Der Wiederaufbau der Franckeschen Stiftungen nach 1990
Rettung vor dem Untergang
Vor 350 Jahren wurde der Theologe und Pädagoge August Hermann Francke in Lübeck geboren. 1698 gründete er in Halle ein Waisenhaus und legte damit – nach dem Motto „Weltveränderung durch Menschenveränderung“ – den Grundstein zu einem einzigartigen Sozial- und Bildungswerk.
Am Anfang stand die Unterzeichnung einer Vereinbarung, die Professor Zaschke, Rektor der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, und ich, Direktor der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, im März 1989 – von der Wende weit entfernt – in meinem Dienstzimmer unterzeichneten. Nach mehrjährigen Bemühungen war es Ulrich Ricken, Professor der Romanistik, gelungen, die Verantwortlichen in SED und DDR-Regierung von der Errichtung eines Internationalen Forschungszentrums der europäischen Aufklärung zu überzeugen. Es sollte mit Wolfenbütteler Unterstützung in den Franckeschen Stiftungen entstehen, die seit 1946 der Universität gehörten.
Bei meinen Besuchen in Halle hatte ich die Stiftungen mit ihren vielen verwahrlosten Gebäuden flüchtig kennen gelernt. Nun sollten die vorderen Bauten nach Wolfenbütteler Vorbild für das gedachte Zentrum aus Mitteln der westdeutschen Stiftung Volkswagenwerk saniert werden. So richtete die Universität einen Sonderbaustab Franckesche Stiftungen ein, Universitäts-Institute wurden geschlossen, Bauleute rückten an und rüsteten die ersten Gebäude ein.
Das Glück der Wende
Mit dem Herbst 1989 kam alles anders, als Ulrich Ricken sich das gedacht hatte. Anstatt eines Fördervereins für das geplante Zentrum wurde am 22. Juni 1990 ein Freundeskreis der Franckeschen Stiftungen gegründet. Professor Helmut Obst, damals Dekan der Theologischen Fakultät, leitete die Sitzung. Mit einem Handstreich setzte er die erweiterte Zielsetzung durch. Zum Schluss schlug er den verdutzten Gast aus der Bundesrepublik zum Präsidenten vor. Ein viertel Jahr vor der Wiedervereinigung wurde ein westdeutscher Beamter in der DDR in ein ungewohntes Amt gewählt. Ich stand plötzlich an der Spitze, Helmut Obst wurde mein Stellvertreter, Ulrich Ricken unser Geschäftsführer.
Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 hatte der Vorstand des neu gewählten Freundeskreises der Stiftungen in dem wiedergegründeten Land Sachsen-Anhalt einen Gesprächspartner. Unser Ziel war die Wiederherstellung der Stiftungen unter Einschluss des Aufklärungsforschungszentrums. Ich hatte inzwischen aus Mitteln der Volkswagen-Stiftung eine Engländerin für die Zusammenarbeit mit der ehemaligen DDR an meiner Seite, und so reisten Frau Dr. Penelope Willard und ich im Frühjahr und Sommer 1991 nicht nur immer wieder nach Halle, sondern auch nach Magdeburg, wo wir Kontakte zu den neu gegründeten Ministerien aufnahmen. Unvergesslich ist mir die Begegnung mit Dr. Karl-Heinz Hall, Abteilungsleiter im Kultusministerium. Er winkte ab, als wir unsere Wünsche vortragen wollten und hatte stattdessen eine Verordnung vorbereitet, in der die Verordnung der Provinz Sachsen vom 20. September 1946 über die Eingliederung der Franckeschen Stiftungen in die Universität Halle-Wittenberg „von Anbeginn an rechtswidrig“ war.
Kurz nach dieser Begegnung, am 18. September 1991, fand dann die erste denkwürdige Sitzung im Obergeschoss des Franckehauses statt: Dr. Hall, begleitet von zwei Kollegen auf der einen Seite des Tisches, wir – Professor Obst, der Konsistorialpräsident Dr. Hartmut Johnson, Frau Willard und ich – ihnen gegenüber. Dr. Hall teilte uns die Entscheidung des Ministeriums offiziell mit. Die nächsten Schritte wurden überlegt. Dr. Johnson erklärte sich bereit, eine neue Satzung der öffentlich-rechtlichen Stiftung zu entwerfen. Zum Abschluss wurde mit den Journalisten, die geduldig gewartet hatten, auf das Ereignis mit einem Glas Sekt angestoßen.
Grossbaustelle
Im folgenden Jahr überstürzten sich die Ereignisse für mich: Am 29. Februar 1992 trat ich in den Ruhestand, am 22. März fand in der Ulrichskirche in Halle eine Festveranstaltung der wiedererstandenen Stiftungen statt. Am Nachmittag wurde das wiederaufgestellte Francke-Denkmal enthüllt, dessen Restaurierung uns die Schriftstellerin Christine Brückner finanziert hatte, die eine zu Herzen gehende Rede hielt.
Im April wurde die Satzung genehmigt, im Mai die Geschäftsstelle mit zunächst fünf Mitarbeitern in einem der leerstehenden Häuser eingerichtet. Das neu gegründete Direktorium konstituierte sich. Am 16. Juni trat das neue Kuratorium zusammen, für dessen Vorsitz wir Hans-Dietrich Genscher gewonnen hatten. Und ich wurde zum Direktor der Stiftungen gewählt.
Im Juli 1992 fand das erste Lindenblütenfest statt. Im August tagte das Landeskabinett unter Ministerpräsident Werner Münch in dem inzwischen hergerichteten Raum des Englischen Hauses. Ein Jahr später wurde zwischen den Franckeschen Stiftungen und dem Land Sachsen-Anhalt ein Vertrag geschlossen, der die Rückübertragung der zentralen Liegenschaft auf die Franckeschen Stiftungen besiegelte.
Inzwischen hatten wir längst den Wiederaufbau der Franckeschen Stiftungen in die Hand genommen und die finanzielle Grundlage dafür geschaffen. Nach dem Vorbild ähnlicher Einrichtungen in den neuen Ländern wurde erreicht, dass der Bund, das Land Sachsen-Anhalt, die Stadt Halle und der Freundeskreis den laufenden Haushalt garantieren. Für die Wiederherstellung der Gebäude sollten Sondermittel eingeworben werden.
Inzwischen hatte der Sonderbaustab der Universität seine Arbeit eingestellt. Wir hatten einen engagierten Architekten, Wilfried Ziegemeier aus Hannover, für den Wiederaufbau gewonnen, der bereit war, finanziell in Vorleistung zu treten und der noch heute, trotz schwerer Erkrankung, in Halle tätig ist.
Die Stiftungen wurden eine Großbaustelle. Wir hatten die Aufgabe, im Andenken an den Gründer August Hermann Francke das demolierte historische Ensemble pädagogischer und sozialer, wissenschaftlicher und kultureller Einrichtungen denkmalgerecht wiederherzustellen und mit neuem Leben zu füllen.
Neue Blüte
Mit der festlichen Eröffnung des restaurierten und neu eingerichteten Historischen Waisenhauses setzten wir im Oktober 1995 ein sichtbares Zeichen. Das Hauptgebäude verbindet Geschichte und Gegenwart. Es ist auf drei musealen Etagen ein Erlebnisort mit historischen Kabinetten, der Ausstellungsetage und unter dem Dach dem wiederentdeckten Kunst- und Naturalienkabinett, dem ältesten bürgerlichen Museum. Mit dem wiedererstandenen Freylinghausensaal für Festveranstaltungen, Konzerte und Kongresse ist das Hauptgebäude auch ein Ort der Begegnungen, Empfänge und der Kommunikation geworden.
Haus für Haus um den Lindenhof wurde saniert, und es kam eine beeindruckende pietistische Baukultur wieder zur Geltung. Die Wiederherstellung jedes Gebäudes war ein Ereignis, darunter das größte Fachwerkgebäude Europas, sechsgeschossig, 110 Meter lang, und das älteste erhaltene Bibliotheksgebäude. Jedes Haus hat seine frühere Nutzung oder bekam eine neue: der großzügige Fachbereich Pädagogik der Universität, das Evangelische Konvikt, die Schülerpensionsanstalt und das Haus des Stadtsingechors wurden wiederhergestellt. Die Bibliothek und das Nachbargebäude wurden zu einem Studienzentrum ausgebaut, das sich speziell der Pietismusforschung widmet. Der Verlag der Franckeschen Stiftungen wurde deshalb 1995 wieder gegründet. Dem in der Wendezeit entstandenen Internationalen Zentrum Europäische Aufklärung der Universität stellten wir die Rote Schule am Ende des Schwarzen Weges zur Verfügung , die aus Mitteln der Stiftung Volkswagenwerk vorbildlich restauriert wurde. Der Nucleus der heutigen Stiftungen ist seit vielen Jahren ein angesehenes außeruniversitäres Forschungsinstitut.
Ich müsste von den Schulen in den Stiftungen berichten und den sozialen Einrichtungen, z. B. dem Neubau der ersten unserer Kindertagesstätten 1995 oder dem Krokoseum, dem Kinderkreativzentrum im Sockelgeschoss des Hauptgebäudes. Ich möchte zum Schluss nur noch erwähnen, das mit dem Einzug der Theologischen Fakultät in zwei historische Gebäude und dem Bau von zwei Kellerkirchen – eine für die russisch-orthodoxe Gemeinde – auch das christliche Erbe wieder in Franckes Stiftungen präsent ist.
„Mitten im Aufbruch“ nannten wir diese Jahre, die ich 2002 in meinem Buch „In Franckes Fußstapfen“ beschrieben habe. Als Hans Dietrich Genscher im Jahre 2000 seine Mission erfüllt sah, schlug er mich dem Kuratorium als Nachfolger vor. Der jetzige Präsident der Humboldt-Universität, Jan-Hendrik Olbertz, wurde Direktor der Stiftungen. Als dieser 2002 Kultusminister Sachsen-Anhalts wurde, empfahl ich Thomas Müller-Bahlke als neuen Stiftungsdirektor, der – einer der verdienten Mitarbeiter der ersten Stunde – den Wiederaufbau der Franckeschen Stiftungen mit Geschick und Tatkraft der Vollendung entgegenführt.