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Parkfriedhof der Superlative

Titelthema - Parkfriedhof der Superlative
Wirkt eher wie ein Park als wie ein Friedhof – Ohlsdorf © Adobe Stock Photo

Der Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg ist nicht nur groß, sondern auch eine grüne Stadtoase, die tausende Geschichten erzählt.

01.11.2023

Zu den weltweit einzigartigen Besonderheiten der Friedhofskultur in Deutschland zählt zweifellos, dass wir unsere Friedhöfe in grüne, ansprechende Parklandschaften einbetten. Unsere Begräbnisstätten sind so nicht nur Reiche der Toten, sondern vor allem auch der Lebenden ­– Grünanlagen, die nicht nur zum Trauern und Erinnern einladen, sondern auch zum Abschalten und Erholen. Das Paradebeispiel schlechthin dafür ist der Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg, der im Norden der Hansestadt seit seiner Gründung Maßstäbe setzt – national wie international: Als im späten 19. Jahrhundert die Bevölkerungszahlen der prosperierenden Hansestadt explodierten, musste ein neuer Friedhof her, und zwar nicht nur irgendeiner, sondern der bis heute größte Parkfriedhof der Welt – und sicherlich auch einer der schönsten.

Neu war damals nicht nur die schiere Größe: Vor allem das Konzept, die Gräber in eine gestaltete Naturoase einzubetten und so im urbanen Umfeld eine grüne, naturnahe Erinnerungslandschaft zu gestalten, war bahnbrechend. „Freundlich und lieblich soll alles dem Besucher entgegentreten“, schrieb Erschaffer Wilhelm Cordes zur Einweihung 1897. Bereits einige Jahre später war ein so beeindruckendes Gesamtkunstwerk aus Natur, Kunst und Technik entstanden, dass der Parkfriedhof auf der Pariser Weltausstellung 1900 einen „Grand Prix“ für Gartenkunst erhielt.

Das riesige Gelände in Stadtteilgröße – rund 4 Kilometer lang und 1,5 Kilometer breit – bietet dabei kein durchgängig einheitliches Bild, im Gegenteil: Zum Konzept gehörten von Beginn an verschiedene Areale, angepasst an landschaftliche Gegebenheiten, unterschiedlich bepflanzt und mit verschiedenen Bestattungsformen verbunden. So gab es schon früh ein Rosarium und eine Teichanlage oder auch den heute sogenannten „Millionenhügel“, ein beeindruckendes Begräbnisareal für Privilegierte mit repräsentativen Mausoleen, Statuen und Gedenkstätten.

Auch wenn der Friedhof in seiner über 100jährigen Geschichte zahlreiche Veränderungen erfahren hat, so hat er bis heute nichts von der faszinierenden Vielfalt eingebüßt, die ihn von Anfang an zu einem grünen Erholungsort für die Stadtbevölkerung machte. Die Unterschiede von damals zu heute sind eher marginal: So legte man einst die doch recht weite Strecke von der Innenstadt zum Friedhof in Pferdefuhrwerken zurück – heute ist der Friedhof bestens ans U- und S-Bahnnetz angeschlossen. Und während man einst die kilometerlangen Wege auf dem Friedhof zu Pferd zurücklegte, steigt man heute aufs Fahrrad oder kann sogar eine Buslinie nutzen.

Bestand hat nach wie vor das wunderbare Zusammenspiel von Natur und Kultur: So beeindrucken beispielsweise im späten Frühjahr über das gesamte Landschaftsareal verteilt meterhohe blühende Rhododendren oder laden Wiesen zum Verweilen unter altem Baumbestand ein. Und vielerorts ziehen kunstvoll gestaltete Figuren, detailreiche Reliefs oder interessante Grabsteine den Blick auf sich. Wer diesen Friedhof aufsucht, besucht so zugleich den größten Skulpturenpark der Stadt, ja sogar einen der größten Europas.

Unter den mehr als 10.000 Gräbern gab es immer schon Besuchermagneten. Dabei stehen viele Grabstellen besonderer Persönlichkeiten der Kultur- und Stadtgeschichte im Fokus wie das der Schauspiellegende Hans Albers oder jenes des Malers Philip Otto Runge. Als wahrer Magnet erweist sich seit über 100 Jahren das Grab des Hamburger Tierpark-Gründers Carl Hagenbeck, auf dessen Grab eine lebensgroße Tierfigur liegt, ein Bildnis seines schlafenden Lieblingslöwens „Triest“. Aktuell gedenkt man intensiv der Fußballlegende Uwe Seeler, des TV-Helden Jan Fedder und natürlich dem Hamburger Urgestein Helmut Schmidt. Ihre Popularität ist so groß, dass man am Grab von Fedder extra einen Briefkasten für die Fanpost aufgestellt hat und Tag für Tag vom Grab Helmut Schmidts Zigarettenschachteln abgeräumt werden müssen.          

Heute lassen sich allerdings nur noch wenige auf eigenen großen Grabstätten beisetzen. Beliebt sind vielmehr Gemeinschaftsgrabanlagen, die man in Ohlsdorf ganz unterschiedlich im Einklang mit der Natur und der Bepflanzung angelegt hat. So entstanden hier beispielsweise die ersten baumbezogenen Grabfelder wie Apfelbaum-Haine – Bestattungsareale also, die unter einem bestimmten Thema stehen. Der große Friedhof wird also von vielen kleinen „Mikro-Friedhöfen“ geprägt – und der bedeutendste unter ihnen ist ohne Zweifel der „Garten der Frauen“.

Dieser „himmlische Seelengarten“, wie ihn seine Gründerin Dr. Rita Bake beschreibt, ist ein betretbares Geschichtsbuch über Hamburger Frauengeschichte, ein Gartenparadies der Erinnerung und ein letztes Ruheareal speziell für Frauen. Die Idee dahinter ist so einfach wie überzeugend: Die Leistungen und Verdienste von Frauen auch über den Tod hinaus sichtbar zu machen und die Erinnerung vor allem an bedeutende Frauen der Stadtgeschichte Hamburgs wach zu halten.  

Im Jahr 2000 wurde dieses weltweit einmalige feministische Projekt „Garten der Frauen“ aus der Taufe gehoben. Auf dem 1.600 Quadratmeter großen Gelände nordöstlich des Ohlsdorfer Wasserturms ist eine vielseitige Ruheoase entstanden, auf der nicht nur Grabsteine von bedeutenden Frauen zusammengetragen werden: Ein „Gedenkglaswürfel“ erinnert an die verstorbenen Säuglinge und Kleinkinder von Zwangsarbeiterinnen, die zwischen 1943 und 1945 auf dem Ohlsdorfer Friedhof bestattet wurden. Und eine „Erinnerungsspirale“ hält die Namen von wichtigen Frauen im Gedächtnis, für die kein Gedenkstein existiert. Wie umfassend das Konzept von Rita Bake ist, die für den Garten der Frauen 2018 das Bundesverdienstkreuz erhielt, zeigt sich daran, dass auch Frauen als Opfern von häuslicher Gewalt gedacht wird.

Den Betreiberinnen dieses besonderen Friedhofsareals ist es ein Anliegen, an Frauen mit unterschiedlichsten Lebensgeschichten zu erinnern. So kommt es, dass man hier genauso an die Märchenerzählerin Charlotte Rougemont erinnert wie an die Prostituierte und Streetworkerin Domenica Anita Niehoff; an Maria Gleiss, eine der ersten deutschen Ärztinnen überhaupt, ebenso wie an Agathe Lasch, die erste Lehrstuhlinhaberin an der Universität Hamburg, die als Jüdin von den Nazis deportiert und in den Tod getrieben wurde.

Die Geschichte des Ohlsdorfer Friedhofs ist aber mit Neuerungen wie dem Garten der Frauen längst nicht auserzählt. Der Parkfriedhof war stets von großer Innovationskraft geprägt, und dieser Tradition bleibt man nach wie vor treu. Seit 2014 verfolgt man so unter dem Titel „Ohlsdorf 2050“ die Weiterentwicklung mit intensiver Bürgerbeteiligung. Dabei geht es zum Beispiel um Nachhaltigkeit und Naturschutz, aber auch um Naherholung und soziales Miteinander. Der Friedhof Ohlsdorf bleibt also auch künftig nicht nur ein besonders schöner und facettenreicher, sondern auch ein überaus spannender Kulturraum, der drauf wartet, von seinen Besuchern entdeckt zu werden. 

Autor Tobias Pehle ist Journalist, Autor und Geschäftsführer des Kuratoriums Immaterielles Erbe.


Das Erbe Friedhofskultur

Die "Friedhofskultur in Deutschland" wurde im März 2020 auf Empfehlung der Deutschen Unesco-Kommission zum Immateriellen Kulturerbe ernannt. Damit wird die kulturelle Bedeutung des Friedhofswesens für die Gesellschaft gewürdigt und seine Schutzwürdigkeit erklärt.

Dieses immaterielle Erbe umfasst nicht die Friedhöfe an sich, sondern die "lebendigen Ausdrucksformen, die von menschlichem Wissen und Können getragen, von Generation zu Generation weitervermittelt und stetig neu geschaffen und verändert werden", wie es die Unesco formuliert. Bei der Friedhofskultur geht es so vor allem darum, was Menschen auf dem Friedhof tun – und das ist äußerst vielfältig.

Im Fokus steht zum einen, wie wir mit unseren Toten, und somit auch mit unseren Vorfahren und Ahnen, umgehen. In unserer Kultur hat sich dabei über Jahrhunderte der Friedhof als zentraler Handlungsrahmen für Trauer und Erinnerung herausgebildet.

Zum anderen geht es um die Bedeutung der Friedhofskultur für unsere Gesellschaft.

Für unser kollektives Selbstverständnis ist die Friedhofskultur gleich mehrfach bedeutsam, so zum Beispiel aus kultureller, historischer oder auch sozialer Sicht. Sie ist aus unserem Lebensumfeld, aus unseren Dörfern und Städten nicht wegzudenken. Weltweit besonders ist in unserer Friedhofskultur, dass wir die Gräber in Parklandschaften einbetten und sie als kleine Gärten der Erinnerung gestalten. Aber auch die Art, wie wir unsere Trauerrituale leben – zum Beispiel mit unserem Liedgut – unterscheidet uns von der Friedhofskultur anderer Länder.

Dabei ist der Blick nicht rückwärtsgewandt, sondern das Unesco-Erbe bezieht sich ausdrücklich auf die Weiterentwicklung und die zeitgerechten Ausdrucksformen dieser Kulturform. Mit der Ernennung erkennt die Bundesrepublik die Schutzwürdigkeit der Friedhofskultur an. Diese ist vor allem durch die steigende Zahl alternativer Bestattungen außerhalb des Kulturraums Friedhof bedroht.

Partner der Deutschen Unesco-Kommission für dieses Kulturerbe ist das Kuratorium Immaterielles Erbe Friedhofskultur. Es setzt sich dafür ein, auf den besonderen  Wert dieser Kulturform für uns Menschen aufmerksam zu machen. Die gemeinnützige Institution informiert über die vielfältigen Facetten der Friedhofskultur und bietet zahlreiche Aktionen zur Stärkung der Friedhöfe vor Ort an. Nähere Informationen dazu finden sich im Netz unter www.kulturerbe-friedhof.de.