Titelthema
Europas unbekannte Hauptstadt
Brüssel steckt voller verborgener Sehenswürdigkeiten und Geheimnisse – die manchmal noch nicht einmal die Einheimischen kennen. Eine Annäherung.
Biegen Sie am Brüsseler Hauptbahnhof nach links ab und Sie entdecken vielleicht den Eingang zur Galerie Bortier, eingezwängt zwischen zwei Läden. Öffnen Sie die Glastüren – und Sie befinden sich in einer perfekt erhaltenen Arkade aus dem 19. Jahrhundert voller Läden mit antiquarischen Büchern. Sie liegt mitten im Stadtzentrum, aber kaum jemand kennt diesen Ort, nicht einmal die Einheimischen. Wie bei allen bestgehüteten Geheimnissen Brüssels läuft man leicht daran vorbei.
Selbst der Hauptplatz, die Grand-Place oder der Grote Markt, ist ein bisschen schwer zu finden. Der Platz ist über enge Gassen erreichbar, als ob die Stadt das Beste für sich behalten möchte. Nach der Zerstörung des alten Platzes durch französische Artillerie wurde er Ende des 17. Jahrhunderts als prächtige theatralische Schöpfung des nördlichen Barock, umschlossen von extravaganten Zunfthäusern, die mit Statuen und glitzernden Golddetails verziert sind, wiederaufgebaut.
Keine polierte Hochglanzstadt
Die engen Gassen rund um den Groten Markt sind von weiteren verborgenen Orten gesäumt. Hier befinden sich beschauliche Plätze wie die Place du Jardin aux Fleurs, kleine individuelle Läden wie das Paradis de la Babouche (in dem Pantoffeln angeboten werden), neben zahllosen gemütlichen Bars wie Monk und A la Mort Subite. Und wenn es zu regnen beginnt, finden Sie immer Schutz in den spektakulären Galeries Saint Hubert, einer Arkade aus dem 19. Jahrhundert mit Cafés, Restaurants, Buchläden, einem Kino und einem Hotel.
Sie merken bald, dass Brüssel keine polierte, verbürgerlichte Stadt ist. An einigen Orten ist es rau, wie z.B. im Bezirk Marolles, in dem Pieter Bruegel viele Jahre lebte. Dieses Viertel mit alten Straßen und kleinen Kapellen verfügt noch immer über ein traditionelles, authentisches Flair. Man findet Antiquitätenläden, gefüllt mit exzentrischen Gegenständen, kleine Bars, in denen Einheimische mit struppigen Hunden sitzen, und einen täglichen Flohmarkt, auf dem die Händler einem alles von alten Elvis-Schallplatten bis hin zu Schachteln mit nutzlosen Schlüsseln verkaufen wollen.
Viele Stile und Stimmungen
Doch Brüssel hat viel mehr vorzuweisen als nur seine Viertel aus dem 17. Jahrhundert. Es ist eine Stadt mit vielen verschiedenen Stilen und Stimmungen. Man findet ein Wiener Viertel aus dem 18. Jahrhundert in der Nähe des Königlichen Palasts, einen Pariser Bezirk um die Börse, eine von Manhattan inspirierte Gegend mit Wolkenkratzern, eine Atmosphäre wie in Berlin entlang des Kanals, ein afrikanisches Viertel jenseits der Porte de Namur und neuerdings auch Fußgängerzonen, die wie Kopenhagen auszusehen beginnen.
Um Brüssels einzigartige Identität zu verstehen, ist es hilfreich, wenn man sich seine Geschichte ansieht. Als ursprünglich kleines Dorf in den flandrischen Marschen – sein alter Name Bruocsella bedeutet „das Dorf in der Marsch“ – entwickelte es sich allmählich zu einem Schnittpunkt wichtiger europäischer Handelsrouten – von Paris nach Berlin und von Brügge nach Mailand. Unter den Herzögen von Burgund und später den Habsburgern wurde es zur wichtigsten Stadt in den historischen Niederlanden, wobei seine Kultur stark von Spanien, Österreich, Frankreich und Deutschland beeinflusst wurde.
Dann kam die Revolution von 1830, als sich die örtliche Bevölkerung gegen die ausländische Herrschaft erhob. Ein neuer Staat mit einer beispielhaften liberalen Verfassung wurde geschaffen. Innerhalb weniger Jahre wandelte sich Brüssel zu einer schillernden Hauptstadt im Herzen einer modernen Industrienation. Es zog Denker, Industrielle und exilierte Autoren an. Dies war die Stadt, in der Karl Marx das „Kommunistische Manifest“ begann, Multatuli den großen niederländischen Roman „Max Havelaar“ schrieb und Victor Hugo „Les Misérables“ vollendete.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde hinter dem Parlamentsgebäude ein elegantes Regierungsviertel angelegt. Kaum jemand kennt diesen Bezirk, aber es ist faszinierend, die eleganten Straßen zu erkunden, die nach den vier von der Verfassung geschützten Grundfreiheiten benannt sind. Die Politiker haben ihre Lieblingsrestaurants in diesem Viertel, wie La Femme du Sommelier und Den Talurelekker, wo sie eine oder zwei Stunden verbringen, und bei einem belgischen Mittagessen über Politik diskutieren.
Charme einer unorganisierten Stadt
Wenn man die belgische Geschichte versteht, wird schnell deutlich, warum Brüssel eine so eklektische Stadt ist. Mit zwei Amtssprachen (Französisch und Niederländisch), sieben Parlamenten und 19 unabhängigen Rathäusern sollte es nie zu einer organisierten Stadt wie Paris oder Amsterdam werden. Aber gerade darin liegt sein Charme.
Man braucht Zeit, um die Sehenswürdigkeiten zu erkunden, da sie über die 19 Kommunen verstreut sind. An einem Ende des U-Bahn-Netzes befindet sich das futuristische Atomium, ein glänzendes Bauwerk, das für die Expo 58 aus neun Stahlkugeln konstruiert wurde. Am anderen Ende der Linie liegt der fast wilde Sonienwald, wo Flächen von Urwäldern seit der Eiszeit unberührt überlebt haben.
Die spektakulärste Architektur datiert vom Ende des 19. Jahrhunderts, als Brüssel ca. 20 Jahre lang einen einzigartigen Art-nouveau-Stil entwickelte. Die von gewundenem Stein und Eisen geprägten Jugendstil-Gebäude konzentrieren sich um die Teiche von Ixelles, die Place St. Boniface und das Rathaus von St. Gilles.
Brüssel ist auch für ein vielfältiges Angebot an Bieren berühmt, das von den Starkbieren, die in Trappistenklöstern gebraut werden, bis hin zu neuen Craft Beers reicht, die kleine Startups wie die Brasserie de la Senne und das Brussels Beer Project kreieren. Doch das charakteristischste Bier ist das lokale Gueuze, das von der Brauerei Cantillon in der Nähe des Bahnhofs Midi gebraut wird. Dieses manchmal mit Champagner verglichene einzigartige, saure Bier vermittelt den authentischen Geschmack Brüssels.
Kreativ und kosmopolitisch
Gebäude für Gebäude oder vielleicht auch Bier für Bier beginnen Sie langsam zu verstehen, dass Brüssel eine äußerst kreative und kosmopolitische Stadt ist. Viele große Künstler wie Rogier van der Weyden, Pieter Bruegel und René Magritte sind in dieser Stadt aufgeblüht. Die Kunst ist über mehrere Museen verteilt, von den riesigen Museen der Schönen Künste bis zum exquisiten Museum Van Buuren im Haus eines früheren Kunstsammlers.
Im Jahr 2015 erschien in der New York Times ein Artikel mit dem Titel: „Why Brussels is the new Berlin“ (Warum Brüssel das neue Berlin ist). Dies mag als unerhörte Behauptung erscheinen, bis man das abenteuerliche Opernhaus, die kleinen Kunstkinos, die unabhängigen Galerien und die florierende Straßenkunstszene der Stadt entdeckt. Junge Künstler zieht es aufgrund niedriger Mieten und des trendigen, experimentellen Geistes in die alten Industrieviertel der Stadt. Das riesige neue Kunstmuseum Kanal in einer früheren Citroën-Werkstätte bestätigt die Rolle der Stadt als eines der interessantesten Kreativzentren Europas.
Das Kunstzentrum Bozar ist einer der besten Orte, um sich mit dem kulturellen Puls zu verbinden. Dieses in den 1920er-Jahren erbaute avantgardistische multikulturelle Zentrum vereint einen Konzertsaal, ein Kunstkino, einen Buchladen, ein Restaurant und ein Café. Das vor kurzem renovierte Café Victor (benannt nach Victor Horta, dem Architekten des Gebäudes) ist ein guter Ort, um in das geistige Leben der Stadt einzutauchen.
Sie könnten sich aber auch nach Süden zum Kunstzentrum Flagey im angesagten Ixelles aufmachen, wo in einem beeindruckenden Art-déco-Gebäude ein reiches kulturelles Programm geboten wird. Das riesige Café Belga, das einen Teil des Zentrums einnimmt, ist ein weiterer Hotspot der Kreativszene, wo ein halbes Dutzend europäische Sprachen zu hören ist und Kinder und Hunde umherstreifen.
Ein globales Machtzentrum
Doch die Frage bleibt: Warum hat die Europäische Union Brüssel zu ihrer Hauptstadt gewählt? Die Wahl scheint ungewöhnlich zu sein, insbesondere wenn man feststellt, dass die absurde kleine Manneken-Pis-Statue eines kleinen urinierenden Jungen die berühmteste Touristenattraktion ist.
Gehen Sie hinab in die U-Bahn-Station Schuman inmitten des EU-Viertels und Sie sehen den jüngsten Erklärungsversuch, warum Brüssel so wichtig wurde. Geschaffen von einem örtlichen Philosophen im Jahr 2019, wird die Entscheidung erklärt, den Hauptsitz der EU-Kommission am Ort einer von katholischen Nonnen geführten Mädchenschule zu bauen, und wie sich die Umgebung zu einem der wichtigsten Machtzentren der Welt entwickelte.
Es ist wahrscheinlich ein globales Machtzentrum, dem nur Washington D.C. und Peking gleichkommen, doch das Europaviertel wird von den meisten Menschen als unfreundliche, fremde Umgebung empfunden. Die gläsernen Bürogebäude scheinen einem eleganten Wohnbezirk aus dem 19. Jahrhundert mit brutaler Gleichgültigkeit aufgedrängt worden zu sein. Aber Änderungen sind im Gange.
So startete die Stadt im Jahre 2000 einen Plan, um das Image des EU-Viertels zu verbessern. Dort findet man jetzt markante moderne Häuser wie das Europa-Gebäude (in dem sich die 27 Regierungschefs der EU treffen), wohldurchdacht angelegte öffentliche Räume wie die Place Jean Rey und einige coole Orte, um zu Mittag zu essen.
Die EU-Institutionen haben zur Vitalität des Viertels beigetragen, indem sie drei Besucherzentren eröffneten, angefangen im Jahr 2011 mit dem Parliamentarium, in dem das demokratische System Europas erklärt wird. Ein paar Jahre später begann das ambitionierte Haus der europäischen Geschichte damit, mithilfe von iPad-Führern, Filmaufnahmen, Musik und historischen Relikten 2.000 Jahre europäische Geschichte zu präsentieren. Das Ergebnis ist ein mutiges, phantasievolles Konzept, das zwei Weltkriege, den Konsumismus in Ost- und Westeuropa und die Brexit-Abstimmung umfasst. Anfang dieses Jahres wurde schließlich das beeindruckende Gebäude des Europäischen Rates der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Die perfekte Hauptstadt?
Unternehmen Sie einen Spaziergang durch den Parc Léopold und Sie gelangen zum leider in Vergessenheit geratenen Wiertz-Museum. Dieses liegt in einem schönen Künstleratelier aus dem 19. Jahrhundert und hat inmitten des Chaos des EU-Viertels irgendwie überlebt. Betreten Sie das verlassene Museum, und Sie sind umgeben von den riesigen und makabren Gemälden von Antoine Wiertz zu Themen wie Selbstmord und Wahnsinn. Wiertz war der Meinung, er sei so groß wie Rubens. Vielleicht übertrieb er sein Talent ein bisschen, doch mit einem hatte er recht. In einer dunklen Ecke sehen Sie ein vom Künstler verfasstes Manifest hängen, in dem er dazu aufrief, Brüssel zur Hauptstadt Europas zu machen. Jeder dachte natürlich, dass er verrückt sei.
Wenn Sie genügend Zeit in dieser Stadt verbringen, stimmen Sie am Ende wahrscheinlich zu, dass es durchaus sinnvoll ist, dass die Europäische Union hier ihren Sitz hat. Brüssel mag seinen Anfang als Dorf in einem Sumpf genommen haben, aber es hat sich zu einer Stadt mit einer reichen kosmopolitischen Kultur, einer vielfältigen Bevölkerung, einer Tradition der Toleranz und einer Verpflichtung zur Diplomatie entwickelt. Sie lachen vielleicht über das Manneken Pis, doch es steht für den Geist der Stadt – bescheiden, skurril und leicht subversiv. Es könnte sich um den perfekten Europäer handeln.
Brüssel in Büchern
Derek Blyth
The 500 Hidden Secrets of Brussels
Gingko Press, 256 Seiten,
Klappenbroschur,
17,95 Euro.
Detlev Arens
Flandern
DuMont Kunst-Reiseführer,
352 Seiten, Klappenbroschur,
25,90 Euro.
Christoph Driessen
Geschichte Belgiens
Verlag Friedrich Pustet,
240 Seiten, gebundenes Buch,
26,95 Euro.