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Auch irgendwie kafkaesk: So sah der deutsche Maler und Illustrator Rainer Ehrt Franz Kafka. © akg-images / ehrt

Knapp 100 Jahre nach Franz Kafkas Tod ist dessen Lebenswerk zwar unumstritten, bietet aber nach wie vor einen großen Interpretationsspielraum.

Christian Eschweiler01.06.2020

Die Faszinationskraft von Kafkas dichterischer Bilderwelt geht zweifellos von ihrem scheinbar unauflösbaren Rätselcharakter aus. Das ist allerdings zugleich auch der unwiderstehliche Stachel zu immerwährenden Herausforderungen, weil kein denkender Mensch darauf verzichten kann, nach dem hintergründigen Sinn zu fragen und zu suchen. Jeder Lehrer, der bei einem Schüler das Interesse für Kunst wecken will, muss ihn neugierig machen auf das in ihr verborgene sinnerfüllte Geheimnis. Denn wer Leistung fordert, muss sie mit Sinn begründen.

Und alle Erziehung sollte darauf abzielen, sinnvoll geistige Bildung zu vermitteln, um das eigene Leben verantwortungsbewusst gestalten zu können.

Weltruhm nach dem Tod

Nun gibt es keinen Dichter des 20. Jahrhunderts, der anspruchsvoller und tiefgründiger wäre als Franz Kafka. Da er bescheiden und sehr selbstkritisch war, hat er persönlich nur sehr wenig veröffentlicht, aber dafür ein ungeheures Konvolut an fertigen und unfertigen Schriftstücken hinterlassen, das mittlerweile ein Dutzend Bände umfasst. Wie ein Gralshüter hat Max Brod diesen Schatz an sich genommen, mit Argusaugen bewacht, gesichtet und stückweise seit dem Tode seines Freundes herausgegeben. Denn niemand hatte dem Dichter in den letzten 22 Jahren so nahegestanden, sein einzigartiges Genie erkannt und sein Werk zu veröffentlichen versucht wie er. Tat- sächlich wurde „Der Prozeß“, als er 1925 erstmals erschien, sofort zu einem Paukenschlag, der umgehend Kafkas Weltruhm begründete.

Niemand konnte sich der völlig neuartigen, außergewöhnlichen, ausdrucksstarken und zugleich schlichten Anschaulichkeit dieser Bildersprache entziehen, die dennoch keinen Zweifel daran ließ, dass sie ein rätselvolles Geheimnis verbarg, dem nicht leicht beizukommen war, dafür aber ganze Heerscharen von Interpreten aus allen Richtungen mobilisierte, von denen jeder auf seine Art den gordischen Knoten zu lösen bemüht war. Da aber dabei niemand zu einem wirklich überzeugenden Ergebnis gelangte, lösten alle Thesen immer sofort nur Gegenthesen aus, sodass zu guter Letzt alles möglich wurde und ein scheinbar undurchdringliches Konglomerat entstand, in dem einige Akademiker dem Dichter sogar unterstellten, bewusst unentwirrbare Sinnlosigkeiten gestaltet zu haben, während andere in diesen gewollten Unstimmigkeiten gerade „seine unglaubliche Modernität“ erkannten. Die Ironie des Schicksals schuf für den verzweifelten Zustand der Ausweglosigkeit und Ohnmacht sogar sprachlich einen neuen Begriff: kafkaesk! Wer von nun an völlige Hoffnungslosigkeit ausdrücken wollte, nannte seine Situation einfach kafkaesk.

Christian Eschweiler
Dr. Christian Eschweiler (RC Euskirchen-Burgfey) war von 1970 bis zu seiner Pensionierung Studiendirektor am Jesuitenkolleg in Bad Godesberg. Zeit seines Lebens befasste er sich mit dem Werk Franz Kafkas, u.a. in „Der verborgene Hintergrund in Kafkas ‚Der Prozeß’“ (Bouvier 1990). 2009 erschien eine von ihm geordnete, ergänzte und erläuterte Fassung des „Prozesses“. (Landpresse). www.christian-eschweiler.com