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Nature Writing

Robert Macfarlane: Karte der Wildnis

Nature Writing - Robert Macfarlane: Karte der Wildnis
© Matthes & Seitz Berlin

Wo gibt es heute noch Wildnis? Robert Macfarlane sucht abgelegene Inseln und verborgene Gebirge, unwegsame Moore und undurchdringliche Wälder. Er fand sie - in Schottland, Südengland, Westirland oder Norfolk. Eine Leseprobe

22.04.2016

Robert Macfarlane: Karte der Wildnis, Matthes & Seitz, Berlin 2015, 303 Seiten, 34 Euro

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Vor etwa drei Jahren hatte ich damit begonnen, auf Bäume zu klettern. Oder vielmehr erneut damit begonnen; denn an meiner Schule hatte es einen Wald zum Spielen gegeben. Wir waren auf die verschiedenen Bäume gestiegen, hatten ihnen Namen gegeben ("Skorpion", "Große Eiche" wie bei Robin Hood, "Pegasus") und sie nach ausgefeilten Regeln und mit unbedingter Treue umkämpft. Mein Vater hatte meinem Bruder und mir im Garten ein Baumhaus gebaut, das wir jahrelang gegen die Angriffe der Piraten verteidigten. Nun, mit Ende Zwanzig fing ich also wieder an, auf Bäume zu klettern. Einfach nur zum Spaß: ohne Seile, ohne Gefahr.

Durch das Klettern hatte ich allmählich gelernt, einzelne Baumarten zu unterscheiden. Ich mochte die schlanke Biegsamkeit der Silberbirke, der Erle und des jungen Kirschbaums. Kiefern hingegen – mit ihren brüchigen Zweigen, der schuppigen Rinde – mied ich, ebenso Platanen. Und ich fand heraus, dass die Rosskastanie mit ihrem astlosen Unterstamm, den stacheligen Früchten und der ungeheuerlichen Krone für den Baumkletterer sowohl Herausforderung als auch großer Anreiz war.

Ich durchforschte sämtliche Literatur über das Bäumeklettern: es gab nicht viel, aber sehr Aufregendes. John Muir hatte bei einem Orkan in Kalifornien eine dreißig Meter hohe Douglasfichte erklommen und von dort über einen Wald geblickt, "während die gesamte Masse ihres bebenden Laubwerks zu einer einzigen fortwährenden Lohe weißen Sonnenfeuers entzündet war". Italo Calvino hatte sein zauberhaftes Buch vom Baron auf den Bäumen verfasst, dessen junger Held Cosimo in jugendlicher Verärgerung auf einen Baum des bewaldeten Anwesens seines Vaters klettert und sich schwört, nie wieder auf den Boden zurückzukehren. Er hält sein aufbegehrendes Gelöbnis, richtet sich unter dem Blätterdach auf Dauer ein, bewegt sich kilometerweit durch die Wipfel von Oliven, Kirschen, Ulmen und Steineichen, und am Ende heiratet er sogar in einer Baumkrone.

Dann gab es die Jungen in B. B. s "Im Schatten der Eule", die sich lieber im Wald versteckten, als in ihr englisches Internat zurückzugehen, und die zu guter Letzt eine Waldföhre bestiegen, um an das mit Buchenblättern ausgepolsterte Nest eines Wespenbussards zu gelangen. Und natürlich das berühmte Duo aus Winnie-dem-Pu und Christopher Robin: Pu, der mit seinem himmelblauen Ballon hinauf an den Wipfel der Eiche flog, um Honig aus dem Bienenstock zu stibitzen. Und Christopher Robin, der mit seinem Korkengewehr bereitstand, um Pus Ballon abzuschießen, sobald der Honig stibitzt war. ....


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