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„Schatten löschen die Sonne nicht aus“
Bis heute streitet die Literaturwissenschaft über den Roman „Der Prozeß“. Schwanengesang eines leidenschaftlichen Kafka-Forschers
Im Jahre 1925 wurde erstmals postum „Der Prozeß“ veröffentlicht und machte seinen bis dahin kaum bekannten Dichter sofort weltberühmt. Seine völlig neue und ungewöhnliche dichterische Bilderwelt faszinierte unmittelbar, und im Detail der einzelnen Kapitel und ließ die Frage nach einem sinnvollen Verständnis des scheinbar undurchdringlichen Ganzen gar nicht erst aufkommen. Obwohl Max Brod auf seine Unsicherheit in der Reihenfolge der Kapitel ausdrücklich hingewiesen hatte, blieb seine Edition infolge seiner Kompetenz als engster Freund Kafkas völlig unangefochten. Die Wissenschaft unterstützte ihn sogar, indem sie nachzuweisen versuchte, dass die augenscheinliche Zusammenhanglosigkeit der Teile der Absicht des Dichters entspreche, der in moderner Attraktivität seiner Zeit die Sinnlosigkeit offenbaren wolle.
Es dauerte länger als ein Vierteljahrhundert, bis an dieser scheinbar „kafkaesken“ Ausweglosigkeit erstmals gezweifelt wurde und in der Brod-Edition offensichtliche Fehler in der Chronologie des Geschehens und in der Abfolge der Jahreszeiten aufgezeigt worden waren. Nachdem ich ein bis dahin völlig unbeachtetes Kapitel des Romans, das Kafka noch selbst veröffentlicht hatte, als hoffnungsvollen alternativen Schluss des Ganzen entdeckt und erkannt hattee, hatte ich 1957 im Rahmen eines zweijährigen Forschungsauftrags die Möglichkeit, das Problem einer sinnvollen Reihenfolge aller Teile des Fragments zu lösen und das in Wissenschaft und Öffentlichkeit verfestigte düstere Klischee vom auswegs- und hoffnungslosen Dichter neu zu überprüfen.
Das wurde dann allerdings zu einer Sisyphus-Arbeit, die ich erst nach drei Jahrzehnten mit meiner Dissertation und der neu geordneten, ergänzten und erläuterten Neuausgabe 2005 (geringfügig verbessert in der Taschenbuchausgabe seit Ende 2009) endgültig und erfolgreich abschließen konnte.
Das Scheitern bisheriger Editionen
Bisher war trotz ungezählter wissenschaftlicher Experimente, trotz opulenter Biographien und ihrer minutiösen Ausleuchtung des sozialen Umfeldes, trotz der Kritischen Ausgabe des S.Fischer-Verlages mit ihren voluminösen philologischen, aber völlig sinnleeren Apparat-Bänden, trotz der Historisch-Kritischen Ausgabe des Stroemfeld-Verlages, die mit ihren Faksimiles nur die Exaktheit des Nachlasses aus dem Jahre 1925 bestätigte, eine erhellende und überzeugende Annäherung an das tiefgründige geistige Geheimnis der Kunstwerke Kafkas nicht gelungen.
Niemand war bisher bis zum „verborgenen Hintergrund“ oder zum „Schwergewicht in der Tiefe“ – wie der Dichter selbst den Kern und die geistige Substanz seiner Kunst nannte – vorgedrungen. Deshalb entschied ich mich für eine andere, eine neue Möglichkeit, indem ich mich zunächst mit dem äußerst umfangreichen nicht-poetischen Nachlass des Dichters auseinandersetzte: mit den Tagebüchern, den ungezählten Briefen, den Gedanken-Fragmenten, den von ihm noch selbst zusammengefassten Aphorismen und den aufgezeichneten Gesprächen mit ihm. Aus diesem gewaltigen Konvolut exzerpierte ich die charakteristischen Wesensmerkmale der Überzeugungen Kafkas und fügte sie zu einem tiefgründigen geistigen Weltbild zusammen, von dem ich überzeugt war, dass es sich auch in der scheinbar hermetisch abgeschlossenen, metaphorischen Bilderwelt seiner Dichtung widerspiegeln müsse. Denn seine Kunst ist doch die eigentliche Leistung des Künstlers, in der er seine Vorstellung von der Welt, wie sie nach seiner Überzeugung sein sollte, gestaltet. Deshalb verrät auch ein Kunstwerk wesentlich mehr über das Wesen und die Persönlichkeit eines Künstlers, als es eine bloße Biographie seines Lebens vermag.
Wenn man dagegen weiß, dass Kafka einmal gesagt hat: „Der Gedanke, mir helfen zu wollen, ist eine Krankheit und muß im Bett geheilt werden“, weil er überzeugt ist, dass jeder Mensch seine eigene persönliche Wahrheit nur aus dem eigenen Innern, aber nicht von außen gewinnen kann, offenbart die Szene im „Prozeß“, in der der beziehungsreiche, scheinbar mächtige Advokat Dr. Huld seine professionelle Hilfe anbietet, aber dabei krank im Bett liegt, sofort ihre tiefere symbolische Bedeutung. Denn als Josef K. das Angebot selbstbewusst und entschlossen ablehnt, muss der scheinbar kranke, aber dadurch entlarvte Betrüger aus dem Bett und bietet nun selbst, schlotternd auf der Bettkante sitzend, ein erbärmliches Bild mitleiderregender Ohnmacht. Es entspricht der Bildersprache Kafkas, dass dieser geldgierige Scharlatan seine anrüchigen Geschäfte auf der niederen Ebene einer dunklen Erdgeschosswohnung abwickelt, während der Künstler sein lichtdurchflutetes Atelier auf dem höchsten Dachboden eingerichtet hat. Zu ihm muss man sich mühsam emporarbeiten, um in der Begegnung und Auseinandersetzung mit seiner Kunst selbst tätig eine Lösung der eigenen Probleme zu finden.
Ein großartiger Bildteppich
Dieses Beispiel soll zeigen, wie die schlichte und anschauliche Bildersprache Kafkas von einer tiefgründigen inneren Logik geprägt ist, die in ihrem verborgenen Hintergrund die eigentliche und wahre Bedeutung offenbart. Auf diese Weise wirkt der ganze Roman wie ein großartiger doppeldeutiger Bildteppich, dessen einzelne Kapitel nicht nur sinnvoll miteinander verwoben sind, sondern sich auch zu einem folgerichtigen und überzeugenden Entwicklungsgeschehen zusammenfügen lassen, das durchaus nachvollziehbar verstanden werden kann.
„Der Prozeß“ ist ein wunderbares farbiges Mosaik, in dem alle Einzelteile ihren unverwechselbaren Platz und Stellenwert haben. Wenn Kafka das Ganze auch nicht restlos vollendet hat – denn einige wenige Lücken sind augenscheinlich –, so gibt es an der einzigartigen Komposition des Romans als einem hellsichtigen Sinngefüge nicht die geringsten Zweifel. Denn keiner hat die Gefährdungen und Probleme des modernen Menschen scharfsinniger durchschaut und künstlerisch gestaltet wie der geniale Prager Dichter.
Gemessen an dem geordneten farbigen Mosaik wirken alle bisherigen Editionen wie ein zusammenhangloser Haufen bunter Steine, die zwar auch einzeln ihre faszinierende Anziehungskraft nicht verlieren, aber im Ganzen notwendig unverstanden bleiben müssen. Obwohl Max Brod diesen Zustand durch seine Erstausgabe ungewollt selbst verschuldet hat, wehrt er sich infolge seiner intimeren Kenntnis der wahren Mentalität seines Freundes sofort verzweifelt, aber vergeblich gegen die weltweit ausgelöste Lawine von Fehldeutungen und Missverständnissen, die Kafka zu einem regelrechten Mythos werden ließen.
Bleibende Faszination
Bis heute noch gewährleistet sein Name in unseren Schulen und Universitäten, in allen Medien und den Feuilletons unserer Zeitungen, aber auch auf allen Gebieten der Tourismusbranche großes Interesse. Deshalb wird es wohl noch ein langer Weg sein, bis der geistigen Welt seiner einzigartigen Kunst eine verständnisvollere Würdigung widerfährt. Vorerst bleibt meinem Schwanengesang nur der Trost von Max Planck, der bereits 1920 in seiner Nobelpreisrede sagte: „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass die Gegner allmählich aussterben.“ Die noch traurigere Resignation von Friedrich Nietzsche lautet sogar: „Der künstlerische Genius will Freude machen, aber wenn er auf einer sehr hohen Stufe steht, so fehlen ihm leicht die Genießenden; er bietet Speisen, aber man will sie nicht.“
Aber so wie es keine einzige Dichtung Kafkas gibt, die – richtig verstanden – ohne Hoffnung ist, so werden auch seine sinnerfüllten Kunstwerke alle Missverständnisse und Fehldeutungen überdauern, denn – wie sagt er selbst – „Schatten löschen die Sonne nicht aus.“ Seine eigene richtungweisende Lebensdevise lautete: „Wenn auch keine Erlösung kommt, so will ich doch jeden Augenblick ihrer würdig sein.“ Gibt es eine verantwortungsbewusstere Orientierung?
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