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Anmerkungen zum Vermächtnis Franz Kafkas

Der Weisheit letzter Schluss

Mit Werken wie „Der Proceß“ oder „Die Verwandlung“ war Franz Kafka einer der großen Wegbereiter der literarischen Moderne des 20. Jahrhunderts. Weitaus weniger bekannt ist das – nicht weniger faszinierende – Spätwerk des Prager Dichters.

Christian Eschweiler17.08.2013

Die ungeheure Welt, die ich im Kopfe habe“, schreibt Kafka einmal und benennt damit die in ihm rumorende, unaufhörlich drängende und ihn bedrängende geistig-seelische Quelle, die ihn zu seinen schöpferischen Aussagen inspiriert, die ihn zu einer Vision seiner Bilderwelt zwingt, in der er dichterisch Antworten und Lösungen anstrebt, die ihm immer wieder Annäherungen an ein Sinngefüge bedeuten.

Dass ihm sich dabei meistens das Versagen und Fehlverhalten des Menschen offenbart, lässt dennoch niemals einen Zweifel an der Notwendigkeit und Richtigkeit dieser Sinnsuche aufkommen, denn die Gewissheit und Wahrheit eines alles Sein durchwaltenden und zugrunde liegenden ewigen Gesetzes steht für Kafka unerschütterlich fest, wenn es auch dem Menschen niemals gelingt, in dieses wunderbare, aber unbegreifliche Geheimnis gänzlich einzudringen! Aber der richtige Weg muss ihm schon als irdisches Ziel genügen: Das Bewusstsein, sich verantwortungsvoll zu verhalten und die tätige Annäherung an das letztlich unerreichbare Ziel gewährleisten dem Menschen bereits die sinnvolle Erfüllung seines Lebens. Am Ende der großartigen Meistererzählung „Der Bau“, die Kafka noch im letzten Jahr seines Lebens schrieb, weiß der Baumeister, dass er das Geheimnis seiner irdischen Existenz letztlich nicht gänzlich zu lüften vermag. Deshalb verzichtet er notwendig auf diese Gewissheit. Aber er ist sich sicher, dass der Tod, sein allem Leben entgegenarbeitender Feind, sowohl den Bau als auch seinen Baumeister zerstören wird.

Doch gerade darin wurzelt die hoffnungsvolle Überzeugung Kafkas, dass er diese Zerstörung annehmen und bejahen muss, „um die Stufe – das ist die Zerstörung!“ – zum ewigen Leben zu bauen. Mit der Auszeichnung durch seine Erkenntnis wird dem Menschen der Wunsch eingeboren, zum ewigen Leben gelangen zu wollen, „denn Erkenntnis ist dieser Wille!“. Infolgedessen ist ihm als Aufgabe auferlegt, in ein sinnvoll erfülltes Leben die Notwendigkeit des Todes mit einzubeziehen. Nur in diesem Sinn des Todes gründen die Ausrichtung und das Ziel eines menschenwürdigen Lebens. Die richtungweisende Devise Kafkas lautet daher: Führe dein Leben so, dass du seine Würde vor deinem höheren Selbst verantworten kannst, damit du deine irdische Bewährung auch jederzeit vor einem immerhin denkbaren und möglichen höheren
Gericht bestehst.

SUCHE NACH DEN URSACHEN DES SCHEITERNS

Kurz vor dem Ende seines Lebens lässt Kafka erstmals eine Erzählung mit dem Stolz auf das Geleistete und den Erfolg des Erreichten beginnen. Dieses bewusste Hochgefühl ist völlig neu bei einem Dichter, der in seinem ganzen Werk zwar immer sehnsüchtig und hoffnungsvoll von diesem Ziel träumte, aber dann doch von der scheinbar hoffnungslosen Angst niedergedrückt wurde, es nicht erreichen zu können. Doch Kafka
gab nie auf, die Fehler und Ursachen aufzuspüren, die das Scheitern herbeigeführt hatten.

Schließlich stand für ihn unerschütterlich fest, dass die Schuld für jedes Versagen im Fehlverhalten jedes Einzelnen begründet lag. Alle seine Erzählungen werden bestimmt von der Angst vor dieser Schuld. Trotzdem bleibt in allen der – wenn auch noch so winzige – Schein einer Hoffnung gewahrt. Diese Hoffnung gründet in Kafkas Überzeugung: „Es gibt nichts anderes als eine geistige Welt.“ Er ist sich dieser Tatsache so sicher, dass er sogar einmal das Wort „Hoffnung“ durch „Gewissheit“ ersetzt. Weil er sein Leben ausschließlich als Kampf um seine „geistige Existenzbehauptung“ begreift, zielt dieser Weg ebenso notwendig auf den Tod als die „Aufhebung“ des irdischen Daseins des Menschen in das ganz Andere, in das undurchdringliche Dunkel des ewigen Schöpfungsgeheimnisses: „Metaphysisches Bedürfnis ist nur Todesbedürfnis.“ Deshalb bedeutet ihm seine vertrauensvolle Bereitschaft zum Sterben die eigentliche Weisheit seines Lebens: „Todesangst ist nur das Ergebnis eines nichterfüllten Lebens“, denn „wer das Leben voll begreift, hat keine Angst vor dem Sterben.“

In immer wieder neuen Bildern versucht Kafka, diese tiefgründige Erkenntnis künstlerisch sichtbar zu machen; denn auch er versteht die Kunst als „das sinnliche Scheinen der Idee“. Vor diesem Hintergrund erhellt sich dann die düstere und makabre Bilderwelt, in der sich das quälende Ringen widerspiegelt, in dem sich sein gemarterter Geist aufbäumt gegen die Versuchungen und Ablenkungen des vordergründigen Lebens, das er als das Böse schlechthin erkennt und anprangert: „Böse ist das, was ablenkt“, was „unsere Aufmerksamkeit vom Sinn gerade ablenkt.“ Dieses folternde Leid findet sich noch in den kleinsten Wendungen seines Tagebuchs, wenn er sein Leben als den Strang eines Henkers beschreibt.

„Durch das Parterrefenster eines Hauses an einem um den Hals gelegten Strick hineingezogen und ohne Rücksicht, wie von einem, der nicht Acht gibt, blutend und zerfetzt durch alle Zimmerdecken, Möbel, Mauern und Dachböden hinaufgerissen werden, bis oben auf dem Dach die leere Schlinge erscheint, die auch meine Reste erst beim Durchbrechen der Dachziegel verloren hat.“

Der völlig entmaterialisierte Mensch erscheint im Sinnbild der leeren Schlinge von einer übergeordneten höheren Gewalt planmäßig hochgezogen, sozusagen vergeistigt aus der sichtbaren Welt am Strang des Todes in ein unsichtbares Geheimnis erhoben worden zu sein. „Was vom Leben bleibt, ist das Geistige“, meint Paul Klee. In diesem Sinne spricht auch der sterbende Baumeister in der Nähe seines Todes bereits von „einem neuen anderen Hunger“, der ihn vorwärts treibt in ein anderes Sein „hinter dem Leben“, wie Kafka in seinem Tagebuch verheißungsvoll hinzufügt.

Zwar ohne wirkliche Gewissheit zu haben, was ihn nach dem Tod erwartet, bekennt sich der Baumeister an seinem Lebensende uneingeschränkt zum unveränderlichen So-sein-müssen des Menschseins, dessen Möglichkeiten er selbst offenbar sinnvoll genutzt hat, wie er bereits zufrieden zurückblickend im ersten Satz der Erzählung bekundet.

SPÄTE GEBORGENHEIT

Dieses bei Kafka sehr seltene „Zufriedenheitsund Glücksgefühl“ verdankt er an seinem Lebensende zweifellos der Geborgenheit in der selbst und grenzenlosen Liebe einer jungen Frau, die ihm in seinem unverkennbar immer gegenwärtigen Todesbewusstsein zugleich Lebensbejahung und Lebensfreude zu schenken vermag. Er genießt in der sinnlichen die himmlische Liebe, den göttlichen Halt eines sinnerfüllten Lebens, wie er es noch 1915 vergeblich in seinem Tagebuch erträumt hatte. In seinem Todeskampf erlebt Franz Kafka die Vollendung seines Lebens in der Liebe Dora Dymants. In der reinen Liebe ist der Mensch Gott am nächsten.

Wer fühlte sich nicht an das Elend des sterbenden Heine in seiner „Matratzengruft“ erinnert, in der ihn die Liebe seiner „Mouche“ zu den schönsten und zärtlichsten Versen seiner Dichtung erleuchtete? Wer dächte nicht an das „Urlicht“ in Mahlers „Auferstehungs-Sinfonie“, in der er die Worte: „Ich bin von Gott und will wieder zu Gott!“ Musik werden ließ, um schließlich in Anlehnung an Klopstock tröstend zu versichern: „Du wardst nicht umsonst geboren! Hast nicht umsonst gelebt, gelitten! Sterben werd‘ ich, um zu leben“? In diesem Sinne war auch Kafka immer ein Metaphysiker, auf der Suche nach dem Unendlichen und nach dem Sinn des ihn oft quälenden Lebens. Während er jahrelang sein Alleinsein als die Kraftquelle beschwor, die ihm ermöglichte, die Tiefen seines Inneren auszuloten und in angstvolle Abgründe zu schauen, wurde ihm im letzten halben Jahr seines Lebens die tiefe Liebe einer Frau geschenkt, durch die er auch „die Herrlichkeit des Lebens“ erfahren durfte, von der er bereits 1921 im Tagebuch träumte. Das großartige dichterische Kunstwerk „Der Bau“ ist zweifellos Kafkas Schwanengesang; es ist sein Vermächtnis als seiner Weisheit letzter Schluss.
Christian Eschweiler
Dr. Christian Eschweiler (RC Euskirchen-Burgfey) war von 1970 bis zu seiner Pensionierung Studiendirektor am Jesuitenkolleg in Bad Godesberg. Zeit seines Lebens befasste er sich mit dem Werk Franz Kafkas, u.a. in „Der verborgene Hintergrund in Kafkas ‚Der Prozeß’“ (Bouvier 1990). 2009 erschien eine von ihm geordnete, ergänzte und erläuterte Fassung des „Prozesses“. (Landpresse). www.christian-eschweiler.com