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Buch der Woche

Luthers Juden

Die grundlegende Untersuchung zu Luthers Antisemitismus, zur Judenfeindlichkeit in seinen Schriften, in seinem Weltbild, in seinen alltäglichen Meinungen und Ansichten ist das Ergebnis der jahrelangen Forschungen des Kirchenhistorikers Thomas Kaufmann. In diesem Buch zieht er die Summe aus seiner Arbeit an Luthers Werken und ihrer Rezeption über 5 Jahrhunderte hin. Es ist ein eindringliches und überzeugendes Plädoyer für eine entschlossene und vollständige Historisierung Luthers und seines Werks.

31.10.2014

Am 28. Januar 1546 erlitt Martin Luther auf einer Reise in seine Geburtsstadt Eisleben, die seine letzte werden sollte, einen Herzin-farkt. Drei Wochen später, am 18. Februar, war er tot. Die Schilde-rung des ihn ängstigenden Widerfahrnisses, die er seiner »hertzlie-ben hausfrauwen« Käthe vier Tage später brieflich anvertraute, bot eine eigentümliche Deutung, die die schon bei der Abfahrt besorgte Gattin wohl beruhigen sollte:

»Ich bin ia schwach gewesen auff dem weg hart vor Eisleben, Das war meine schuld. Aber wenn du werest da gewest, so hettestu gesagt, Es were der Juden oder ihres Gottes schuld gewest. Denn wir musten durch ein Dorff hart vor Eisleben, da viel Juden innen wonen, vielleicht haben sie mich so hart angeblasen. So sind hie in der stad Eisleben itzt diese stund uber funffzig Juden wonhafftig. Und war ists, do ich bey dem Dorff fuhr, gieng mir ein solcher kalter wind hinden zum wagen ein auff meinen kopff, Durchs Parret, als wolt mirs das Hirn zu eis machen. Solchs mag mir zum schwindel geholffen haben.« (WABr 11, S. 275,4–276,12; 1.2.1546).

Eine moderne medizinische Erklärung der von Luther geschilderten Symptomatik duldet keinen Zweifel: Der 63jährige, stark übergewichtige Mann litt an einer Verengung der Herzkranzgefäße; wohl aufgrund eines Fußmarsches neben dem Reisewagen (WABr 11, S. 278,18–24) – seine ›eigene Schuld‹ – war Luther in Schweiß gera-ten; der Infarkt ging mit einem starken Brustschmerz und Enge- gefühlen ( Angina pectoris ) einher. Die Schmerzen in der Brust strahlten in den linken Arm aus. Die akute Erkrankung wurde von Übelkeit und Schwindelgefühl begleitet. Da die Pumpleistung des Herzens infolge des Infarktes stark verringert war, fiel der Blutdruck ab; kalte Schweißausbrüche und Kältegefühl waren die Folge. Die winterlichen Temperaturen werden diesen Effekt noch gesteigert haben. Der »kalte Korridor«, eine Mulde zwischen der Mansfelder Platte und dem Hornburger Sattel, an deren Beginn das kurz vor Eisleben befindliche Dorf Rißdorf, heute Unterrißdorf, gelegen ist, ist für scharfe Ostwinde bekannt. Die klimatischen und topogra-phischen Gegebenheiten mögen dafür verantwortlich gewesen sein, dass Luther die lebensbedrohliche Kälte besonders intensiv er-lebte. Heute erinnert die ›Lutherweg-Station‹ »Kalte Stelle«, wenn vielleicht auch topographisch nicht ganz korrekt, an dieses Ereignis.

In den folgenden Tagen schonte sich der Reformator nicht. Er war an letztlich erfolgreichen Vermittlungs- und Einigungsbemühun-gen der zerstrittenen Mansfelder Grafen beteiligt. Es ging darum, Ausgleichslösungen in Erbstreitigkeiten zu finden; mit den Fragen der Herrschaftsrechte waren auch Regelungen der Kirchenorganisa-tion verbunden. Aber Luther hatte von vornherein auch noch ande-re Ziele im Visier: »Wenn die Heubtsachen geschlichtet weren, so mus ich mich dran legen, die Juden zuvertreiben […]« (WABr 11, S. 276,17 f.), ließ er Käthe in dem schon zitierten Brief vom 1. Februar 1546 wissen. Einer der regierenden Mansfelder Grafen, Albrecht, sei, so fuhr Luther fort, den Juden zwar feind und habe sie schon preisgegeben, tue ihnen aber bisher noch nichts. »Wils Gott, ich will auff der Cantzel Graff Albrechten helffen und sie auch preis geben.« (ebd., 18 f.).

Die letzte ›weltliche‹ Sorge des an den Ausgangsort seines Lebens, nach Eisleben, zurückgekehrten Reformators, der schon lange zu seinem eigenen Denkmal geworden war – von Anhängern bestaunt, von Feinden und Gegnern bestürmt – galt dem-nach der Austreibung einiger Dutzend Juden aus der Grafschaft Mansfeld. Dank des Schutzes der verwitweten Gräfin Dorothea von Mansfeld-Vorderort hatten die Juden hier Zuflucht gefunden, nach-dem ihrer im Erzstift Magdeburg keines Bleibens mehr gewesen war. Eisleben war der einzige dauerhaftere Aufenthaltsort Luthers, an dem Juden zu seinen Lebzeiten geduldet waren. Postum hatte er auch hier Erfolg.In den letzten Predigten, die Luther in den Tagen vor seinem Tod in der Eislebener St. Andreaskirche hielt, stellte er die Besonderheit des Glaubens an Christus gegenüber den Religionen der Juden, Türken und ›Papisten‹ heraus. Der Christ müsse dessen gewärtig sein, dass er die Gegner des wahren Glaubens weder ausrotten noch be-kämpfen könne. Die Kirche bleibe angefochten und auf Vergebung angewiesen; man müsse mit der Differenz leben. An den Schseiner letzten Eislebener Predigt, die er am 14. oder 15. Februar ge-halten hat, stellte er eine Vermahnung wider die Juden (WA 51, S. 195,1–196,17). Darin warnte er vor den Juden im Lande; sie richte-ten »grossen schaden« (ebd., S. 195,9 f.) an. Deshalb solle man sie entweder bekehren und taufen oder des Landes verweisen. Dass Christus der Juden »Vetter« sei und »von jrem fleisch und blut gebo-ren« (ebd., S. 195,12), führte Luther als mögliches Konversionsmotiv an, wies aber dann doch darauf hin, dass »das Jüdische blut […] nu mehr wesserig und wild« (ebd., S. 193,13 f.) geworden sei, also ge-genüber der Zeit Jesu von ›minderer Qualität‹ wäre. Heutigentags lästerten und schändeten die Juden Christus, Maria und uns Chris-ten unablässig − als »Hurenkind«, »Hure« und »Wechselbalg« (ebd., S. 195,30 f.). Besondere Vorsicht sei geboten, wenn sich Juden als Ärzte ausgäben; denn sie beherrschten die Kunst, ihre Opfer so zu vergiften, dass der Tod erst Monate oder gar Jahre später einträte, man ihnen also nichts nachweisen könne. Diejenigen aber, die dies zuließen, würden an dieser ›fremden Sünde‹ (ebd., S. 195,24) mit-schuldig. »Darumb solt jr Herrn sie nicht leiden, sondern sie weg treiben. Wo sie sich aber bekeren, jren Wucher lassen und Chris-tum annemen, so sollen wir sie gerne, als unser Brüder halten.« (ebd., S. 195,25–27). Ein Jude, der sich der Bekehrung verweigerte, galt dem todkranken Reformator als Lästerer Christi, der nichts an-deres im Schilde führe, als die Christen »aus zu saugen und (wo er kan) zu tödten« (ebd., S. 196,2 f.). Luthers letztes öffentliches Wort, das dann postum auch im Druck erschienen ist, warnte die christliche Gesellschaft nach-drücklich davor, sich ›jüdischer Sünde‹ teilhaftig zu machen. Der Jude ›kontaminierte‹ ein christliches Gemeinwesen seines Erach-tens durch ein übles Treiben, das außer blasphemischen Praktiken auch ›perverse‹ ökonomische und sonstige Umtriebe einschloss. All sein Tun war auf die Vernichtung der Christen gerichtet; es musste gewiss den Zorn Gottes heraufbeschwören. ›Bekehrung‹ oder ›Aus-weisung‹ – eine andere Möglichkeit ließ der Umstand nicht zu, dass die Juden brandgefährlich waren: als Giftmischer, als mit dem Teufel, ihrem Gott, verbündete ›Zauberer‹, die auch Luther seit Jahren nach dem Leben trachteten, als Götzendiener und Lästerer, die Gott zerschmettern werde. In seiner Judenangst stand ihm seine Ehefrau bei.

Auch bei seinen Hörern setzte Luther Verständnis voraus. Nach allem, was wir wissen, befremdete sie der Wittenberger Theologie-professor mit seinen antijüdischen Hasstiraden nicht. Auch Graf Albrecht VII. von Mansfeld-Hinterort fügte sich; seit 1547 war Lu-thers Heimatland ›judenfrei‹.Der Judenhass des Wittenberger Reformators schloss Motive ein, die sich nicht einfach als ›theologische‹ oder ›religiöse‹ bezeich-nen lassen und die über den traditionellen christlichen Antijudaismus, der bereits im Neuen Testament einsetzt, hinausgehen. Lu-thers Hinweis auf die Qualität des jüdischen Blutes, sein Urteil über die erpresserische Wucherei, das Wissen um die Giftmordanschlä-ge u. a. m. speiste sich aus allerlei trüben Rinnsalen eines spezifisch vormodernen Antisemitismus, d. h. einer Judenfeindschaft, die eine spezifische ›Natur‹ »dieses Menschengeschlechts« (WABr 5, S. 442,22) kennen zu können meinte. Luther setzte den vormodernen Antisemitismus voraus, nahm ihn auf und trug zu seiner Verbreitung bei. Angesichts der Erwar-tungen, die man an den Theologen, religiösen Kommunikator, tief-schürfenden Bibelausleger und deutschen Professor Luther zu stel-len für berechtigt gehalten hat, angesichts auch der Autorität, die dem Reformationshelden und ›Kirchenvater‹ des Protestantismus zugewachsen war, wiegt seine theologisch unkontrollierte Men-schenverachtung gegenüber den Juden schwer. In unseren Tagen lastet dies auf dem Bild seiner Person und seiner Lebensleistung wie eine drückende Bürde.

Dass Luther in den Anfängen der Reformation insbesondere durch seine Schrift Dass Jesus Christus ein ge-borener Jude sei (1523) wirkungsvoller als jede andere Gestalt des 16. Jahrhunderts für eine bedingungslose Duldung der Juden, ja – so scheint es – für Glaubenstoleranz eingetreten war, gerät über dem Bild des alternden Judenfeindes aus Wittenberg zumeist in Verges-senheit. Doch zu Unrecht. An innerer Widersprüchlichkeit oder Ambivalenz in der praktischen Haltung gegenüber den Juden wird Luther, der Janusköpfige, dessen Geist zweier Zeiten ›Schlachtge-biet‹ war, von keiner Gestalt des Reformationszeitalters übertrof-fen oder auch nur erreicht. In der oszillierenden Rezeptionsgeschichte, in der Luther jeweils mit einem gewissen Recht sowohl von Judenfeinden als auch vo»Luthers Juden« 11 Judenfreunden als einer der Ihren in Anspruch genommen wurde, wiederholte sich die tiefe Uneindeutigkeit, die seiner Haltung in der ›Judenfrage‹ eignete. Bis heute hat sich daran, dass sich an die-ser Frage die Geister der Lutherinterpreten scheiden, nicht viel ge-ändert.Im Vergleich mit den Lutherbildern des 16. bis 19. Jahrhunderts ist freilich darin, dass heutigentags des Reformators Haltung gegen-über den Juden zu einer Art Dreh- und Angelpunkt des Verständ-nisses seiner Person und seiner Theologie geworden ist, eine neuere Entwicklung zu sehen. Denn in den älteren Darstellungen war die Frage nach seiner Haltung gegenüber den Juden kein zentrales, ja zumeist gar kein Thema gewesen.

Die neuartige Entwicklung ist von der Rezeptionsgeschichte des Reformators insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht zu trennen. In der älteren Geschichte des kirchlichen Protestantismus, zumal im 17. und 18. Jahrhundert, hatte vor allem der ›Toleranzappell‹ des jüngeren Reformators Aufmerksamkeit gefunden. Im Zeichen in-tensivierter Bemühungen um eine Missionierung der Juden im Pie-tismus redete man einer Duldung der Judenheit das Wort. Im gan-zen gewinnt man den Eindruck, dass Luthers judenfeindliche Äußerungen im späteren 17., vor allem aber im sich aufklärenden 18. Jahrhundert weithin vergessen waren. Gegen Ende des 16. Jahr-hunderts war die Verbreitung der schärfsten seiner ›Judenschriften‹, Von den Juden und ihren Lügen (1543), durch ein kaiserliches Man- dat verboten worden; gleichwohl zogen lutherische Theologen des konfessionellen Zeitalters sie heran, um ein jüdisches Aufenthalts-recht in evangelischen Städten und Territorien zu bekämpfen. Die Pietisten hingegen wollten von dieser Schrift nichts wissen.

In den großen Lutherausgaben des 18. und 19. Jahrhunderts freilich blieb sie, wie andere Texte auch, greifbar. An einer ›protorassistischen‹ Kampfschrift wie der des Leipziger Predigers Ludwig Fischer, der zeitgenössische Impulse zugunsten der Judenemanzipation und der politischen Ideale der Französischen Revolution im Jahre 1838 mit Zitaten u. a. aus Von den Juden und ihren Lügen bekämpfte, wird deutlich, dass Luthers Hass auf die Juden in der evangelischen Kir-che als eine Art mentale Ressource fungierte und auch in der Latenz präsent blieb, so dass sie jederzeit aktivierbar war. 12 Einleitung Während der spätere Rabbiner Reinhold Lewin im Jahre 1910 für seine die Spannung zwischen dem frühen und dem späten Luther betonende und mit psychologischen Mitteln erklärende Disserta- tion über Luthers Stellung zu den Juden , die den Auftakt der wis- senschaftlichen Erforschung des Themas bildete, den Jahrespreis der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Breslau er-hielt – im Folgejahr erschien die Studie in einer u. a. von Reinhold Seeberg, einem später der NSDAP nahestehenden Theologen, her-ausgegebenen renommierten theologischen Publikationsreihe – und Gotthard Deutsch, der Autor des Luther-Artikels in der 1916 herausgekommenen vierten Auflage der Jewish Encyclopedia, her-vorhob, dass sich die Bezugnahmen auf den Wittenberger Refor-mator bei Judenfeinden und Judenfreunden zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Waage hielten, verschob sich diese Balance zwischen den antithetischen judenpolitischen Positionen des jüngeren und des alten Luther gegen Ende der Weimarer Republik immer deutli-cher. Unter dem Einfluss deutschgläubiger und rassistischer Strö-mungen bemühten sich nun zum einen evangelische Theologen prononciert darum, mit Hilfe von Luthers Schrift Von den Juden und ihren Lügen den Anschluss an den antisemitischen Zeitgeist zu finden. Zum anderen knüpften völkische Ideologen an Luther als Wegbereiter des Antisemitismus an und warfen einer ›verjudeten‹ evangelischen Kirche vor, dass sie diesen Wesenszug des Reforma-tors unterdrückt habe.

Florilegienartige Kompilationen der Luther-schrift von 1543 kamen nun in Massenauflagen heraus, zuerst eine durch den sächsischen Lutherforscher Georg Buchwald edierte, dann unter anderen eine im Verlag der völkisch-religiösen Sekten-schriftstellerin Mathilde Ludendorff, schließlich eine Version des deutschchristlichen Lutherforschers Theodor Pauls. Gemeinsam war diesen gekürzten, Luthers Text zum Teil grob entstellenden, pamphletartigen Ausgaben, dass sie die länglichen, etwa zwei Drittel des Textbestandes ausmachenden Passagen, in denen der Refor-mator anhand alttestamentlicher Bibeltexte zu beweisen suchte, dass Jesus der prophezeite Messias Israels gewesen sei, weitgehend oder vollständig fortließen. Gerade daran also, was dem Wittenber-ger Bibeltheologen Herzensanliegen gewesen war, nämlich seine christliche als die allein legitime Lesart des Alten Testaments zu erweisen, hatten die ›Deutschgläubigen‹ und ihre christlichen Mutan-ten nicht das geringste Interesse. In der der Bekennenden Kirche eng verbundenen Münchner Lu-therausgabe wurde Von den Juden und ihren Lügen als »diejenige Schrift« eingeführt, »der Luther seinen Ruhm als führender Anti-semit« verdanke. Sie sei »geradezu das Arsenal zu nennen, aus dem sich der Antisemitismus seine Waffen geholt« (Ergänzungs-reihe, 3. Bd., 2 1936, S. 537) habe, betonte ihr Herausgeber, der Missionstheologe Walter Holsten. Diese Einschätzung war nicht weit von der des Katholiken Adolf Hitler entfernt, der den Wittenberger Reformator als »große[n] Mann«, als »Riese[n]« apostrophiert haben soll, der mit »einem Ruck« die »Dämmerung« durchbrochen habe und »den Juden« sah, »wie wir ihn erst heute zu sehen beginnen« (Dietrich Eckart, Der Bolschewismus von Mose bis Lenin. Zwiege-spräche zwischen Adolf Hitler und mir, München 1924, S. 24).

Vor dem Hintergrund von Wertungen dieser Art erscheint es kaum ab-wegig, dass sich Julius Streicher, der wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilte Begründer des antisemiti-schen Hetzblattes Der Stürmer , vor den Nürnberger Richtern auf Luthers späte Judenschrift berufen und proklamiert hatte, dass Lu-ther statt seiner auf die Anklagebank gehöre. Dass sich freilich auch Dietrich Bonhoeffer zu Beginn seiner im Raum der evangelischen Kirche einzigartigen Parteinahme für die Juden ( Die Kirche vor der Judenfrage , Juni 1933) auf Martin Luther berief – auf die Schrift Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei (WA 11, S. 315,19–24; 336,24–29) von 1523, aber auch auf die in der Vermahnung wider die Juden von 1546 vertretene These (WA 51, S. 195,25–27), die Juden seien im Falle einer Bekehrung als vollgültige Gemeindeglieder zu behandeln, was mit der Einführung des Arier-paragraphen in den Bereich der Kirche nicht zu vereinbaren war –, verdeutlicht, wie verworren, ambivalent und uneindeutig die Wir-kung Luthers im Dritten Reich sein konnte. An dem Hauptstrang der Rezeptionsgeschichte Luthers ändert die einsame Stimme Bon-hoeffers aber im ganzen wenig.

Mit Luthers Judenfeindschaft be-gründeten Kirchenführer wie der thüringische Landesbischof Mar-tin Sasse ihre Begeisterung über die Brandstiftung an jüdischen Synagogen in der »Reichskristallnacht« des 9./10. November 1938; seine in einer Auflage von 100 000 Exemplaren verbreitete Streit-schrift Martin Luther über die Juden: weg mit ihnen! enthielt u. a. ei-ne Kompilation aus Zitaten aus Von den Juden und ihren Lügen und dürfte eines der wirkungsreichsten Instrumente zur Verbreitung des Bildes Luthers als eines ›zeitgemäßen Antisemiten‹ gewesen sein. Unter Berufung auf Luther demonstrierten führende Sprecher von Theologie und Kirche, dass das evangelische Christentum an den ideologischen Zeitgeist des völkisch-rassistischen Umbaus des Gemeinwesens anschlussfähig sei und seinen Beitrag zum »heu- te volksnotwendigen Antisemitismus« – so der Kirchenhistoriker Erich Vogelsang – ( Luthers Kampf gegen die Juden , Tübingen 1933, S. 6) zu leisten vermöge.Vor dem Hintergrund dieser Wertungsgeschichte Luthers nimmt es auch nicht wunder, dass sich schließlich die Feinde des nationalso-zialistischen Deutschlands dieses Deutungsmodell zu eigen mach-ten und in dem Judenfeind aus Wittenberg den Vorläufer Hitlers er-kannten. Eine Art Höhepunkt dieser genealogischen Konstruktion, die ja – dies ist im Bewusstsein zu halten! – eine ›deutschchristlich‹-nationalsozialistische Interpretationslinie unter invertierter Bewer-tung fortsetzte, stellt ein Pamphlet des englischen Lehrers Peter F. Wiener mit dem Titel »Martin Luther. Hitler’s Spiritual Ancestor« (1945) dar.

Ein Nachdruck dieser Schrift, veröffentlicht von der »American Atheist Press« im Jahr 1999, zeigt auf dem Titelblatt ei-nen Leichenberg vergaster Juden. Für Wiener ist Luther die radikale Gegenfigur zu einem die Moderne begründenden freien Geist. Vielmehr sei er ein Feind der Vernunft, ein Fürstenknecht, ein Apostel des Absolutismus, der Inaugurator einer für die Deutschen charakteristischen Gehorsamsmentalität sklavischer Unterwürfig-keit. Luther habe einer Judenvernichtung das Wort geredet, die nicht einmal von Hitler übertroffen worden sei. Durch ein zuerst 1945 publiziertes Urteil wie dieses, das aber von modernen Inter-preten immer wieder einmal aufgenommen und bekräftigt worden ist, erscheint Luther als Begründer jenes analogielosen Mensch-heitsverbrechens, das sich im Namen Auschwitz verdichtet. Dieser Bewertung ist nicht zuletzt mit dem Hinweis darauf zu widersprechen, dass dem historischen Luther die Vorstellung einer systematischen Tötung von Juden, ein eliminatorischer Antisemitismus mus, fremd war. Sodann verkennt sie, dass Luther auch die evan-gelische Christenheit wegen ihrer Verfehlungen scharf kritisierte und Gottes vernichtenden Zorn fürchtete, wenn zu deren eigener noch die ›fremde Sünde‹ der Juden hinzukam. Überdies stellt es ei-ne illegitime Vereinfachung der komplexen Genealogie des moder-nen biologistischen Rassenantisemitismus dar, Luther als eine, zu-mal maßgebliche Quelle desselben in Anspruch zu nehmen.

Die nach unseren Maßstäben menschenverachtenden judenpolitischen Maßnahmen, die er 1543 vorschlug, sollten die Judenheit zermür-ben und gegebenenfalls einige bekehren. Diese Maßnahmen waren aber die seines Erachtens ›schlechtere‹ Lösung; das Beste wäre in Luthers Sicht gewesen, die Juden auszuweisen und im Herrschafts-gebiet des ›Erbfeindes‹ der Christenheit, des Türken, anzusiedeln. Luther zielte auf den Aufbau einer religiös homogenen christlichen Gesellschaft ab, die keine abweichenden religiösen Optionen dul-dete, nicht auf einen ›rassisch-reinen‹ Volksstaat.Evident ist allerdings, dass es auch, ja, vor allem, dem Nationalso-zialismus nahestehende evangelische Theologen oder dem Luthertum entstammende ›Laien‹ gewesen sind, die den Wittenberger Reformator in eine Komplizenschaft mit den greulichsten Verbre-chen der Menschheitsgeschichte hineingezogen haben. Das eigent-lich ›Tragische‹ freilich ist, dass es eben Luthers eigene Texte, seine widerlichen Hasstiraden gegen die Juden waren, die dies mühelos möglich machten. Ein einfaches ›Opfer‹ ist Luther genauso wenig, wie er auf die Anklagebank des Nürnberger Prozesses gehört. Luthers Hass auf die Juden, seine Erbitterung über ihre angeb- lichen Lästerungen Christi, die Angst vor ihren geheimnisvollen Umtrieben und ihrer ›Aussaugung‹ wehrloser Kreditnehmer, seine Furcht davor, durch ihre Duldung am Unrecht ihrer Blasphemie – in der Zeit Luthers ein mit der Todesstrafe belegtes Verbrechen – mit-schuldig und des sie treffenden göttlichen Zorns teilhaftig zu wer-den, sind nur im Horizont der mentalen und kulturellen Welt des 16. Jahrhunderts zu verstehen.

Das Ziel dieses Buches besteht deshalb darin, Luthers Wertung der Juden im Horizont seiner Zeit zu verstehen, d. h. auch im Lichte dessen zu betrachten, was damals üblich war. Besondere Aufmerk-samkeit soll auch dem Charakter und der Qualität seiner Äußerun16 Einleitung gen und ihrem intendierten Wirkungsradius zukommen; es scheint keineswegs beliebig, in welchem Kontext Luther welche Aussagen tätigte. Deshalb soll deutlicher zwischen den Text- und Kommuni-kationsformen, in denen sich Luther über Juden äußerte, unter-schieden werden, als dies häufig bei ›Lutherforschern‹ geschieht. Vor dem Hintergrund der skizzierten methodischen Orientierun-gen mag dann entschieden werden, ob und inwiefern Luthers sich zwischen 1523 und 1543 radikal wandelnde Haltung auch nach Maß-stäben des 16. Jahrhunderts extrem genannt zu werden verdient. Der Titel des Buches, »Luthers Juden«, wurde aus folgenden Überlegungen heraus gewählt: Die Distanz schaffende und Objek-tivität insinuierende Kopula »und«, gegebenenfalls gar mit dem be-stimmten Artikel »die« verbunden – also: »Luther und die Juden« –, klänge zwar geläufiger. Doch soll von vornherein deutlich gemacht werden, dass Luthers Umgang mit »Juden« nichts gleichsam Objek-tives anhaftet, er sich also keineswegs auf einen distinkten und ein-deutigen Sachverhalt bezieht. »Luthers Juden« sind ein Konglo- merat diffuser Ängste, kalkulierter publizistischer Aktivitäten, spe-zifisch aktivierter biblischer Traditionsbestände, auch des Ressen- timents, des kulturellen Herkommens, der Phantasie, ein Phantom. Es kann also nicht darum gehen, Luthers Verhältnis zu den Juden im Sinne einer ›Beziehung‹ zu einzelnen Vertretern der zeitgenös- sischen Judenheit zu rekonstruieren, obschon die wenigen realen Kontakte zu Juden, die sich in Luthers Biographie zweifelsfrei nach-weisen lassen, die ihnen gebührende Aufmerksamkeit finden sollen (s. Kap. I). Der Titel »Luthers Juden« soll dafür sensibilisieren, dass es das Thema auch ›gibt‹, weil Luther es vorgab und konstruierte und weil sich für ihn in den »Juden« Sachverhalte und Realitäten verdichteten, denen er nicht ausweichen zu können meinte und deshalb große Aufmerksamkeit entgegenbrachte. Die Ansicht, die Beschäftigung mit ›Luther und den Juden‹ sei primär der Rezep- tionsgeschichte des 20. Jahrhunderts geschuldet und übertreibe die Bedeutung des Themas für den Wittenberger Reformator, greift zu kurz.

So wenig zu leugnen ist, dass diese Problematik ein wichtiger Auslöser zur Beschäftigung mit dem Thema geworden ist, so offenkundig ist auch, dass die »Juden« für den historischen Luther selbst in vieler Hinsicht, auch als Negativfolie zur Explikation seiner »Luthers Juden« 17 nen Lehre, zentral waren. Obschon die »Juden« in seiner Lebens-welt beinahe völlig fehlten, sind sie in Luthers Textwelt allgegen-wärtig.Dass die Zeitgebundenheit von Luthers Judenangst und Juden-hass nicht verhindert hat, sie sich im 20. Jahrhundert anzueignen, hängt elementar mit der in der Geschichte des Protestantismus tief verwurzelten Tendenz zusammen, den Reformator zu monumen-talisieren und als Zeugen einer jeweils ›zeitgemäßen‹, gegenwarts-fähigen Theologie in Anspruch zu nehmen. Einzig die sicher für manche schmerzliche, theologisch aber wohl doch unausweichliche Erkenntnis wird hier helfen, dass man sich Luthers Theologie eben-so wenig blindlings anvertrauen kann, wie man sich als zurech-nungsfähiger Mensch des 21. Jahrhunderts freiwillig den Heilküns-ten eines Baders des 16. Jahrhunderts überlassen würde. Die Zitate aus dem Lateinischen wurden im vorliegenden Buch durchweg vom Verfasser übersetzt; sie werden mit der jeweiligen Quellenangabe (zu den Abkürzungen s. das Quellen- und Litera-turverzeichnis) wiedergegeben. Bei einzelnen Begriffen oder Wort-verbindungen (z. B. ›Judenschriften‹, ›Judenfrage‹, ›judenfrei‹, ›pro-torassistisch‹ o. ä.) wird durch einfache Anführungszeichen ange-zeigt, dass den Wörtern ideologische Tönungen anhaften, die durch Bewusstmachung vermieden werden können.

 

Thomas Kaufmann: Luthers Juden, Reclam, Stuttgart 2014. 203 Seiten, 22,95 Euro.