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Ist die Documenta noch zu retten?

Forum - Ist die Documenta noch zu retten?
Keine Debatte im Vorfeld, kaum Aufarbeitung im Nachgang: Nachdem antisemitische Inhalte auf dem Documenta-Kunstwerk „People’s Justice“ auf der Documenta fifteen entdeckt worden waren, wurde das Werk zunächst verhüllt und später abgebaut. © Björn Buxbaum-Conradi/okapia

Ein „Weiter so“ kann es nicht geben. Die Verantwortlichen müssen der Documenta endlich eine arbeitsfähige Struktur geben, damit die Vorbereitungen für die kommende Documenta 2027 beginnen können.

Olaf Zimmermann01.01.2024

Die 15. Documenta im Jahr 2022 hat einen Blick in den Kulturbereich eröffnet, den viele, auch ich, nicht für möglich gehalten hätten, der jetzt aber ausgehalten werden muss. Viele haben nach dem Ende der Ausstellung erleichtert weggeschaut, aber man kann dem Thema nicht entkommen. Aktuelle Diskussionen und Entwicklungen zeigen, dass bei der Documenta offen zutage trat, was im Kunst- und Kulturbereich schon lange unterschwellig schwelte: Antisemitismus, die Infragestellung der Singularität der Shoah und eine gewisse Blauäugigkeit gegenüber Künstlerinnen und Künstlern aus dem Globalen Süden.

Die Zukunft des Kunstmarktes

Wie konnte es überhaupt zu einem solchen politischen Desaster bei der Documenta fifteen kommen? Jede Documenta war stets ein Spiegel ihrer Zeit. Angefangen bei der Suche nach dem Anschluss an die zeitgenössische Kunstwelt des Westens in den 1950er Jahren über die Auseinandersetzung im Ost-West-Konflikt, das Aufbegehren der 1968er-Generation, die Sprengung des traditionellen Kunstbegriffs, die Erweiterung um neue künstlerische Ausdrucksformen, die Weitung des Blicks in andere Kontinente bis hin zur Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe. Letzteres war im Übrigen bereits Gegenstand bei der von Catherine David kuratierten Documenta X im Jahr 1997. Ein zentrales Thema vergangener Documenten war die Rolle des Kunstmarktes, des Einflusses der Galerien. Diesen Teil der Documenta habe ich als Mitarbeiter von Galerien und später auch als selbstständiger Kunsthändler hautnah erlebt. Für so manchen Künstler und manche Künstlerin war die DocumentaBeteiligung der Start in eine Kunstmarktkarriere. Ihre Werke wurden auf dem Markt durchgesetzt und hängen heute in bedeutenden Sammlungen und Museen. Eine Entwicklung der letzten Documenten ist, dass dem kommerziellen Kunstmarkt eine deutliche Abfuhr erteilt wird.

Die Documenta fifteen ging aber noch einen Schritt weiter und erhob das kollektive Arbeiten zum alleinigen künstlerischen Prinzip. Die bislang unverbrüchliche Verbindung zwischen identifizierbarem Künstler beziehungsweise identifizierbarer Künstlerin und Werk wurde damit infrage gestellt. Die gesamte eingeübte Verwertungskette bildender Kunst, die auf den Verkauf und die Wertsteigerung des einzelnen Werks zielt, das einer künstlerischen Persönlichkeit zuzuordnen ist, wurde bewusst negiert.

Wie soll das Recht des Schöpfers gesichert werden, wenn es keine einzelnen identifizierbaren Schöpfer der Kunstwerke gibt? Wie sollen Einkommen und Wertsteigerung über den mehrfachen Verkauf erzielt werden, wenn der Urheber oder die Urheberin nicht identifizierbar ist? Wird dies dazu führen, dass auch in der bildenden Kunst, die neben der Literatur zu jenen künstlerischen Sparten gehört, die vor allem marktvermittelt arbeiten, die öffentliche Förderung weiter an Bedeutung gewinnt, weil es keinen Käufermarkt gibt? Ist dies die Rückkehr zu feudalen Verhältnissen, in denen Landesherren, also der Staat, als Auftraggeber fungieren? Und was bedeutet dies für die Freiheit der Kunst, wenn sie auf einmal vor allem von der öffentlichen Hand abhängig ist?

Der gesamte Kulturbereich leidet

Das sind meines Erachtens sehr spannende Fragen, die durch die Documenta fifteen jenseits der Auseinandersetzung um Postkolonialismus und Antisemitismus aufgeworfen wurden. Die Macher der Documenta fifteen kommen auf den ersten Blick leichtfüßig daher. Man sollte sich aber nicht täuschen lassen. Es geht um grundsätzliche Fragen des Selbstverständnisses bildender Kunst, um die produktive und kontroverse Auseinandersetzung mit Positionen aus dem Globalen Süden, und es geht darum, wie mit Antisemitismus und Antizionismus in Deutschland umgegangen wird.

Und hier hat die Documenta fifteen eine Schneise der intellektuellen Verwüstung hinterlassen. In Deutschland, im Land der Täter, werden über Wochen antisemitische Werke präsentiert, immer wieder neue gefunden, teilweise verdeckt, manche abgehängt, wieder neue gefunden, Kontextualisierung wird versprochen, das Versprechen aber nicht gehalten, der Skandal wird in klassischer politischer Manier ausgesessen.

Die Unfähigkeit der Documenta-Verantwortlichen, mit den aufgetretenen Problemen fertigzuwerden, ist eine schwere Bürde, die längst auf dem gesamten Kulturbereich lastet. Mitunter wird schon dem kompletten Kulturbereich vorgeworfen, antisemitisch beziehungsweise antizionistisch zu sein oder sich zumindest dem Antisemitismus und Antizionismus in den eigenen Reihen nicht entschieden genug entgegenzustellen. Hier scheint das Pendel in die andere Richtung auszuschlagen, und es besteht die Gefahr, dass aus wohlverstandener Abwehr von Antisemitismus das Kind gleich mit dem Bade ausgeschüttet wird und von Künstlerinnen und Künstlern zuerst ein Bekenntnis zur Verfassung verlangt wird. Um nicht missverstanden zu werden, Antisemitismus und Antizionismus sind keine Meinungen. Ihnen muss entschieden entgegengetreten werden. Doch ist hier vor allem der Kulturbereich selbst gefragt, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen und sich klar zu positionieren. Sonst besteht die Gefahr, dass Politik und Verwaltung Vorgaben machen, die unfreiwillig die grundgesetzlich verbriefte Kunstfreiheit in Gefahr bringen.

Bei der Documenta 16, die 2027 stattfinden soll, sollte alles besser werden. Es bestand die Erwartung, dass zumindest mit Blick auf mögliche antisemitische oder antizionistische Haltungen von Mitgliedern der Findungskommission Sensibilität bestünde. Doch weit gefehlt. Bei einem Findungskommissionsmitglied stellte sich heraus, dass er der BDSBewegung (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel) nahesteht beziehungsweise Erklärungen unterzeichnet hat. Er hat schließlich seine Mitgliedschaft in der Findungskommission niedergelegt. Ein anderes Mitglied, die israelische Künstlerin Bracha Lichtenberg Ettinger, ist zurückgetreten, weil sie wenige Tage nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel an einer Sitzung teilnehmen sollte. Beide Beispiele zeigen mangelndes Feingefühl und wenig Bereitschaft, sich mit den Fehlern der Documenta fifteen produktiv auseinanderzusetzen. Inzwischen ist die komplette Findungskommission zurückgetreten, und große Ratlosigkeit macht sich breit. Damit aber die Documenta auch 2027 stattfinden kann, sind jetzt mutige Entscheidungen der Verantwortlichen unumgänglich.

Es braucht strukturelle Änderungen

Die Ausstellung Documenta ist Teil einer gemeinnützigen GmbH, der Documenta und Museum Fridericianum gGmbH. Ihr gehören noch weitere Institutionen wie das Documenta-Archiv, das Documenta-Institut und die Documenta-Halle an. Gesellschafter der genannten gGmbH sind das Land Hessen und die Stadt Kassel. Die Stadt Kassel stellt mit ihrem Oberbürgermeister den Aufsichtsratsvorsitzenden. Der Bund stellt über die Kulturstiftung des Bundes im Rahmen einer Projektförderung Mittel zur Finanzierung der Ausstellung Documenta zur Verfügung. Er ist im Aufsichtsrat nicht vertreten. In den Augen der Öffentlichkeit spielt der Bund dennoch eine wichtige Rolle. Die Situation heute ist dysfunktional und intransparent.

Strukturelle Änderungen sind überfällig. Warum wird die Documenta nicht in eine Stiftung des bürgerlichen Rechts überführt? Kassel, Hessen und der Bund als Geldgeber sind Teil des Kuratoriums der Stiftung, zivilgesellschaftliche Verbände bilden im Kuratorium das Gegengewicht und stellen damit sicher, dass die Kunstfreiheit unangetastet bleibt und Antisemitismus, Antiziganismus oder Rassismus auf der Documenta keinen Platz haben. Die Stiftung bestellt die jeweiligen verantwortlichen Kuratorinnen und Kuratoren. Und sie schafft dauerhaft beständige Verwaltungsstrukturen. Ein „Weiter so“ kann es nicht geben, die Verantwortlichen müssen endlich der Documenta eine arbeitsfähige Struktur geben, damit die Vorbereitungen für die kommende Documenta 2027 beginnen können.

Ob es 2027 wieder eine Documenta geben wird? Ich denke, ja. Ganz pragmatische Gründe sprechen dafür: Die Documenta ist für die Stadt Kassel als Touristenmagnet alle fünf Jahre unverzichtbar, eine weltweit eingeführte Kunstausstellung mit einer dann über 70-jährigen Tradition kann und sollte nicht einfach fallen gelassen werden. Dennoch sind jetzt Fragen zur künftigen Struktur der Documenta zu stellen. Für mich ist es unverzichtbar, dass der Staat so wenig Einfluss auf die Kunst nimmt wie möglich. Ebenso klar spreche ich mich für eindeutige Verantwortlichkeiten aus, der künftige Kurator oder die Kuratorin muss für die ausgestellte Kunst verantwortlich zeichnen. Er oder sie muss die ausgestellten Werke kennen und sich nicht hinter Kollektiven verstecken. Das mag eine altmodisch anmutende Vorstellung von kuratorischem Arbeiten sein, sie ist für mich aber auch eine unbedingte Lehre aus der Documenta fifteen.

Eine Reform wird nur gelingen, wenn der Kulturbereich sich immer und überall klar gegen jede Form des Antisemitismus ausspricht. Antisemitismus und Israelfeindlichkeit haben keinen Platz im Kulturbereich, die Documenta ist eine Nagelprobe für dieses Versprechen.

Olaf Zimmermann
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber und Chefredakteur von „Politik & Kultur“.

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