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Individualist der neuen Klänge
Wenige Tage vor seinem 97. Geburtstag ist der österreichische Komponist Friedrich Cerha verstorben. Was bleibt nach diesem langen Leben von seinem Werk und seiner Persönlichkeit in Erinnerung?
Im Jahr 1937 wurde ein elfjähriger Wiener Bub ganz alleine beim Direktor einer Musikschule vorstellig: Er wolle Harmonielehre und Kontrapunkt lernen, um besser komponieren zu können, und er habe auch schon einige Stücke geschrieben. Zum Glück stieß der 1926 geborene Friedrich Cerha – damals und von Freunden und Kollegen immer nur Fritz genannt – beim Direktor auf offene Ohren: Er erhielt den Unterricht. Geige hatte er da schon seit einigen Jahren gelernt, ein hohes Maß an Begabung und reges Interesse gezeigt. Das Musikstudium war vorgezeichnet, doch zuerst kam für die individuelle Biografie – ebenso wie für die Weltgeschichte – eine brutale Zäsur. Für Cerha hieß das, dass er als 16-Jähriger zur Wehrmacht eingezogen wurde und bei der Luftabwehr zu dienen hatte. Viele Jahre später erzählte er, dass er immer absichtlich danebengezielt habe. Anschließend desertierte er zwei Mal und entkam mit Klugheit und Gerissenheit ins Tiroler Gebirge, studierte nach Kriegsende in seiner Heimatstadt unter anderem Violine, Komposition, Musikerziehung, Philosophie und Musikwissenschaft, promovierte in Germanistik, gab zahlreiche Konzerte mit der Geige. 1952 heiratete er Gertraud (Traude) Möslinger – seine lebenslange Partnerin und kompetente Mitstreiterin in allen Bereichen und auch in künstlerischer wie organisatorischer Hinsicht.
Der Traum seines Lebens
In den Nachkriegsjahren waren in der österreichischen Hauptstadt die Gelegenheiten, zeitgenössische Kompositionen kennenzulernen, begrenzt: Der junge Musiker orientierte sich zunächst an Paul Hindemith, Igor Strawinsky oder Béla Bartók, und zunehmend wurde die Musik der Wiener Schule von Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern wichtig für ihn. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre nahm er mehrfach an den Darmstädter Ferienkursen teil, setzte sich eine Zeit lang mit dem Serialismus auseinander (bei dem man nicht nur wie in der Zwölftonmusik die Töne, sondern auch Tondauern oder Lautstärkestufen streng ordnete). 1958 gründete Cerha gemeinsam mit Kurt Schwertsik das Ensemble „die reihe“, um nachhaltig neue Musik in ihren vielfältigen Strömungen zu präsentieren, zwei Jahre später auch die „Camerata Frescobaldiana“ für italienische Musik des 17. Jahrhunderts, spielte Konzerte auf alten Instrumenten und erarbeitete Editionen dieses Re pertoires. Es ist kaum vorstellbar, dass tatsächlich zugleich seine visionärsten Partituren entstanden, mit denen er experimentelle, so nie zuvor gehörte Klänge realisierte.
1961 notierte Cerha einen Traum von Klängen, die ihm „barbarisch, grausam, bedrückend“ erschienen: „Es war eine uferlose Musik, sie kam nicht aus einer bestimmten Richtung – sie war überall. Sie geschah in Wellen; zwischen dem Verebben einer Welle und dem Losbrechen der nächsten gab es Pausen voll Beklemmung, voll Bangen und Erwartung. Ich war zu leicht für diese Musik; während der Pausen hatte ich Boden unter den Füßen, die Wellen aber hoben mich hoch, sie drehten und wirbelten mich, dass mir die Knochen wehtaten. Dann warfen sie mich hin – und ich wartete – mit angehaltenem Atem auf den nächsten Beginn.“ In diesen Sätzen liegt in mehrfacher Weise eine enorme Bedeutung für Cerhas Leben und Werk. Sie beschreiben jene neuartigen klanglichen Prozesse, die er in den Spiegeln, aber auch in Netzwerk und Exercises realisierte – eine Musik, die nicht mehr in den traditionellen Kategorien rhythmischer und melodischer Beziehungen zwischen den Tönen funktioniert, sondern in wellenartigen Massephänomenen und mit einem hohen Maß an innerer klanglicher Differenzierung. So ähnlich schrieben sie unabhängig voneinander in dieser Zeit auch Krzysztof Penderecki und György Ligeti. Letzterer hat Cerha um 1960 in Wien besucht und soll dabei verblüfft ausgerufen haben: „Was machst du da? Du schreibst ja mein Stück!“
Das Publikum zum Handeln bringen
Außer der rein musikalischen Dimension erzählt Cerhas Traum – unbewusst, wie das eben so ist – von prägenden Erfahrungen, die der Komponist erst sehr viel später als entscheidend für sein Schaffen erkennen konnte. 1934 hatte ihm sein Vater die Stätten des gerade aufgeflammten Bürgerkriegs gezeigt – um ihm zu zeigen, was Menschen einander antun können. Später brannten sich die Kriegserlebnisse in seine Erinnerung ein. Die moralische Verpflichtung, die Fritz von nun an empfand, sollte ihn nicht mehr loslassen. Insbesondere seine Opern lassen sich als Ausdruck seiner moralischen Verpflichtung verstehen: Baal (nach Bertolt Brecht, entstanden als Auftragswerk des österreichischen Bundesministeriums für Unterricht und Kunst), Der Rattenfänger (nach Carl Zuckmayer) oder Der Riese vom Steinfeld (nach Peter Turrini) zeigen allesamt Außenseiterfiguren, ergreifen Partei für ihre Nöte und Bedürfnisse, möchten Mitleid erwecken und das Publikum im eigenen Leben zum Handeln bringen.
Schon vor diesen Werken hatte Cerha mit der Vervollständigung des dritten Akts von Alban Bergs unvollendet hinterlassener Oper Lulu nachhaltig von sich reden gemacht – eine Aufgabe, die Schönberg, Webern und Alexander Zemlinsky abgelehnt hatten. Cerha hatte diese Arbeit über viele Jahre geleistet – selbst wenn sie anfangs umstritten gewesen sein mochte, kann es inzwischen über ihre musikhistorische Bedeutung keinen Zweifel mehr geben. Für das Musikleben überaus bedeutsam war außerdem die Initiative von Aufführungen von Klassikern der Moderne im Wiener Konzerthaus, die Cerha – seit 1976 Professor an der Musikhochschule in Wien – gemeinsam mit seiner Ehefrau vorantrieb.
„Ich glaube nicht, dass ich einen Stil habe“, sagte Cerha im Gespräch mit dem Verfasser dieser Zeilen anlässlich seines 80. Geburtstags – einen typischen Tonfall oder vielleicht besser ein Bündel von Tonfällen kann man aber sehr wohl heraushören. Ganz gleich, ob es sich um seine tiefschwarzen wienerisch-sarkastischen Chansons handelt oder um seine späten, hochemotionalen, aber auch immer wieder spielerisch-leichten Kammermusik- und Orchesterwerke: All seine Stücke sind von einem enormen Ausdrucksreichtum zwischen Trauer, Witz und Ironie traditionsverbunden und zugleich immer auf der Suche nach Neuem. In den Texten zu seinen Hölderlin-Fragmenten für Streichsextett heißt es unter anderem: „Die Linien des Lebens sind verschieden, / Wie Wege sind und wie der Berge Grenzen, / Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen / Mit Harmonie und ewigem Lohn und Frieden.“ So verschieden auch Cerhas musikalische Linien und Prozesse sein mögen, verbindet sie doch seine individuelle Handschrift. Seine zutiefst humanistische Haltung, seine intellektuelle Wachheit, sein leiser Humor und sein kritischer Geist werden allen in Erinnerung bleiben, die das Vergnügen hatten, ihn persönlich zu kennen.
Zum Weiterlesen
Der Band Friedrich Cerha – Schriften: ein Netzwerk, Wien 2001, versammelt zentrale Texte. Das Projekt Cerha Online am Archiv der Zeitgenossen an der Universität für Weiterbildung Krems gibt vielfältige Einblicke in sein Leben und Werk.
Dr. Daniel Ender ist Musikwissenschaftler, Journalist und Generalsekretär der Alban Berg Stiftung. Er schrieb u. a. Bücher über Beat Furrer und Richard Strauss und publizierte den Bildband Zuhause bei Helene und Alban Berg (Wien 2020).
danielender.at
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