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Buch der Woche

Riga im Fokus

Die lettische Hauptstadt Riga feierte 2001 ihren 800. Geburtstag. 2014 ist Riga Kulturhauptstadt Europas. Kaum eine andere Ostseemetropole blickt auf eine ähnlich wechselvolle Geschichte zurück und zeigt derart deutlich ein von mindestens vier verschiedenen Bevölkerungsgruppen – Letten, Deutschen, Russen und auch Juden – geprägtes Gesicht.

09.05.2014

Von der Niederlegung der Wälle (1857–1863) bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Rigas Aufstieg zur Großstadt

Modernisierungsschritte um 1860: Eisenbahnanbindungen und die Entstehung des Boulevard-Bogens Beim Blick auf die Geschichte des Zarenreichs wird der Krimkrieg, der 1853 als Konflikt zwischen dem Osmanischen Reich und Russland begann und in den 1854 Großbritannien und Frankreich an der Seite des Sultans eintraten, oft als auslösendes Moment für eine Phase nachholender Modernisierung beschrieben. Für Riga, das während der zweieinhalb Jahre, die dieser Krieg dauerte, ein letztes Mal in seiner Geschichte als Festung in Verteidigungsbereitschaft versetzt wurde, ließe sich das, was auf das Kriegsende folgte, sogar als »Modernisierung im Zeitraffer« bezeichnen. Konsequenzen hatte der Krimkrieg hier freilich schon vor seiner Beilegung, auch wenn die Stadt nicht in Gefahr war, angegriffen zu werden. Zum Beispiel verzögerte er die Errichtung der Anglikanischen Kirche, des jüngsten Gotteshauses im heutigen Altstadtbereich, um mehrere Jahre.

Anglikanisches Gemeindeleben gab es in der Stadt schon ab 1830 – anfangs jedoch in der Form, dass Gottesdienste der Anglikaner in der Reformierten Kirche abgehalten wurden. 1852 kam die Gemeinde dann in den Besitz des Grundstücks mit Blick zur Düna, auf dem ihr eigenes Kirchengebäude Gestalt annehmen sollte, und 1853 hatte Stadtarchitekt Johann Daniel Felsko seine Entwürfe für den neogotischen Sakralbau fertig ausgearbeitet, so dass einer Grundsteinlegung eigentlich nichts mehr im Wege stand. Tatsächlich aber konnte dieser feierliche Akt, nachdem Großbritannien für das Zarenreich zum Kriegsgegner geworden war, erst im Juni 1857 stattfinden. Bis zur Einweihung der Kirche vergingen danach noch gut zwei Jahre. Alle wesentlichen Baumaterialien wurden während dieser Zeit von den Britischen Inseln her angeliefert.

Jene Modernisierungsphase bislang ungekannten Ausmaßes, die Riga derweil durchlief, verdankte es dem einhelligen Urteil vieler Zeitgenossen zufolge vor allem der Tat- und Durchsetzungskraft des höchsten örtlichen Repräsentanten der Staatsgewalt, Fürst Aleksandr Arkadevi? Suvorov-Rymnikskij (* 1804, † 1882, 1848–1861 Generalgouverneur der Ostseeprovinzen). Mit seinem beharrlichen Insistieren in Sankt Petersburg trug Suvorov zum Beispiel entscheidenden Anteil daran, dass ab 1858 die gut ein Jahrzehnt zuvor vom Börsenkomitee noch vergeblich erbetene Anbindung Rigas an das russische Eisenbahnnetz erfolgte: Durch die mit viel englischem Kapital, dessen Mobilisierung ein Verdienst des Börsenkomitees war, und unter Beteiligung englischer Ingenieure verwirklichte Strecke entlang der Düna bis Dünaburg (lett. Daugavpils) hatte die Stadt von 1861 an immerhin bereits Anschluss an die – ebenfalls erst in den 1850er Jahren geschaffene – Eisenbahnlinie von Sankt Petersburg nach Warschau. Was den weiteren Ausbau des Streckennetzes in den folgenden Jahren und Jahrzehnten betrifft, darf die Verbindung ins nahe Bolderaa (lett. Bolder?ja) keinesfalls unerwähnt bleiben, da sie 1872/73 die Fertigstellung der ersten ganzjährig verfügbaren Rigaer Düna-Brücke mit sich brachte: Diese konnte nebenher von Fußgängern und Fuhrwerken benutzt werden, wenn auch mit jeweils fast halbstündigen Unterbrechungen, sobald sie für eine Zugdurchfahrt benötigt wurde. Weitere Unterbrechungen kamen hinzu, wenn ihr mittleres Stück angehoben wurde, um ein großes Schiff passieren zu lassen.

Eine direktere Streckenführung in Richtung Sankt Petersburg ohne Umweg über Dünaburg wurde erst 1889 endgültig fertig, als sich in Russlands Schienennetz die bis dahin verbliebene Lücke zwischen Riga und Pskov schloss.

Ebenso wie der mit Suvorovs Hilfe angekurbelte Eisenbahnverkehr profitierte von der Aufgeschlossenheit für lokale Interessen, die diesen Generalgouverneur auszeichnete, um 1860 auch der Schiffsverkehr: Zum einen konnte die Düna-Mündung vertieft und so vor Versandung bewahrt werden; zum anderen kam Riga im Gefolge dessen in den schon lange angestrebten Besitz eines Winterhafens. Der gleichzeitige Bau eines Gaswerks brachte die Bürger unterdessen in den Genuss einer völlig neuen Form der Straßenbeleuchtung. Sogar über eine Telegrafenleitung nach Sankt Petersburg verfügte Riga erst ab Mitte 1855. Vier Monate zuvor waren noch drei Tage vergangen, bis man Kenntnis vom Tode Zar Nikolaus’ I. (* 1796, † 1855, ab 1825 Zar) hatte, wobei vielen Rigensern als besonders schmerzlich in Erinnerung blieb, dass es selbst zu diesem späten Zeitpunkt zuerst Pressemeldungen aus Berlin gewesen waren, durch die sich die betrübliche Nachricht auch in ihrer Stadt hatte verbreiten können. Hinzu kam, dass Riga dank seines Börsenkomitees durchaus Vorreiter beim Schaffen von Telegrafenverbindungen im Zarenreich gewesen war; nur reichte 1852 die allererste dieser Verbindungen eben nur bis Bolderaa.

Ein Zugeständnis, zu dem der bisherige Zar Nikolaus zu keinem Zeitpunkt zu bewegen war, machte dessen Sohn und Nachfolger Alexander II. (* 1818, † 1881, ab 1855 Zar) der Stadt an der Düna, indem er 1856 ihren Status als Festung aufhob und in die Beseitigung ihrer Verteidigungswälle einwilligte. Bis unmittelbar zuvor hatte sie im Rahmen der Sicherung der westlichen und südlichen Außengrenzen des Zarenreichs noch denselben hohen Rang wie daneben Ker?, Sevastopol, Kiev, Reval (estn. Tallinn) und die vor dem damaligen Helsingfors (finn. Helsinki) gelegene Festung Sveaborg (finn. Suomenlinna) eingenommen. Während der 1840er und frühen 1850er Jahre waren, damit Riga diesem Rang weiter hätte gerecht werden können, sogar schon Vorbereitungen für einen noch wehrhafteren Ausbau des Düna-Ufers angelaufen. Zu der gegenläufigen Entscheidung unter Alexander II. kam es unter anderem aufgrund der Einsicht, dass der Festungsstatus untragbare hygienische Bedingungen hatte entstehen lassen.

Nicht zuletzt deswegen sah das Konzept zur künftigen Gliederung und Nutzung der Flächen des bisherigen Befestigungsgürtels, das bereits 1856 Johann Daniel Felsko und Otto Dietze (* 1832, † 1890) vorlegten, einen hohen Grünflächen-Anteil vor. Es bezog sich auf sämtliches Gebiet von der Altstadt bis zur heutigen Elizabetes iela (Elisabethstraße); ausklammern mussten Felsko und Dietze bei ihren Gestaltungsideen lediglich einen Großteil der so genannten Esplanade, denn ein Karree, das in etwa dem auch heute auf Lettisch noch als »Esplan?de« geläufigen Gelände entsprach, hatte für das Militär verfügbar zu bleiben. Die Arbeiten an dem ehrgeizigen Projekt begannen binnen kürzester Zeit, nämlich genau in jenem Jahr 1857, in dem auch Kaiser Franz Joseph die Einebnung der Festungsanlagen Wiens veranlasste. Die im einstigen Wiener Festungsgürtel verlaufende heutige Ringstraße, ihrerseits das Paradebeispiel für eine durch Festungsschleifung realisierbar gewordene Prachtstraße rund um die Ränder einer Altstadt, entstand somit keineswegs früher als die Boulevards in Riga und konnte deren Planung nicht etwa als bereits existierendes Vorbild beeinflussen.

Das Wasser aus den Festungsgräben speiste fortan den inmitten der neuen Grünanlagen angelegten Stadtkanal. Stolz war man aber eben auch in Riga vor allem auf die neuen Boulevards, zwischen denen dieser sich hin- und herschlängelte. Ähnlicher Beliebtheit bei den Bürgern erfreute sich schon bald der Basteiberg, der zwischen Stadtkanal und Pulverturm aus Teilen der abgetragenen Massen an Erde aufgeschüttet wurde. Bis 1863 waren all diese Arbeiten im Wesentlichen abgeschlossen. In der Publizistik überbot damals ein Blatt das andere in der Wahl seiner Metaphern für das, was Riga gerade widerfuhr: Es sei nun endlich seiner »Fesseln entledigt«, lautete zum Beispiel eine Formulierung, die sich bei den Zeitgenossen regelrecht einschliff. Die Euphorie, von der diese erfasst wurden, wird allemal verständlich, wenn man bedenkt, dass neben einengenden Wällen und Mauern damals ebenso der üble Geruch modriger Festungsgräben binnen weniger Jahre verschwand.

Noch bis Anfang der 1870er Jahre musste die Stadt darauf warten, dass auch die Befestigungsanlagen der Zitadelle eingeebnet und großteils in Grünflächen umgewandelt werden konnten. Für den eigentlichen Zitadellenbereich bedeutete selbst dies noch keine harmonische Einbeziehung in seine Umgebung, da er sich weiterhin durch heruntergekommene Kasernengebäude sowie miserabel gepflasterte und schlecht beleuchtete Straßen auszeichnete. Die Kriegsbehörde sperrte sich lange gegen den Wunsch der Stadt, das Gelände zu kaufen; erst um 1910 gab sie deren Drängen nach, indem sie ihr immerhin einen partiellen Ankauf ermöglichte, worauf die Stadt den betreffenden Flächenabschnitt zu Einzelgrundstücken parzellierte und an Privatleute weiterverkaufte. Der interessante Umstand, dass in der Gegenwart die einstige Zitadelle nicht Bestandteil des insgesamt großflächig abgesteckten Weltkulturerbe-Areals ist, hat insofern eine lange Vorgeschichte.

War schon die Planung durchgehend ein- oder beidseitig bebauter neuer Straßen von großem Reiz, so eröffnete die Beseitigung der Wälle den Rigensern darüber hinaus erstmals die Möglichkeit, öffentliche Gebäude wie Solitäre in begrünter Umgebung zu platzieren. Wie sehr sich in dieser Hinsicht Tatendrang angestaut hatte, bewies die zügige Errichtung des später zu Lettlands Nationaloper gemachten Deutschen Stadttheaters, das zwischen August 1860 und September 1863, also noch während an anderen Stellen die Wallabtragungsarbeiten in vollem Gange waren, an der innenstädtischen Seite des Stadtkanals auf dem Grund und Boden der vormaligen »Pfannkuchen- Bastion« entstand. Sein Architekt war der in Sankt Petersburg geborene Ludwig Bohnstedt (* 1822, † 1885), der rund ein Jahrzehnt später, 1872, Sieger im ersten der Wettbewerbe rund um das damals geplante Berliner Reichstagsgebäude wurde. Bestürzung herrschte in Riga, als 1882 ein Brand das mit so viel Aufwand realisierte Theatergebäude verwüstete. 1885, in Bohnstedts Todesjahr, begann der zweijährige Wiederaufbau, bei dem der nun verantwortliche Reinhold Schmaeling (* 1840, † 1917, 1879–1915 Stadtarchitekt) sich nur bezüglich der Außengestaltung an die Originalvorlagen gebunden fühlte, während im Inneren zum einen technische und stilistische Modernisierungen erfolgten und zum anderen der hohen Publikumsnachfrage Rechnung getragen wurde: Eine allzu deutliche Steigerung der Zahl der Zuschauerplätze war zwar nicht möglich; jedoch gab es von nun an neben 1240 Sitzplätzen auch 140 Stehplätze, wodurch der Genuss von Theaterabenden nicht mehr ganz so ausschließlich wie das Privileg einer Elite anmutete. Die technische Überholung schloss unterdessen mit ein, dass das Theater bei seiner Wiedereröffnung 1887 als erste Räumlichkeit ganz Rigas in elektrischem Licht erstrahlen konnte.

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Rapides Anwachsen und veränderte ethnische Zusammensetzung der Stadtbevölkerung

Rigas Einwohnerentwicklung in der Zeit seines Aufstiegs zur Großstadt lässt sich an den Ergebnissen von vier Volkszählungen ablesen, die im Abstand von jeweils rund eineinhalb Jahrzehnten durchgeführt wurden, nämlich 1867, 1881, 1897 und 1913. Für die jeweiligen Jahre der Datenerhebungen sind auf dieser Grundlage Aussagen über die prozentualen Anteile der verschiedenen Nationalitäten an der Gesamtbevölkerung möglich – wenn auch nicht mit optimaler Exaktheit. Dass im Rückblick eher nur Näherungswerte erschlossen werden können, liegt unter anderem daran, dass nicht alle vier Male genau das Gleiche abgefragt wurde: 1867 sollte die Alltagssprache angegeben werden, 1881 neben der Alltagssprache auch die Nationalität, 1897 die Muttersprache und 1913 die Sprache des täglichen Gebrauchs in der Familie. Für 1867 bemisst sich demnach der Anteil der Letten an der Gesamtbevölkerung auf rund 23,5 Prozent, während der Anteil der Deutschen als zu dieser Zeit zahlenmäßig noch stärkster Bevölkerungsgruppe auf 42,8 Prozent beziffert werden kann. 1897 hatten sich die Verhältnisse bereits umgekehrt: 41,6 Prozent betrug jetzt der Anteil der Letten und 25,5 Prozent der der Deutschen. Bis 1913 verloren Letztere ihren Rang als zweitstärkste Gruppe nach den Letten sogar noch an die Russen und stellten mit 16,4 Prozent zum Beispiel nur noch einen gut doppelt so großen Bevölkerungsanteil wie die immer zahlreicheren Polen, die zuletzt 7,4 Prozent ausmachten. Am ungenauesten sind die Prozentwerte, die jeweils den Juden zugeordnet werden können, da diese sich nun einmal unterschiedlicher Sprachen bedienten.

Die Gesamteinwohnerzahl erhöhte sich zwischen 1867 und 1881 von 102590 auf 169366; 1897 wurden bereits über 282000 Personen gezählt und 1913 schließlich fast 508000. Bei isolierter Betrachtung erscheint eine derart zügige Verfünffachung der Einwohnerzahl einer Stadt geradezu beispiellos. Dieser Eindruck schwächt sich ab, wenn man Rigas damaliges Wachstum in Relation zu der gleichzeitigen Bevölkerungsexplosion im Zarenreich ins gesamt setzt, das zwischen 1857 und 1914 immerhin eine Verdreifachung seiner Population erlebte. Und doch waren die Herausforderungen, die auf Riga zukamen, enorm.

Riga entwickelte sich in der zweiten Jahrhunderthälfte zu einer Vielvölkerstadt, in der die Angehörigen der verschiedenen Nationalitäten an ihren Arbeitsplätzen und im Geschäftsleben tagtäglich miteinander in Berührung kamen, private und gesellschaftliche Kontakte jedoch meist ausschließlich mit Angehörigen der jeweils eigenen Nationalität pflegten. Was politisches Verhalten anbetrifft, kam vielfach neben der nationalen ebenso sehr die soziale Segmentierung der Stadtbevölkerung zum Tragen. Wie eng dabei das eine mit dem anderen verwoben sein konnte, zeigt ein Vorausblick in das Jahr 1903: Damals schied sich die Bereitschaft zu fortdauernder Zusammenarbeit zwischen der lettischen Sozialdemokratie, der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDAP) und der Rigaer Sektion des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes an der Frage, wie weit die wechselseitige Abgrenzung zwischen ihnen reichen sollte. Konkret ging es darum, ob jede von ihnen eine Art Alleinzuständigkeit für die Verbreitung von politischen Informationen unter der von ihr repräsentierten Bevölkerungsgruppe beanspruchen konnte bzw. sollte. Nur die RSDAP betrachtete eine solch strikte Adressaten-Aufteilung im Rahmen der Propagandaarbeit seinerzeit als Verrat an der sozialistischen Idee.

Im Rahmen der lettischen Nationsbildung spielte das rasant wachsende Riga jener Zeit eine elementare Rolle, da nur hier Kontakte zwischen Letten, die aus der Provinz Livland stammten, und Letten, deren Heimatorte in der Provinz Kurland lagen, zur tagtäglichen Normalität gehörten. Bei der Volkszählung von 1881 gaben zudem immerhin 1,9 Prozent der erfassten Personen einen Geburtsort im Gouvernement Vitebsk an. Wie hoch der Anteil an Letten bzw. an Sprechern des Lettgallischen innerhalb dieses Personenkreises war, lässt sich anhand der Statistik jedoch nicht klären.

Von den annähernd 50000 Letten, die 1881 in Riga lebten, war mehr als die Hälfte im Laufe der vorangegangenen 14 Jahre aus dem näheren und weiteren Umland zugewandert. Ein Gefühl gegenseitiger Verbundenheit bestand unter den Rigaer Letten folglich vor allem insofern, als viele von ihnen die Erfahrung einte, erst vor kurzem in der Stadt angekommen zu sein. Statt bei dem Versuch, eine lettische Nationalbewegung zu konstituieren, nur auf ein Identifikationsmerkmal wie die Sprache zu setzen, knüpften die Vorkämpfer dieser Bewegung daher zunächst einmal bei rein praktischen Bedüfnissen der ehemaligen Landbewohner an. Diesen wurde etwa durch Spar- und Vorschusskassen, Kreditvereine oder allgemeine Wohltätigkeitsvereine Hilfe bei der Bewältigung ganz konkreter Schwierigkeiten zuteil, die das Großstadtleben für fast jeden von ihnen mit sich brachte. Nicht wenige traten früher oder später in einen Abstinenz-Verein ein; für andere wiederum waren Vereine, in denen sie Unterstützung beim Abbau von Bildungsdefiziten fanden, besonders wertvoll oder zählte ganz einfach die Geselligkeit, die ihnen zum Beispiel ein Gesangsverein bieten konnte.

Erhebliche Bedeutung als verbindendes Element in einer Stadt, in der beispielsweise Straßen nur auf Russisch und Deutsch beschildert waren, kam der gemeinsamen Sprache freilich dennoch zu. Allerdings unterschied sich das Ausmaß an tatsächlicher Beherrschung des Lettischen von Person zu Person ganz beträchtlich. Wenn etwa der namhafteste unter den lettischen Vereinen, der 1868 gegründete »Rigaer Letten Verein«, zu so genannten »Frage-Abenden« lud und dabei im Vorfeld die Einreichung klärens- oder erörternswert erscheinender Themen erbat, bezogen sich mitunter etliche der eingereichten Fragen darauf, wie bestimmte Dinge im Lettischen überhaupt auszudrücken seien. Solche Unsicherheiten hingen bei manchem Fragesteller damit zusammen, dass es noch lange Zeit bestimmte Alltagssituationen gab, in denen das Lettische kaum jemals Anwendung gefunden hätte. Zum Beispiel formulierten selbst um 1910 Letten, die sich während eines Restaurantbesuchs auf Lettisch miteinander unterhielten, ihre Bestellung üblicherweise noch immer auf Deutsch, auch wenn sie den Kellner ebenfalls für einen Letten halten konnten und womöglich sogar eine lettischsprachige Speisekarte verfügbar war.

Von derartigen Verhaltensmustern mochte höchstens dann abgewichen werden, wenn man sich in einem überdurchschnittlich stark von Letten bewohnten Teil Rigas wusste. Solche besonders von Letten geprägten Gegenden lagen zum einen links der Düna, also im heutigen P?rdaugava, zum anderen aber auch westlich des Weidendamms (lett. Gan?bu dambis) sowie in den durch diese Straße mit dem Zentrum verbundenen Bereichen an der Roten Düna, das heißt im heutigen Stadtteil Sarkandaugava. Gut situierte Letten bevölkerten darüber hinaus weite Teile der Petersburger Vorstadt, wo sie mit der Zeit auch immer öfter zu Hausbesitzern wurden – manche als direkte Nachkommen einer Generation, die am Ausbau dieser Vorstadt vor allem dadurch großen Anteil gehabt hatte, dass im damaligen Rigaer Bauhandwerk Letten zahlenmäßig dominierten.

Einer der im Bauwesen engagierten Letten betätigte sich hier sogar als erfolgreicher Unternehmer. Seiner Herkunft nach ein einfacher Bauernsohn aus Kurland, hatte besagter Kristaps Kalni?š (* 1843, † 1907) zunächst seinen Namen germanisiert, so wie es viele Aufstiegswillige unter seinen Zeitgenossen noch taten. Der Wortbedeutung seines ursprünglichen Nachnamens entsprechend nannte er sich fortan Berg bzw. Bergs. Er ließ unter anderem den »Bergs-Basar« (lett. »Berga baz?rs«) nahe der östlichen Ecke des Wöhrmannschen Gartens errichten – eine in Riga zur Zeit ihrer Entstehung (1887–1897) einzigartige Einkaufspassage.

Hauptsächlich im Umfeld der Petersburger Vorstadt war auch der »Rigaer Letten Verein« verwurzelt, der sich zum Ziel setzte, mit seiner immer vielfältiger verzweigten Tätigkeit den übrigen lettischen Milieus Nutzen zu erweisen. Unter der Ägide dieses Vereins erlebte nicht zuletzt das lettische Theaterwesen seine Anfänge, beginnend mit der Berufung des Letten Adolfs Alun?ns (* 1848, † 1912), der Erfahrungen als Schauspieler an den deutschen Theatern in Dorpat, Reval, Narva und Sankt Petersburg gesammelt hatte, zum Leiter des vereinseigenen Theaters im Jahre 1870. Alun?ns nahm diese Funktion bis 1885 wahr und füllte sie nicht nur aus, indem er Regie führte, sondern fand sich auch zum Verfassen von Theaterstücken bereit. An eigenen Dramen fehlte es der lettischen Literatur nämlich noch; ihre Entstehung rückte überhaupt erst durch das, was sich unter Alun?ns entwickelte, in greifbare Nähe.

Eine Vorliebe für Stadtbezirke, in denen viele Letten lebten, bewiesen unter Rigas übrigen Nationalitäten vor allem die Esten. Betrug deren Anteil an der Gesamtbevölkerung bei den Zählungen von 1867 und 1881 jeweils nur knapp ein Prozent, so wuchs er bis 1913 immerhin auf annähernd den doppelten Wert. Ärmere Esten zog es in diesen Jahrzehnten insbesondere in den Stadtteil Hagensberg (lett. ?genskalns) links der Düna, besser gestellte dagegen in die zwischen Alter und Neuer Gertrudenkirche gelegenen Viertel der Petersburger Vorstadt. Höher als im eigentlichen estnischen Siedlungsraum fiel unter den Rigaer Esten der Anteil derer aus, die zur Orthodoxie übergetreten waren; später prominent gewordene Esten, die sich für jeweils einige Jahre in Riga aufhielten, sind entsprechend vor allem mit dem orthodoxen »Rigaer Geistlichen Seminar« in Verbindung zu bringen, einer Einrichtung, die 1846 zur Heranbildung estnischer und lettischer orthodoxer Priester gegründet worden war. Der orthodoxen estnischen Gemeinde wurde die in der einstigen Zitadelle gelegene Kirche St. Peter und Paul übergeben, als deren Status als Kathedrale 1886 auf die neu gebaute Christi-Geburt-Kathedrale am Rand der Esplanade überging. Daneben formierte sich jedoch auch eine mitgliederstarke evangelisch-lutherische estnische Gemeinde, der als Gotteshaus sogar eine Altstadtkirche, nämlich St. Jakobi, zur Verfügung stand.

Neu gebaute Gotteshäuser entstanden während des 19. Jahrhunderts für keine Bevölkerungsgruppe in so großer Zahl wie für die russische. Für sie bildete speziell die Moskauer Vorstadt eine Art Mikrokosmos, den viele Russen wie einen Gegenpol zum übrigen Riga wahrnahmen und nur bei seltenen Anlässen überhaupt verließen. Russische Bräuche wurden in diesem Stadtteil mit einer solchen Intensität gepflegt, dass nach Ansicht mancher Zeitzeugen beinahe jeder Nichtrusse, der sich hier niederließ, wie von selbst einem gewissen Maß an Assimilation ausgesetzt war. Ging es jedoch um sozialen Aufstieg, so galt – auch unter den Russen selbst – der Entschluss, sich aus der Moskauer Vorstadt herauszuwagen, als der erste entscheidende Schritt. Der russische Verein »Ulej« beispielsweise nahm daher vorzugsweise in der Altstadt seinen Sitz: An der vorherigen Stelle eines Postamtes an der Kalkstraße ließ er sich Anfang der 1880er Jahre von dem Architekten Reinhold Schmaeling jenes repräsentative Gebäude errichten, dessen späterer Ausbau zum russischen Schauspielhaus 1967 einen Eingriff in die Dachgestalt motivierte, der inzwischen zu den korrekturwürdigsten Rigaer Bausünden der Sowjetzeit gezählt wird.

Die Abgeschlossenheit der Moskauer Vorstadt leistete derweil einer hohen Analphabetenquote Vorschub. Betrug diese 1890 unter sämtlichen Bewohnern der Stadt ungefähr 23 Prozent, so lag sie bei den Rigaer Russen zu jenem Zeitpunkt doppelt so hoch. Die allgemeine Russifizierungspolitik, die um 1890 ihre intensivste Phase erreichte, änderte hieran bezeichnenderweise wenig. Etwas höher als bei den übrigen Bevölkerungsgruppen fiel innerhalb der russischen auch der prozentuale Anteil erwerbstätiger Frauen aus. So ergab die Volkszählung von 1897, dass annähernd zwei von fünf Russinnen einer bezahlten Arbeit nachgingen, während nur ungefähr jede dritte Lettin und jede dritte Deutsche dies tat. Zur Art der ausgeübten Berufe sei exemplarisch erwähnt, dass von den russischen Arbeiterinnen überproportional viele an der Herstellung von Tabakprodukten beteiligt waren.

Dass zur nach den Russen zweitstärksten Bevölkerungsgruppe in der Moskauer Vorstadt damals die der Juden wurde, ist vor allem aus sprachlichen Gründen wenig verwunderlich: Zwar gab es neben Sprechern des Jiddischen eine große Zahl von Rigaer Juden, für die aufgrund ihrer kurländischen Herkunft das Deutsche ein ganz selbstverständliches Kommunikationsmittel darstellte; doch mindestens ebenso viele trugen dem Gedanken der »Haskala« – der auf Anpassung an die Kultursphäre der jeweiligen Umgebung zielenden jüdischen Aufklärungsbewegung – dadurch Rechnung, dass sie Anschluss an die russische Kultur suchten. Von den Rigaer Russen wurde dies während der ersten Jahrzehnte der jüdischen Zuwanderung keineswegs kritisch beäugt; Reserviertheit gegenüber dem russisch akkulturierten Teil der jüdischen Bevölkerung wurde bei ihnen erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts in größerem Umfang spürbar, als die oftmals mit »Russifizierung« gleichgesetzten Versuche einer »Unifizierung« des Zarenreichs voll zum Durchbruch kamen. Noch etwas beunruhigender scheinen – jedenfalls wenn allzu rasche soziale Aufstiege zu beobachten waren – deutsch akkulturierte Juden auf das örtliche Deutschtum gewirkt zu haben.

Die Ablehnung, auf die die Juden bei vielen Letten stießen, rührte gleichfalls von einem wirtschaftlich-sozial begründeten Konkurrenzverhältnis her und hatte in den seltensten Fällen etwas mit religiös motivierten Ressentiments zu tun. Auch machte kaum ein Lette es den Juden zum Vorwurf, dass diese sich im Zuge ihres Bemühens, ihre soziale Stellung zu verbessern, wie Deutsche oder eben wie Russen gerierten. Lettischer Argwohn bezüglich solchen Anpassungsverhaltens klang höchstens ab der Revolution von 1905 vereinzelt an, durch die sich allerdings ohnehin noch mancher Abgrund auftun sollte, was das Denken über Juden anbetraf.

Da diesen zu Zeiten des Zarenreichs das volle Bürgerrecht bis zuletzt vorenthalten blieb, war das wohl wichtigste unter den Rechten, die ihnen in Riga während des 19. Jahrhunderts zuteil wurden, das des Immobilienerwerbs. Seine Zuerkennung im Jahr 1858 ließ die Zahl der offiziell als Einwohner der Stadt gemeldeten Juden rasch ansteigen: 1859 waren es bereits gut 1200 – doppelt so viele wie noch 1845.

Grundsätzlich lässt sich die Entwicklung der Rechtssituation damaliger Rigaer Juden vor allem anhand der Unterscheidung zwischen Niederlassungs- und Aufenthaltsrecht verständlich machen. Im Zarenreich hatte die Einräumung von Rechten an Juden überhaupt erst infolge der Hinzugewinnung vormals polnisch-litauischer Gebiete zur Debatte gestanden; denn erst seit diesen Gebietsgewinnen befanden sich unter den Untertanen der Zaren in größerer Zahl Juden. 1791 waren daraufhin die gesetzgeberischen Grundlagen für die Schaffung des so genannten »Ansiedlungsrayons« formuliert und 1793 dessen Grenzen abgesteckt worden. Zu weiteren Ausdehnungen seines Gebietsumfangs führten danach noch die dritte Teilung Polen-Litauens 1795 und die Einverleibung Bessarabiens 1812, während ansonsten neben den durch die Polnischen Teilungen an das Zarenreich gefallenen Gebieten auch die Gouvernements der »linksufrigen Ukraine« sowie das nördlich des Schwarzen Meers eroberte »Neurussland« zum »Ansiedlungsrayon « gehörten. Nur innerhalb dieses Gesamtgebietes durften Juden dauerhaft ansässig sein; außerhalb davon entstanden höchstens bei entsprechender Aufweichung der Bestimmungen Niederlassungsmöglichkeiten, was jedoch bis zum Ende des Zarenreichs prinzipiell eine Ausnahme von der Regel bedeutete.

Riga zeichneten hierbei aufgrund seiner unmittelbaren Nähe zu den Grenzen des »Ansiedlungsrayons« gewisse Besonderheiten aus; umfasste dieser doch auch das 1795 mit im Zarenreich aufgegangene und zu dessen dritter Ostseeprovinz neben Livland und Estland gewordene vormalige Herzogtum Kurland. Überdies war bereits vorher, nämlich auf Grundlage einer Handels- und Grenzkonvention von 1783, aus dem Gebietsbestand des Herzogtums die Fläche der späteren Stadt J?rmala herausgelöst und dem angrenzenden russischen Gouvernement Livland zugeschlagen worden – ein Vorgang, der sehr deutlich die schon damals ausgeübten Einflüsse Russlands auf Kurland widerspiegelt. Von Kurland an Livland war 1783 auf diese Weise auch der Flecken Schlock (lett. Sloka, seit 1959 ein Stadtteil von J?rmala) übergegangen. Für Juden hatte sich daraufhin die Gelegenheit geboten, Handelskontakte nach Riga – ob längst vorhandene oder neu aufzubauende – in der Form zu pflegen, dass sie regelmäßig dorthin fuhren, jedoch in Schlock registriert waren.

Dauerhaft in Riga geduldet waren seinerzeit bereits einige so genannte »Schutzjuden«, denen die Behörden aus Sorge, über den Hafen der Stadt könnten subversive Schriften ins Land gelangen, Aufgaben im Rahmen der Buchzensur übertragen hatten. Auf Versuche dieser »Schutzjuden«, am örtlichen Geschäftsleben zu partizipieren, wie auch der Juden aus Schlock, sich zusätzliche Geschäftsfelder zu erschließen, hatte Rigas Rat in der Folgezeit weitaus ablehnender reagiert als die auf Steuereinnahmen bedachte Gouvernementverwaltung. Als dann 1829 den Schlocker Juden die Erlaubnis, sich ständig in Riga aufzuhalten, erteilt wurde, erhöhte dies einerseits den Druck auf nebenher illegal in die Stadt gekommene Juden; andererseits markierte es nur mehr eine Vorstufe auf dem Weg dahin, dass Juden sich unter bestimmten Voraussetzungen sogar hier registrieren lassen konnten. Ergebnis dieser allmählichen Lockerung der Regelungen war schließlich die oben indirekt schon angedeutete Zahl von 621 gemeldeten Rigaer Juden im Jahr 1845. Zu dem 13 Jahre später erteilten Immobilienerwerbsrecht bleibt anzufügen, dass es den Juden alles in allem nicht sehr viel später zugestanden wurde als sonstigen Bevölkerungsgruppen, denen es bis weit in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenfalls verwehrt war.

Etwa ab der Jahrhundertmitte sorgten die schon angesprochenen Unterschiede sprachlicher Art unterdessen für eine starke Gespaltenheit unter den Juden selbst. Dies galt vor allem so lange, wie es für die Juden Rigas nur eine einzige Schule gab und wie die Mitglieder des Gemeindevorstands, des Kahal, die Leitung dieser Schule immer wieder einem Deutsch sprechenden Bewerber anvertrauten. Als mehr dem Russischen zuneigender Bewerber war zum Beispiel der langjährige spätere Rabbiner Aaron Pumpjanskij (* 1835, † 1893) Mitte der 1860er Jahre noch seinem deutschsprachigen Mitbewerber unterlegen. Erst 1873 wurde Pumpjanskij doch noch zum Schulleiter und Rabbiner ernannt, gab erstere Position allerdings wenig später auf, da sie zu dieser Zeit von der des Rabbiners, die ihm wichtiger war, getrennt wurde.

Dass es parallel hierzu nunmehr zu einer relativ schnellen Vermehrung der Zahl der Synagogen kam, beruhte zunächst noch primär auf den Unterschieden sprachlicher und religiöser Art innerhalb des jüdischen Bevölkerungsteils: Zwischen russisch akkulturierten und deutsch akkulturierten Juden fehlte es an Möglichkeiten einer problemlosen Kommunikation sowie zwischen Chassidim und Mitnagdim an der Bereitschaft, sich ohne schwerwiegende Gründe zu Kulthandlungen in ein Bethaus der jeweils anderen der beiden Gemeinschaften zu begeben. Erst ab ungefähr 1900 hing der Bau der dann noch entstandenen Synagogen vornehmlich damit zusammen, dass auch die jüdische Bevölkerungsgruppe zwischenzeitlich stark angewachsen war, nämlich von rund 11000 Personen um 1880 auf rund 22000 Personen im Jahr 1897. Was die Berufsstruktur anbetraf, so kamen dabei auf zwei im Handel tätige Juden etwa drei, die ihren Lebensunterhalt als einfache Arbeiter bestritten. Entsprechend bescheiden nahmen sich die Wohnverhältnisse der meisten Rigaer Juden aus.

Als während der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts an der Großen Peitaustraße (lett. Peitavas iela) erstmals auch im Altstadtbereich eine Synagoge entstand, wurde diese nicht ohne Grund wie ein zweigeschossiger Profanbau in die umgebende Häuserzeile eingefügt: Der bei Wilhelm Neumann und dessen Mitarbeiter Hermann Seuberlich (* 1878, 1938 verschollen) in Auftrag gegebene Fassadenentwurf, an dem es außer einer im Rahmen des Rigaer Jugendstils innovativen vertikalen Gliederung nichts unmittelbar Auffälliges gab, entsprang durchaus der Absicht, einstweilen zu kaschieren, dass das Gebäudeinnere als Synagoge vorgesehen war. Erst im Nachhinein musste die Stadtobrigkeit erkennen, dass ein jüdisches Gotteshaus im Altstadtkern – genau das, was sie sich bei Erteilung der Baugenehmigung am wenigsten gewünscht hatte – nun doch Wirklichkeit geworden war. Für Rigas Juden bedeutete dies vor dem Hintergrund, dass inzwischen rund 15 Prozent von ihnen in der Altstadt lebten, einen begrüßenswerten Zugewinn an Prestige.

Eine noch etwas jüngere Synagoge befand sich an der Säulenstraße (lett. Stabu iela), ältere dagegen unter anderem an der Moskauer Straße (lett. Maskavas iela) und an der Palisadenstraße, der heutigen Kr?slavas iela. Als Juwel unter den Rigaer Synagogen galt die neobarock gestaltete Choralsynagoge der Mitnagdim im spitzen Winkel zwischen Mühlenstraße (lett. Dzirnavu iela) und Bahnhofstraße, der heutigen Gogo?a iela. Durch ihre Niederbrennung im Juli 1941, bei der Hunderte von Menschen in ihr eingeschlossen waren, sollte sie noch traurige Berühmtheit erlangen.

Eine Bevölkerungsgruppe, für die Fragen der sprachlichen Orientierung und der Anlehnung an andere Rigaer Nationalitäten ebenfalls eine Rolle spielten, wenn auch nicht so unmittelbar wie für die Juden, war die der Litauer. Während für diese der Glaube und der 1795 untergegangene gemeinsame Staat natürliche Verbindungen mit den Polen schufen, wodurch sie sich oft allerdings auch mit einem polnischsprachigen Pfarrer arrangieren mussten, waren es die Letten, die ihnen am ehesten zum Beispiel die benötigte Bühne für eine Kulturveranstaltung überließen, und waren es die Deutschen, von denen sie sich am ehesten Unterstützung versprachen, wenn es um die Verwirklichung möglicher eigener, rein litauischer Kultureinrichtungen ging. Zu den wenigen Gotteshäusern der Stadt, in denen im frühen 20. Jahrhundert auch auf Litauisch gepredigt wurde, gehörte die Kirche der Schmerzensreichen Gottesmutter am Schlossplatz.

Als 1904 das Verbot, litauische Texte in lateinischen Lettern zu drucken, das im Zarenreich nach dem Aufstand von 1863/64 verhängt worden war, aufgehoben wurde, regte sich sogleich der Wunsch nach Gründung einer eigenen Tages- oder Wochenzeitung für die litauischsprachigen Bewohner der Stadt. Die benötigte Genehmigung wurde jedoch mit der Begründung verweigert, es sei kein Zensor mit hinreichenden Litauischkenntnissen verfügbar. Bis zum erstmaligen Erscheinen der Zeitung »Rygos Garsas« (»Rigaer Echo«) vergingen so noch rund fünf Jahre.

Quelle: Andreas Fülberth: Riga. Kleine Geschichte der Stadt. Böhlau-Verlag, Wien 2014. 308 Seiten, 22,90 Euro. Der Auszug stammt von den Seiten Seiten 122 bis 127 und 136 bis 144. Mehr zum Buch.