gestalten und variieren sie die Töne unter Einsatz ihrer Halsmuskeln, ihres Kiefers, ihrer Lippen und ihrer Zunge; die so erzeugten Schallwellen dringen durch den Mund und die Nase nach außen. Im Prinzip ist dies der Vorgang, der jeder vokalen Schallerzeugung zugrunde liegt, doch Opernsänger und -sängerinnen beherrschen ihn auf eine unvergleichliche Weise und sind in der Lage, enorme akustische Kräfte freizusetzen; wenn sie uns die volle Kraft ihrer Stimme aus kurzer Entfernung entgegenschleudern, müssen wir die Flucht ergreifen und uns die Ohren zuhalten. Es gibt nur sehr wenige Menschen, die die grundlegenden körperlichen Voraussetzungen – die schiere Muskelkraft und Geschmeidigkeit – mitbringen, um dies leisten zu können; und noch weniger sind in der Lage, es mit so viel Geschick zu tun, dass sie Anderen damit musikalischen Genuss bereiten. Es ist eine Binsenweisheit, dass die Wenigen, die diese Kunst beherrschen, keineswegs auch die Gabe besitzen müssen, etwa die Heldenfigur einer Oper auch visuell überzeugend darzustellen. Sänger können zum Beispiel füllig in jeder Hinsicht sein. In der Tat ist der Oper fast seit Anbeginn ihrer Geschichte immer wieder spöttisch der oft groteske Widerspruch zwischen der äußeren Erscheinung der Sänger und der heroischen Statur der von ihnen dargestellten Figuren vorgehalten worden. Das Überraschende ist, dass solche Diskrepanzen das Opernerlebnis kaum zu beeinträchtigen scheinen – jedenfalls gilt dies für weite Strecken der Operngeschichte und selbst für die Perioden, in denen diese Spottkritik Hochkonjunktur hatte. Die Oper ist das eine Spektakel – das eine «mit den Augen Aufgenommene» –, in dem körperliche Attraktivität im kon- ventionellen Sinn verhältnismäßig wenig zählt. Dass dies beim Theater und beim Film anders ist, liegt auf der Hand; und es ist auch anders beim Ballett, das in vielerlei Hinsicht ebenso künstlich ist wie die Oper, bei dem jedoch eine überdurchschnittlich hochgewachsene Tänzerin oder ein ungewöhnlich kleiner Tänzer nicht auf die Bühne gelassen würden. Einzig die Oper kann mit wenig ansprechenden Gesichtern und kaum den Schönheitsvorstellungen entsprechenden Körperformen punkten – Verstöße gegen unsere visuellen Erwartungen werden vom Publikum im Rausch der Stimmen großzügig übersehen oder sogar gefeiert. Natürlich hat es Schwankungen der Toleranz gegeben. So mag es denn sein, dass unsere gegenwärtige, von der Optik der Dinge dominierte Kultur, die zwanghaft einem Ideal körperlicher Vollkommenheit huldigt, einem Maximum an Intoleranz gegenüber «falschen» körperlichen Konstitutio- nen entgegenstrebt. Es kommt jedoch noch immer auf den Grad an. Die Opernbühnen von heute sind Orte, an denen das Aussehen kaum je wirklich ins Gewicht fällt. In diesem Sinn können wir die Oper vielleicht als eine Sphäre bewahren, in der alternative und wertvolle Wahrheiten weiterhin Anerkennung finden.
Auf die Fußnoten wurde aus Gründen der Übersichtlichkeit in dieser Darstellung verzichtet.
Quelle: Abbate, Carolyn / Parker, Roger: Eine Geschichte der Oper. Die letzten 400 Jahre. C.H. Beck, München 2013. 735 Seietn, 38 Euro. Der Auszug stammt von den Seiten 15 bis 28.