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„Man kann gleichzeitig Opfer und Täter sein“
Im Interview spricht der israelische Sänger und Kosmopolit Asaf Avidan über die Erfindung von Identitäten, die Aufgabe von Künstlern und das menschliche Miteinander.
Sehr besonders an Asaf Avidan ist die Stimme. Und so müht sich seit seinem internationalen Durchbruch als Musiker 2012 die Musikpresse um allerlei Zuschreibungen. Avidan, heute als bekanntester israelischer Sänger gelabelt, klinge wie Robert Plant oder Janis Joplin: „kratzig und herzzerreißend hoch“. – Reine Äußerlichkeit. In Avidans Kunst geht es nicht um extravagante Klangfarben, sondern darum, was er in Poesie umwandelt und wie klar er komplizierte Zusammenhänge benennt – im alltäglich Zwischenmenschlichen und im politischen Konflikt.
Herr Avidan, sprechen wir über Israel, den 7. Oktober und den Krieg in Gaza.
Über was sonst sollte man reden. Die ganze Welt treibt das um. Vielleicht weil wir unbewusst verstehen, dass dies nicht nur ein palästinensischisraelisches Problem ist. In den letzten zwei Jahrzehnten gab es eine tiefgreifende Verschiebung hin zum Populismus, zum Fanatismus, zum Faschismus. Schlicht zur Unfähigkeit, Komplexität zu erfassen. Gedanken, Gefühle, Meinungen werden vereinfacht. Alles scheint schwarz und weiß. Ideologien, mit denen wir aufgewachsen sind, der Liberalismus, der Kapitalismus, die Freiheiten, die wir für selbstverständlich hielten, zerbröseln vor unseren Augen.
Sie sind der populärste israelische Sänger, leben aber nicht mehr in Israel. Wie schauen Sie auf Ihr Land?
Ich habe schon oft gesagt, was ich nicht nur über Israel, sondern über jeden Nationalismus denke. Ich verstehe die Idee eines starken Nationalitätsgefühls überhaupt nicht. Ich finde das seltsam, es ist mir fremd.
Unter Juden gilt Israel als Zufluchtsort.
Natürlich verstehe ich, warum Menschen Gruppen brauchen, um sich sicher zu fühlen. Ich verstehe die rechtlichen Anwendungen der staatlichen Kontrolle, der legalen Finanzen, der Steuern, der Schulen … Ich habe Israel vor acht Jahren verlassen. Das soll nicht heißen, dass ich Israel in irgendeiner Form verurteile. Man kann gleichzeitig Opfer und Täter sein.
Was heißt das?
Israel kann aus vielen verschiedenen Gründen gleichzeitig im Recht und im Unrecht sein. Das zu verstehen, ist die erste Hürde, die wir überwinden müssen.
Tatsächlich erleben wir ein Wiedererstarken des Nationalismus.
Leider fallen wir zurück auf die alten Parodien von Vaterfiguren wie Putin oder Trump oder Netanjahu. Das ist sehr einfach. Aber das ist offensichtlich nicht die Antwort. Die Antwort ist, dass wir gerade jetzt in einer Welt leben, die so komplex und nuanciert ist, dass wir in differenzierten Begriffen denken und fühlen müssen. Und dabei geht es nicht nur um Krieg. Es geht auch darum, wie wir über Geschlechterfragen sprechen, wie wir über die globale Erwärmung sprechen, wie wir über politische Fragen, über Einwanderung und vieles mehr sprechen.
Wie erleben Sie diese Situation?
Die Menschen schreien ihre Meinung mit geschlossenen Ohren ins Leere und glauben, dass sie recht haben und alles andere falsch sei. Dabei ignorieren sie die Tatsache, dass es vielerlei Arten von Unrecht geben kann. Für mich ist das beängstigend.
Sie sind als Sohn eines Diplomaten in Jamaika aufgewachsen. Hilft Ihnen das, politische Zusammenhänge mit mehr Abstand zu betrachten?
Habe ich eine andere Sichtweise, weil ich der Sohn von Diplomaten bin? Ich verstehe allgemein die Idee der Grenzen nicht. Nicht bei der Musik und nicht bei den Menschen. Vielleicht ist das Teil meiner Erziehung. Wenn Sie meine Musik hören, ist sie nicht wirklich auf ein bestimmtes Genre beschränkt. Meine Kindheit hat mir geholfen, die Welt nicht durch imaginäre Grenzen zu sehen, sowohl national, religiös, ethnisch oder kulturell.
Wie sehr hat Sie Ihre Kindheit geprägt?
Ich habe mich in verschiedenen Kulturen bewegt, in denen ich eine Minderheit war, mich aber nie wirklich als Minderheit gefühlt. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich als Kind in Jamaika zum Beispiel das Gefühl hatte, ein weißes Kind unter Schwarzen zu sein. Ich erinnere mich an ein paar Mal, dass ich verstanden habe, dass ich Jude bin und jemand anderes Christ oder Rastafari oder was auch immer, aber das war damals für mich keine große Sache.
Jude ist man ja nicht einfach, man wird gerne dazu gemacht.
Das ist wahr. Als Jude wirst du immer daran erinnert, dass du Jude bist. Aber die Leute können mich bezeichnen, wie sie wollen. Es ist mir wirklich egal. Und es macht mir auch nichts aus. Ich denke, wir sind so besessen von diesen oberflächlichen Dummheiten, von der Erfindung von Identitäten.
Wollen wir über Ihre Besessenheit sprechen – über Ihre Kunst? Sie hätten als Diplomat Karriere machen können, warum haben Sie die Kunst gewählt?
Ich bin sehr oft enttäuscht darüber, wie unmenschlich die Menschen sind, und ich denke, eine der Aufgaben eines Künstlers ist es, ein Katalysator für andere Menschen zu sein, damit sie Teile ihrer Menschlichkeit erforschen, vor denen sie normalerweise zurückschrecken oder die von Kultur, Technologie und Politik zurückgedrängt werden, wie Zerbrechlichkeit, Einsamkeit, Traurigkeit, die uns allen innewohnenden Ängste vor Sterblichkeit, Unsichtbarkeit, Bedeutungslosigkeit.
Sie machen seit 2006 Musik – wie verändert Kunst den Künstler?
Ich habe das Gefühl, dass die Kunst ein Werkzeug zum Sezieren des eigenen Selbst ist. Ironischerweise ist es jedoch so: Je mehr Schichten von Fleisch, Kleidung, Kultur und Prägung man abwirft, desto introspektiver wird man. Man dringt bis zu einem grundlegenden Kern vor. Darum spreche ich in meinen Songs über C. G. Jung oder Joseph Campbell. Es gibt ein Gefühl dafür, dass in uns allen ein Mensch steckt, ein universeller Mensch. Und das ist für mich so viel interessanter. Was ist das Wesentliche, das mich eint? Und eine 70-jährige Frau aus Uganda oder ein 13-jähriges Kind aus China. Und das haben wir alle.
Klingt spirituell.
Und doch ist es mehr als nur spiritueller ZenHokuspokus. Es existiert eine buchstäbliche Verbindung. Es gibt einen Grund, warum wir alle Mythologie erfinden. Es gibt einen Grund, warum viele von uns gewaltbereit sind. Was sind die Mechanismen dahinter? Was ist Hass? Auf der Suche nach Antworten gelangt man stets zu einer grundlegenden Angst vor sich selbst. Es gibt eine fundamentale Angst vor der Bedeutungslosigkeit und Unsichtbarkeit in dir selbst, die dich zu einem Wir-Gefühl treibt. Und jedes Mal, wenn man eine Mauer um ein „Wir“ herum erschafft, erschafft man ein „sie“, ein „die anderen“. Bevor wir der Wut erliegen, sollten wir fühlen, welche Gefühle uns zur Wut geführt haben. Wut ist nur ein Symptom. Das ist ein interessanter, ich würde nicht sagen positiver, aber pragmatischer Weg, um ein besseres Leben für alle zu erreichen.
Die Fragen stellte Sabina Paries.
Asaf Avidan wurde 1980 in Jerusalem geboren. Als Folk-RockMusiker erhielt er europaweit zahlreiche bedeutende Auszeichnungen.